Verkehrte Hoffnung auf eine bessere Welt
I.
Die Weltordnung der kapitalistischen Staaten: sind in ihr Not und Gewalt die Mittel für die Vermehrung von Macht und Reichtum, oder machen die Mächtigen einfach alles falsch?
Die Chefs der großen Nationen, die Weltmarkt und Weltpolitik bestimmen, treffen sich diesmal unter deutscher Leitung an der Ostsee, und eine breite Protestbewegung macht demonstrativ klar, dass sie von der „Ordnung“, die diese Mächte dem Globus aufnötigen nichts hält. Ursächliche Zusammenhänge zwischen der Dominanz der G8 und dem Elend der Welt wissen die Wortführer des Protests auch anzugeben. Damit setzen sie sich ab von einer öffentlichen Meinung, die, nicht nur in Deutschland, alle Unverschämtheiten nachbetet, mit denen sich die demokratisch gewählten War Lords der westlichen Großmächte und all die ehrenwerten Instanzen der „1. Welt“ ins Recht setzen. Dagegen setzen die G8-Kritiker ihre eigene Weltsicht. Die wirft allerdings auch einige Fragen auf.
„Alle fünf Sekunden stirbt in der Welt ein Kind an Hunger, mehr als 800 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt. Maßgeblich verantwortlich hierfür ist eine ungerechte Welthandelspolitik, wie sie im Rahmen der G8 und anderer internationaler Institutionen von den reichen Industrieländern betrieben wird.“ (Eine andere Welt ist möglich! Aufruf zur Internationalen Großdemonstration in Rostock am Samstag, 2.6.2007)
Der kritische Blick geht immerhin in die richtige Richtung: Er fällt auf die Veranstalter der globalen Wirtschaftskreisläufe. Aber kann es wirklich sein, dass bloß ein Mangel an Gerechtigkeit in der Welthandelspolitik der Grund für weltweites Massenelend ist? Lässt sich zu den Zwecken dieser Politik nicht etwas Handfestes sagen – ungerecht zu sein, ist ja sicher nicht ihr Anliegen! Und wenn man die Prinzipien des Welthandels ins Auge fasst: Gehört da nicht die Scheidung zwischen Gewinnern und Verlierern, die Produktion von Reichtum und Opfern zum System – schließlich wird der Weltmarkt nicht aus Philanthropie, sondern als Konkurrenz um das Geld der Welt betrieben! Und gehört zu diesem System nicht eine eigene Sorte Gerechtigkeit – nämlich das Recht der Erfolgreichen?!
„Trotz der vollmundigen Versprechungen vom G8-Gipfel in Gleneagles 2005 wurde den Ländern des Südens bislang nur ein geringer Teil ihrer Schulden erlassen.“ (ebd.)
Kleinlich sind sie, die Großen; keine Frage. Aber ist das nicht der praktische Beleg dafür, dass der gesamten Schuldenerlass-Initiative lauter Berechnungen der Gläubiger zugrunde liegen, die mit einer durchgreifenden Statusverbesserung der überschuldeten Länder des Südens, geschweige denn einer anständigen Lebensperspektive für deren Bevölkerung nun wirklich gar nichts zu tun haben? Selbst wenn die internationale Gläubigerversammlung sich zu einem kompletten und sofortigen Schuldenerlass durchringen würde: Wäre der überhaupt eine Gunst, wenn die Geschäftsfähigkeit der Staaten – und, als deren Anhängsel, das Überleben ihrer Insassen – davon abhängt, dass sie mit ihren Bemühungen um Kreditwürdigkeit vor den großen Kreditschöpfern Gnade finden? Was hilft, kurz gesagt, eine Schuldenstreichung gegen die brutalen Regeln des globalen Kreditsystems?
„Indem sie Liberalisierung und Privatisierung vorantreiben, haben die G8 Armut nicht nur im globalen Süden, sondern auch in den Industrieländern verstärkt. Die weltweite Plünderung von Rohstoffen und anderen natürlichen Ressourcen wird beschleunigt.“ (ebd.)
