Verkürzung des Gymnasiums auf 8 Jahre:

Große Aufregung über die verdichtete Schulzeit, nicht über das Ergebnis: die Auslese!

Das Gymnasium um ein Jahr zu verkürzen ist längst kein Modellprojekt für so genannte hochbegabte Schüler mehr, sondern die allgemein verbindliche Neuregelung für den Weg zum Abitur.

Dass diese Reform für die von ihr Betroffenen einiges an Härten mit sich bringt, liegt auf der Hand, bedeutet doch der Wegfall eines Unterrichtsjahres bei gleicher Stoffmenge eine beträchtliche Verdichtung des Lernstoffs. Der Unterricht wird von der Stundenanzahl her ausgedehnt, es findet Nachmittagsunterricht statt und wenn die Schüler schließlich nach Hause kommen, erwarten sie Hausaufgaben, Vor- und Nachbereitungen, Nachhilfeunterricht, usw., so dass nur noch für die Schnellsten ein bisschen Zeit für außerschulische Interessen bleibt. Immer mehr Schüler wissen gar nicht, wie sie den neuen Leistungsanforderungen der Schule gerecht werden können, und in Verbindung mit entsprechendem Druck von Zuhause entwickeln sie Ängste oder werden krank.

Die Auswirkungen dieser Reform auf die Schüler sind niemandem ein Geheimnis, so titeln die Süddeutsche: „Der Stoff, aus dem die Albträume sind“, die FAZ: „Hände weg von unserer Kindheit!“ und die Bild-Zeitung: „So macht die Schule unsere Kinder kaputt“.

Während die Öffentlichkeit sich über die Auswirkungen der Reform aufregt, soll hier im Folgenden geklärt werden, welche Zwecke mit ihr verfolgt werden und warum diese sich mit dem Wohl der Kids so beißen.

Die Bildungspolitik ist nicht zufällig eine permanente Reformbaustelle. Das Interesse der Schulpolitiker gilt der Anpassung der Schule an die sich verändernden politischen und wirtschaftlichen Ansprüche in Bezug auf Qualität und Quantität an den Pool aus gering- und besser qualifizierten Schulabgängern. Da sich der zukünftige Bedarf der Unternehmer nicht vorhersagen lässt, gibt es einen ständigen Nachbesserungsbedarf beim Reformieren des Schulwesens.

Für die vom Schulwesen versprochenen Dienste wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Wissen, Anstand, Fleiß usw. nimmt der Staat einiges an Kosten in Kauf. Weil die Schule dafür eingerichtet ist, Voraussetzungen an den Schülern für deren künftige Benutzung durch Unternehmer und Staatsverwaltung herzustellen – ihre Funktionalität also der ganze Zweck der Veranstaltung ist –, scheint eine Verkürzung der Schuldauer vielversprechend: Deutsche Abiturienten und Universitätsabsolventen, die ihren Schulabschluss künftig ein Jahr früher machen, stehen dem Arbeitsmarkt künftig genauso früh zur Verfügung wie im Ausland.