So viel ist klar: Wo Mensch und Natur als Mittel verwendet werden, Geld zu erwirtschaften, also dazu, dass Unternehmer in aller Freiheit privaten Reichtum aus ihnen herausholen, werden die Menschen massenhaft verarmt und die natürlichen Quellen des Reichtums ruiniert. Der Grund dafür kann aber doch nicht darin liegen, dass die G8 es mit ihrer Politik der Förderung des globalen Geschäftemachens übertreiben! Die Kritik an diesem Irrsinn kann doch wohl nicht so gemeint sein, dass Geschäftswelt und Staatsgewalt es beim Verelenden und Plündern langsamer angehen lassen sollten!
„Die G8-Staaten sind verantwortlich für 90 % der weltweiten Waffenexporte und eine neue Ära von Rohstoffkriegen. Sie sind Vorreiter einer auf Krieg gestützten Weltordnung, die in vielen Ländern zu Flucht, Vertreibung, neuem Hass und Gewalt führt.“ (ebd.)
Am Ende also doch ein klares Wort: Die Welt, so wie die großen Mächte sie ein- und zugerichtet haben, funktioniert nur mit kriegerischer Gewalt. Wer gegen Merkel & Co protestiert, soll wissen, womit er sich da anlegt: mit nichts Geringerem als einer ganzen „auf Krieg gestützten Weltordnung“, einem System von Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt. Nur: Wenn dieser Befund wirklich so gemeint ist, wie verträgt er sich dann mit folgendem aufmunternden Versprechen?
„Dagegen wollen wir bei unserer Großdemonstration am 2. Juni 2007 in Rostock protestieren und die Alternativen dazu aufzeigen.“ (ebd.)
Alternativen aufzeigen – dazu?! Und: wem denn?! „Aufzeigen“, dass „es“ auch anders geht – das klingt so, als wäre weiter gar nicht viel dabei, eine ganze mit Krieg verteidigte Weltordnung aus den Angeln zu heben und zu ersetzen; als wollten die Gipfelkritiker sich anheischig machen zu zeigen, wie der ganze Laden sich auch ohne Verelendung und Gemetzel managen ließe. Wer so denkt, der nimmt alle Behauptungen über eine Weltordnung, die auf Krieg „gestützt“ ist und Ausbeutungsinteressen bedient, schlichtweg zurück – oder hat sie so ernst überhaupt nie gemeint.
Den meisten der kritisch eingestellten Leute, denen Heiligendamm eine Demonstration wert ist, mag die Frage, wie die Weltordnung funktioniert, unwichtig vorkommen. Und tatsächlich braucht man über die Regularien des internationalen Kreditgeschäfts nicht im Einzelnen Bescheid zu wissen, um gegen das System Einspruch einzulegen, zu dem Schulden wie Waffen gehören und enorme Gewinne ebenso wie massenhaftes Elend. Genau in der Frage aber: ob der Protest dem System des Welthandels gilt oder bloß einer vermuteten Ungerechtigkeit beim Geschäftemachen, ob man zu den Prinzipien des kapitalistischen Menschenverschleißes und Naturverbrauchs Nein! sagt oder bloß zu ein paar Übertreibungen, ob man in der Ordnung der Welt, wie sie ist, den Grund für Gewalt und Krieg erkennt oder ein Problemfeld, das für bessere „Lösungen“ offen ist: in der Frage geht es ums Ganze. Daran entscheidet sich nämlich, ob man der „von der Dominanz der G8 geprägten Welt“ ihre Grobheiten und Gemeinheiten als letztlich überflüssige Verfehlungen vorhalten, also im Prinzip sein Einverständnis bekunden will, oder ob man die Notwendigkeiten dieser Weltordnung im Sinn hat und denen das Verständnis aufkündigt. Es geht um die Entscheidung, ob man sich an der Vorstellung erbauen möchte, die Welt könnte auch ohne ihre schlechten Seiten funktionieren, oder ob man sich klar macht, warum diese Welt über so eindrucksvoll schlechte Seiten verfügt, und in den Gründen die Mittel findet, ohne die dem ganzen Elend nicht beizukommen ist.
II:
„Eine andere Welt ist möglich“, wenn die Mächtige alles richtig machen?
Die Vereine, die zum Protest gegen den G8-Gipfel aufrufen, haben sich entschieden. Sie fordern eine „andere Welt“ – und das ist die, die es gibt, ohne ihre schlechten Begleiterscheinungen:
„Gemeinsam mit Millionen Menschen in aller Welt sagen wir: Eine andere Welt ist möglich! Für die sofortige Streichung illegitimer Schulden und eine faire Entschuldung der Länder des globalen Südens! … Für eine friedliche Welt! … Globalisierung im Interesse der Mehrheit der Menschen bedeutet faire Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, bedeutet Frieden, Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, Demokratie und Bewahrung der Lebensgrundlagen des Planeten für die nächsten Generationen.“ (ebd.)
Eines wollen die Kritiker des brutalen Weltgeschehens nicht mehr hören und glauben: dass es zu der Politik, die die Mächtigen machen, keine Alternative gäbe; dass überall da, wo Staatsgewalt und Geldmacht zuschlagen und Opfer schaffen, ein Sachzwang vorläge, dem sich zu widersetzen ebenso hoffnungslos wie unvernünftig wäre. Dagegen setzen sie ihre Parole von der Möglichkeit einer „anderen Welt“ – und schenken sich im Namen dieser Losung gleich jede Befassung mit den wirklichen Gründen für den Zustand der Welt, mit dem System durchgesetzter Zwänge, an denen der Wunsch nach einer besseren Welt beständig scheitert und die von der herrschenden Ideologie als grundvernünftige Sachzwänge heilig gesprochen werden. So kennen die Gipfelgegner z. B. einen Unterschied zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, aber von den Interessengegensätzen, die für so verheerende Wirkungen sorgen, wollen sie nichts weiter wissen. Mit der Tugend der Fairness wäre schon alles ins Lot zu bringen Sie wissen von den internationalen Kreditverhältnissen und wünschen sich nur noch „legitime“ Schulden. Als wäre nicht die ökonomische Herrschaft des Gläubigers über den Schuldner das Kernstück jeden Kreditrechts. Die großen staatlichen Gläubiger sollen ihre „illegitimen“ Forderungen streichen – das hält man erstaunlicherweise für „möglich“. Denen ihre Kreditmacht zu nehmen, davon ist nicht die Rede, wohl weil man so viel „Änderung“ als nicht so leicht „möglich“ und deshalb nicht nötig ansieht. Die G8 sollen aufhören, „wirtschaftliche und machtpolitische Interessen militärisch durchzusetzen“ – als wären die anders durchzusetzen.; als wären die G8 immer noch die G8, wenn sie sich bei ihrer Weltherrschaft auf das beschränken, was sich zwanglos unter Freunden regeln lässt.