Was das Schulwesen hierzulande immer schon macht, ist das Beurteilen der Leistungen der Schüler in Form von Referaten, Stegreif- und Schulaufgaben. Dabei werden die Schüler miteinander verglichen und als Ergebnis der „Leistungskontrolle“ werden die Schüler auf bestimmte Rangplätze festgelegt: „sehr gut“ bis „ungenügend“. Dieses Ergebnis wird als Auskunft über den Schüler, als eine Eigenschaft des Schülers, vorgestellt. Wer Sachen noch nicht verstanden hat, der steht vor der Aufgabe, parallel zum Stoff der neuen Unterrichtseinheit seine entstandenen Lücken selbst aufzuarbeiten. Schafft er das nicht, wird er früher oder später von der weiteren Wissensvermittlung ausgeschlossen. So werden das Wissen und die Fertigkeiten, die in der Schule vermittelt werden, zum Material für eine Selektion der Schüler: Die Unterordnung der unterschiedlich schnell begreifenden und memorierenden Schüler unter das gleiche Leistungsmaß bringt die Unterschiede, auf die es hierzulande ankommt, hervor. Weder die Frage, wer was noch nicht verstanden hat, noch die Frage, wie viel Zeit und Hilfe er braucht, wird zum wesentlichen Gesichtspunkt gemacht. Stattdessen wird der zeitliche Rahmen zum Wissenserwerb vorgegeben. Das ist eine praktische Widerlegung der Vorstellung, der Zweck der Schule sei es, alle Schüler auf einen erwünschten Wissensstand zu bringen. Wäre dem so, dann würde das Lernen nicht als Leistungslernen, d. h. als Lernen pro Zeit stattfinden, sondern die Zeit würde sich umgekehrt nach dem Wissensstand richten: Wer länger bräuchte, würde entsprechend länger unterrichtet werden. Tatsächlich werden die festgestellten Mängel gerade nicht ausgemerzt, sondern zum Zweck der Selektion benutzt. Mit dem Vergleich der unterschiedlichen Leistungen steht fest, dass es Gewinner und Verlierer gibt und auch weiterhin geben wird. Geklärt wird einzig und allein die Frage, wer zu den einen oder anderen zu zählen ist.

Eine Verringerung der Schuldauer, wie sie die G8-Reform durchgesetzt hat, hebt den Leistungsdruck für alle Schüler auf ein höheres Niveau. So wird die Schule als eine Art Fulltimejob organisiert. Schüler, die von morgens um acht bis abends um sechs mit Schule und Hausaufgaben beschäftigt sind, werden so auf den so genannten Ernst des Lebens vorbereitet: Für die Verfolgung deiner Interessen musst du dich reinknien, besser sein als andere; du musst belastbarer sein, mehr aushalten, kurz, bereit sein, den größten Teil deiner Zeit in den jeweils verlangten Dienst zu stellen.

Die verschärften Konkurrenzbedingungen, die das achtjährige Gymnasium darstellt, setzen die Schüler also unter noch größeren Druck. Und, im Unterschied zur Öffentlichkeit, welche die negativen Wirkungen der G8-Reform auf die Schüler beklagt, beurteilt der Staat deren Wirkungen etwas anders: Das Interesse der Schüler, sich in der Konkurrenz gegen ihresgleichen durchzusetzen, wird durch die Reform auf eine noch etwas härtere Probe gestellt: Welcher Schüler bringt die Bereitschaft mit, seine Lebenszeit ganz den Ansprüchen, die ihm aufgemacht werden, unterzuordnen?

Dass vom Ergebnis der schulischen Konkurrenz einiges abhängt, weiß jeder. Schließlich ist das Abitur die Voraussetzung zum Studieren und damit für die besser bezahlten Berufe. Die Schüler sollen es sich zu ihrem Interesse machen, sich um diese Chance zu kümmern, künftig eben auch nachmittags, abends und in den Ferien.

Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Leute das, was ihnen als Zwang gegenübertritt, als positives Mittel für sich begreifen. Doch genau das ist gefordert: sich die äußeren Anforderungen zu seinen eigenen Zwecken zu machen. Die Schule tritt dabei als die Instanz auf, die überprüft, welche Kids sich am besten an die geforderten Pflichten anpassen.

Dass dabei nicht wenige Schüler auf der Strecke bleiben, zeigt den pädagogisch geschulten Sachverständigen, die die Reform kommentierend begleiten, nicht die Härten, die der schulische Ausleseprozess für die Schüler mit sich bringt. Sie deuten das vielmehr als individuelle Schwächen der Schüler Wer den Stoff nicht in der vorgegebenen Zeit bewältigt, den beurteilt die Schule als zu wenig „begabt“, als „leistungsunfähig“ oder als zu wenig „leistungsbereit“. Daher stellt sie ihre Bemühungen ein, ihm beizubringen, was er noch nicht verstanden hat, und gibt ihm und seinen Eltern den „Rat“, noch einmal über die Schulform nachdenken, die seiner „Begabung“ angeblich „entspricht“, und setzt ihn mit ihren Versetzungsregeln gegen sie durch.

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