Freilich, bloß fromme Wünsche sollen die Beschwörungen einer „anderen Welt“, die die Protestbewegung den Weltmachthabern entgegenschleudert, nicht sein. Der Agenda des Gipfels von Heiligendamm haben dessen Kritiker vielmehr entnommen, dass die Mächtigen selber Riesenprobleme mit ihrer Weltordnung thematisieren – und die tragen die gleichen Titel wie diejenigen, die die verarmten Massen und sie selber als deren globalisierungskritische Freunde und Anwälte mit dieser Ordnung haben. Das wohlverstandene Eigeninteresse der G8 wäre also der Ansatzpunkt und die Gewähr dafür, dass eine Alternative zu der Politik, mit der sie die Welt verwüsten, wirklich „möglich“ ist. So zum Beispiel in Sachen Klimawandel:
„Die Unfähigkeit der G8, zukunftsweisende Politik zu betreiben, ist auch im Energiesektor offenkundig. … Wird die Knappheit erst mal spürbar, spitzt sich der Konflikt um Energie zu. … Die G8 ziehen aber nicht die offensichtlichste aller Schlussfolgerungen: Fossile Energien sind nicht die Lösung der Energiefrage, sondern verursachen erst die Probleme. … All dies passiert, obwohl die Alternativen zum fossilen Pfad klar auf der Hand liegen. Nicht die verfehlte Politik der G8 brauchen wir, sondern eine massive Förderung erneuerbarer Energien. Sie sind umweltfreundlich, friedenspolitisch sinnvoll und wohlstandsfördernd. Sie schaffen Arbeitsplätze.“ (Attac, G8-Infoheft, November 2006)
Genau besehen sind es also gar nicht die wirtschafts- und machtpolitischen Interessen, mit denen die Weltmächte den Globus ins Verderben stürzen, sondern deren falsche Mittel: Es sind die „fossilen Energien“, die „erst die Probleme machen“, an denen nicht bloß die Betroffenen leiden, sondern vor allem die Mächtigen selber. Erfreulicherweise liegt die machbare Alternative hier so „klar auf der Hand“, dass man sich vergeblich fragt, wieso die G8 an ihrer „verfehlten Politik“ eigentlich so zäh festhalten. Die Pfadfinder der „erneuerbaren Energien“ machen eben einen Fehler: Über den wirklichen, standort- und weltordnungspolitischen Inhalt der nationalen Interessen, die die Großmächte unter dem Titel „Klimaschutz“ verfolgen, über die damit neu aufgemachten internationalen Konflikte ebenso wie über die daraus abgeleiteten innernationalen Verzichtsdiktate sehen sie einfach hinweg und glauben stattdessen die fadenscheinigsten offiziellen Ideologien zu Merkel-Gabriels neuer Energiepolitik: „umweltfreundlich, friedenspolitisch sinnvoll und wohlstandsfördernd“.
Noch wüster die Empfehlungen zur Lösung des Kriegs-„Problems“:
„Liegt die Lösung der Konflikte wirklich in militärischen Interventionen? … Studien der Weltbank beweisen, dass auch neutrale oder multilaterale Interventionen die Konfliktdauer nicht verkürzen. Leider ziehen die reichen westlichen Staaten aus solchen Fakten nicht den Schluss, Militär als Instrument zur Herstellung von ‚Sicherheit und Ordnung‘ in ihrer Außen- und Innenpolitik kritisch zu hinterfragen, sondern verstärken ihre militärischen Aktivitäten. … Sinnvoller und effektiver als ‚Friedens‘-truppen zu finanzieren, ist die Bekämpfung der Armut.“ (ebd.)
Krieg – eine schlechte Konfliktlösungsstrategie? Armutsbekämpfung – der billigere Weg zum gleichen Ziel?! Auf eine so einfühlsame Deutung von Militäreinsätzen muss man erst einmal kommen. Haben diese Kriegskritiker nicht mitgekriegt, dass das einzige „Problem“, das Kriege „lösen“, die Existenz einer feindlichen Gewalt ist, die einer militärisch potenten Macht im Weg steht? Haben sie übersehen, dass es im Kriegsfall um schleunige „Konfliktlösung“ allein in dem Sinn geht, den Gegner möglichst blitzartig zur Kapitulation zu zwingen? Merken sie nicht, wie absurd es deswegen ist, Krieg an dem Kriterium der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten zu messen und als dafür untauglich zu verwerfen? Haben sie ihren eigenen Vorwurf, mit Kriegen würden „machtpolitische Interessen durchgesetzt“, gleich wieder vergessen? Bestätigt fühlen diese Friedensfreunde sich auch noch durch die Weltbank, wenn die errechnet, Bomben und Granaten seien unrentabel. Wollen sie sich deren zynisches Kalkül zu eigen machen? Und finden sie wirklich nichts dabei, Armutsbekämpfung unter dem Gesichtspunkt zu empfehlen, dass damit Kriegsziele billiger zu erreichen wären? Klar, an die Ziele wirklicher Kriege denken sie dabei nicht. Aber das ist gerade das Merkwürdige: Ausgerechnet beim Kritisieren nehmen die Gipfelkritiker es mit der Realität nicht so genau; statt dessen übernehmen sie alle schönfärberischen Sprachregelungen von wegen „Frieden schaffen“ und „Konflikte lösen“, mit denen zivile demokratische Befehlshaber ihre Feldzüge bewerben, und nehmen sie für bare Münze, um die kriegerische Realität an solchen fiktiven Zielen zu blamieren.
Die Gipfelkritiker üben eine ganz eigene Art kritischer Solidarität mit ihren Kriegsherren, indem sie an deren Sorgen um die Weltordnung, nämlich um die Unterordnung der restlichen Staatenwelt, ihre Sorge um eine gewaltfrei geordnete Welt herantragen: Die eigene idealistische Problemsicht unterstellen sie als das große Weltproblem, an dessen Lösung die Verantwortlichen sich mit dem untauglichen Mittel des Krieges zu schaffen machen, logischerweise vergeblich. „Aufzeigen“ wollen sie allen Ernstes, dass ihre „andere Welt“, in der die Sorgen und Nöte der Opfer berücksichtigt werden und von der die Machthaber immerzu nichts wissen wollen, die einzig tragfähige oder jedenfalls billigste Lösung auch und gerade für die Drangsale der Großen und Mächtigen selber wäre.
Nach diesem Muster arbeiten sich die G8-Kritiker durch die gesamte Agenda der Heiligendamm-Veranstaltung. Idealistisch bis zur Realitätsblindheit und dabei ganz auf den Nachweis der Realitätstüchtigkeit ihrer „anderen Welt“ erpicht, präsentieren sie sich als Ratgeber der Weltpolitik, die böswillig oder aus Dummheit verkennt, was Globalisierung eigentlich sein soll: ein großes Gemeinschaftsunternehmen von Herrschern und Völkern für das schöne Ziel, aus der Welt „a better place“ zu machen. Ihr markiger Protest gegen die Politikerbande von Heiligendamm gerät so zu einer kämpferischen Grußadresse an die Zuständigen.
III:
Wie lässt sich die Politik dazu bringen, die Weltprobleme zu lösen?
In einem Punkt lassen die G8-Gegner sich nichts vormachen: Die Figuren, die sich aktuell an der Ostsee zu ihrem Jahrestreffen versammeln, sind Heuchler, das steht für sie fest. Auf die Sprüche, die die Urheber der brutalen Realität im Munde führen, mit denen sie ihre Taten als Lösungsversuch von davon unabhängigen Menschheitsproblemen propagieren, wollen sie alle nichts kommen lassen. Die Geister der Bewegung scheiden sich aber an der Frage, ob und wie man die Mächtigen der Welt auf ihre Phrasen verpflichten kann.
Die gemäßigte Mehrheit, interpretiert die berechnende Verlogenheit der Politiker als politische Chance, mit Protest Wirkung zu erzielen. Die Legitimität ihrer Macht, so meinen sie, hinge davon ab, dass man ihnen ihre Sprüche glaubt, und letztlich auch ihre Macht selber. Daher kämen sie nicht darum herum, nach den Sprachregelungen, die sie benutzen, auch zu handeln. Und damit seien sie zu packen.
„Sie delegitimieren sich in den Augen der Öffentlichkeit, wenn sie die Probleme nicht gelöst bekommen, die sie zu lösen beanspruchen. Für Umwelt- und Entwicklungsorganisationen ist dies der Hebel, politisch im Sinne unserer Forderungen und Ziele voranzukommen.“ (Wer nichts fordert, erreicht auch nichts, FR, 19.5.2007)
Nun lehrt schon die Erfahrung, dass für demokratische Politiker wenig dazu gehört, ihre Politik so zu interpretieren, dass Taten und Moral ganz gut zusammenpassen; zumal das normale Publikum es mit dem Verhältnis zwischen Berechnung und Schönfärberei erstens überhaupt nicht so genau nimmt und zweitens schon gleich nicht bei Politikern, von denen es sowieso mehr Machtentfaltung als praktizierten Idealismus erwartet. Wenn es denen ihre Bekenntnisse zu den Idealen einer heilen Welt nicht glaubt, dann steht allenfalls ein schöner Schein, nicht aber die Macht selber auf dem Spiel. Nur wenn man diesen Schein für die eigentlich treibende Kraft in der Welt der Politik hält und alle politischen Berechnungen ignoriert, die sich bedarfsweise passender Idealisierungen bedienen, dann sieht man sich in der Lage die Politik damit erfolgreich zu beeinflussen. So kriegt die Mehrheitsfraktion der G8-Kritiker den Übergang hin von demonstrativer Illusionslosigkeit, was den guten Willen der amtierenden Weltpolitiker betrifft, zu einem Realismus, der die Verwirklichung der Möglichkeit einer „anderen Welt“ voll und ganz dort belässt, wo sie sind und nach demokratischer Sitte auch hingehören: bei der Obrigkeit. Man gefällt sich in dem Schein politischer Wirksamkeit eines Protests, der darauf angelegt ist, die Mächtigen zu betören
Der radikale Flügel der Bewegung findet es verkehrt, mit „Forderungen für eine andere Politik an die G8“ heranzutreten (Bundeskoordination Internationalismus (Buko), Frankfurter Rundschau: Mehr als ein Gipfelsturm, FR, 19.5.2007). Die Regierenden zu einer besseren Politik aufzufordern, damit deren Zuständigkeit anzuerkennen und sich so gegen eine Absage an die herrschenden Verhältnisse und deren Macher zu entscheiden, das halten die Buko-Leute für falsch:
„Weite Teile der G8-Mobilisierung richten sich deshalb im Kern gegen die Anmaßung der Regierungen, die vorgeben, die Probleme der Welt zu lösen, die sie selbst maßgeblich mit verursachen. Weder können sie die Probleme lösen, noch wollen sie es. Daher halten wir einen politischen Ansatz für falsch, der mit guten Argumenten die Regierungen zu besserem Handeln bewegen möchte. Das ist naiv. Die Klima- und Energiepolitik lehrt, dass die Regierungen das bestehende, Ressourcen fressende Produktions- und Konsummodell nicht in Frage stellen.“
Warum sollten sie auch? Im kapitalistischen Wirtschaftssystem ist der Erhalt von Ressourcen ein sachfremder Gesichtspunkt, und die Großmächte der Weltwirtschaft stehen total offensiv dafür ein, dass die Staatenwelt sich auf kapitalistisches Wachstum als ihre materielle Grundlage und entsprechend unverzichtbaren Teil ihrer Staatsräson festlegt. Wenn die „Klima- und Energiepolitik“ der Führungsnationen etwas „lehrt“, dann sind das ein paar Wahrheiten darüber, inwiefern diese Mächte mit dem Großverbrauch natürlicher Reichtumsquellen durch ihre heimische Wirtschaft ein Problem kriegen: wenn die Kosten der Beschaffung und Sicherung von Nachschub die nationalen Wachstumsziffern belasten. Dann kriegen sie nämlich Konkurrenzprobleme 1. mit ihresgleichen und 2. mit den Lieferanten. Die gehen sie sehr zupackend an, fest entschlossen, anderen Nationen verbindliche Beschränkungen aufs Auge zu drücken. Die radikalen G8-Kritiker aber scheinen ernsthaft die Frage zu wälzen, warum die für alles zuständigen Regierungen „besseres Handeln“, das eigentlich ansteht und jedermann als fällig einleuchten müsste, nicht an den Tag legen. Jedenfalls geben sie darauf, andeutungsweise, eine Antwort, die so verkehrt ist wie die Frage:
„Eine andere Klimapolitik würde heißen, sich hierzulande massiv mit der Industrie anzulegen – und mit dem Konsumverhalten einer großen Anzahl von Wählern.“
Aus Schwäche, aus Opportunismus, aus wahltaktischer Berechnung, womöglich erpresst durch die Macht der Industrie, mit populistischem Blick auf eine konsumsüchtige Bevölkerung unterlassen die Verantwortlichen das Notwendige: In dieser Diagnose sind sich die Radikalen mit dem Mainstream der Protestbewegung wieder einig. Radikaler sind sie insofern, als sie nicht an die Politiker appellieren, sondern sie zur Problemlösung zwingen wollen. Witzigerweise soll das durch den Einfluss der „Menschen“ geschehen, denen sie als wählenden Konsumenten gerade einen negativen Einfluss auf die Politik zugesprochen haben:
„Wenn die Botschaft in einer breiteren Öffentlichkeit ankommt, dass die Regierungen der G8 nicht Verbündete sind, sondern Teil des Problems, dann wirkt das für viele Menschen politisierend und öffnet Räume für eine andere Politik – mittelfristig auch für eine andere staatliche Politik.“
Letztendlich sind es also doch wieder die als Verursacher kritisierten Staaten, die die „enormen Probleme der Welt“ richten sollen.
Neben dem Vorwurf des Versagens vor den selbst geschaffenen Weltproblemen, fällt der Protestbewegung noch ein anderes Argument gegen die G8-Regierungen ein, das sie für besonderes gewichtig hält, weil damit das ganze Gipfeltreffen in die Grauzone der Illegitimität rückt:
„Die Gruppe der 8 ist eine Institution ohne Legitimation. Dennoch trifft sie als selbsternannte informelle Weltregierung Entscheidungen, die die gesamte Menschheit betreffen.“ (G8 blockieren…)
Da treffen sich die Chefs der mächtigsten Nationen, die eine ganze Weltordnung bestimmen, und die Protestbewegung schmettert ihnen das Verdikt entgegen: „Das hat euch niemand erlaubt!“. Wer, bitte schön, außer ihnen selbst, hätte sie denn legitimieren sollen? Wer verteilt die Lizenz für Imperialismus? Die Opfer vielleicht? Oder die UNO – also die Organisation, die von den wichtigsten der G8 selber gegründet worden ist, schon damals in der Absicht, den Globus besser unter Kontrolle zu kriegen, und in der die Großen nach wie vor das Sagen haben? Statt deren Legitimation zu vermissen, sollt man sich besser fragen, woher die G8 ihre Macht zu Entscheidungen haben, „die die gesamte Menschheit betreffen“. Dann könnte man bemerken, dass diese Menschheit nicht als missachtete Legitimationsinstanz, sondern als handfest benutzte materielle Basis eingebaut ist in den Imperialismus ihrer Nationen. Gerade für die Länder, in denen die Wortführer der Protestbewegung zu Hause sind, gilt: Es ist der funktionierende Kapitalismus daheim, der wirtschaftliche Erfolg des Kapitals und die tägliche Arbeit der kleinen Leute fürs notwendige Geld, aus der die Staatsmacht die Mittel bezieht, mit denen sie die Welt ihrem Nationalinteresse an Wirtschaftswachstum gefügig macht. Und es sind die verkehrten Berechnungen der Staatsbürger, die sich noch in der größten Unzufriedenheit auf die staatliche Politik als Instanz zur Lösung aller Probleme beziehen, die es den Regierenden so leicht, machen, ihre Völker als verlässliche Grundlage auch für ihre weltpolitische Handlungsfreiheit zu benutzen. Diese Dienste aufzukündigen wäre also der Weg dahin, den Verursachern der „Weltprobleme“ das Handwerk zu legen.
Die Kritik der Protestbewegung dagegen beruft sich auf allgemein akzeptierte idealistische Phrasen, prangert, deren mangelnde Berücksichtigung in der Welt an und will so die Herrschenden ins Unrecht setzen. Damit erreicht sie (ungewollt?), dass die Machthaber genau davon profitieren: Sie werden an höchsten Werten gemessen, als wäre deren Verwirklichung der eigentliche Auftrag ihrer Gewalt. Auf der anderen Seite haben die Titel, mit deren Beschwörung sie die G8-Kritker die herrschenden Figuren und „Strukturen“ delegitimieren möchten, den tieferen Sinn, ihre Einwände zu legitimieren. Protestieren ist gerechtfertigt – das ist die Botschaft, auf die es ihnen ankommt.
IV:
Mit der Gewaltfrage wird der Protest praktisch und theoretisch erledigt
Damit stößt die Bewegung allerdings auf eine Staatsmacht, die ihren Kritikern mit aller Gewalt die umgekehrte Rechnung aufmacht: Sie definiert die Grenzen der Legitimität von Kritik und Protest. Das tut sie so, wie es sich für einen demokratischen Rechtsstaat gehört: Erst kommt die Gewalt, dann die Wertedebatte, die dazu passend ausfällt. Zuerst setzt der Gewaltmonopolist seine sicherheitspolitischen Fakten, baut einen Zaun, erteilt Auflagen für Demonstrationen, geht im Vorfeld gegen potentielle Störer vor, und zwar gleich mit dem dicken Prügel des Terrorismus-Verdachts, mobilisiert Tausende von Polizisten mit paramilitärischer Ausrüstung usw. Mit all dem beschäftigt die Regierung ausgiebig eine freie Öffentlichkeit, die die Sicherheitsproblematik viel interessanter findet als die Probleme der G8-Gegner und die Agenda des Gipfels selber. Intensiv werden Notwenigkeit, Effizienz und Kosten der Schutzvorkehrungen und die Gefahr die von einer „gewaltbereiten Minderheit“ ausgehen könnte, problematisiert. So wird der Protest ausschließlich als Überwachungsproblem behandelt. Das ist die solide Prämisse für die „geistige Auseinandersetzung“ mit ihm, die ebenfalls nur um ein Thema kreist: Wie stehen die Gipfelgegner zur Gewalt? Sind sie brav und friedlich? Dann geht ihr Protest in Ordnung. Dass er friedlich und ordentlich vonstatten geht, ist die ganze Botschaft, die überhaupt Beachtung findet. Und die Kritiker selber steigen in ihrem Bemühen, die Berechtigung ihres Protests zu beweisen, auf die Vorgaben der Staatsmacht ein und diskutieren heftig mit über die Demonstrationsfreiheit und ihre Schranken
Hält sich dann der Protest im Rahmen des Erlaubten, so adelt das auch und vor allem die Staatsmacht, die das Gleichgewicht getroffen hat zwischen Sicherheit für die G8 und Freiheit fürs Demonstrieren und damit einmal mehr bewiesen hätte, wie gut eine demokratische Herrschaft sich mit Kritik verträgt und wie wenig sie schon allein deswegen welche verdient. Sogar wenn manche staatliche „Überreaktion“ zu beklagen ist, stellt das ein gutes Zeugnis für die Staatsmacht aus, weil ihr damit bescheinigt wird, dass ein brutales Vorgehen bei ihr nie und nimmer wirklich im Programm ist.
So macht der Rechtsstaat den G8-Kritikern vor, wie Delegitimierung funktioniert – und wie perfide eine Demokratie sich unliebsamer Kritik zu entledigen weiß. Praktisch und auch theoretisch wird Protest der Frage subsumiert, wie er es mit der Gewalt hält, und ist damit auch schon erledigt. Denn entweder beweist er mit seiner Polizeiwidrigkeit, dass er – also auch sein Inhalt – unzulässig ist; oder sein Inhalt geht auf in dem Beweis, dass er der Obrigkeit den Respekt nicht kündigt.