Staatsbürgerkunde leicht gemacht:

„Erklär mir die Welt“

FAZ_erklaer
Artikelserie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

„Warum brauchen wir einen Staat?“

(Frage 26; 10.12.2006)

Wer sich die Frage stellt, warum wir einen Staat brauchen, für den steht bereits fest, dass wir ihn brauchen – die Frage unterstellt schon die Notwendigkeit des Gegenstandes. Das gehört zu den Selbstverständlichkeiten, deren Aufschlüsselung sich die F.A.Z. vorgenommen hat. Nach eigenem Bekunden will sie mit ihrer Serie „das scheinbar Selbstverständliche erklären. Und das nicht Selbstverständliche plausibel machen“ (faz.net/erklaermirdiewelt). Also: Wer die Notwendigkeit des Staats schon selbstverständlich findet, dem will die F.A.Z. „erklären“, warum er damit richtig liegt. Und wem das noch nicht so selbstverständlich erscheint, dem soll ebendiese Selbstverständlichkeit vermittelt werden. Klingt sehr viel mehr nach Propaganda als nach Erklärung, aber schaun wir mal.

Der Einstieg geht so: „Militär, Gerichte und Polizei sorgen dafür, daß die Menschen sicher leben. Einen Markt gibt es dafür nicht. Der Staat springt in die Bresche.“

Wofür braucht es also den Staat? Zuallererst dafür, dass nach innen und außen staatliche Gewalt ausgeübt wird. Dass jeder Staat derartige Gewaltmittel hat und einsetzt, lässt sich schlecht bestreiten. Dass aber die Staatsbürger, die Mittel und Unterworfenen dieser Gewalt sind, das für so nützlich halten sollen, erscheint uns auf den ersten Blick nicht so selbstverständlich. Doch die F.A.Z. macht ja „plausibel“. Den staatlichen Gewaltapparat braucht’s für unser aller Sicherheit.

Von wegen ‚sicher leben‘:
Als ob es mit Militär keine Kriege, mit Polizei und Gerichten keine Verbrechen gäbe! Mit sicherem Griff nennt der Autor, seines Zeichens Präsident des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), die Instanzen, die die staatliche Lizenz zum Töten oder wenigstens zum Einsperren haben. Einleuchten kann seine Begründung für deren Notwendigkeit jedoch nur, wem seine falsche Logik einleuchtet: Zuerst stelle man sich diese unsere real existierende Gesellschaft vor,
– in der der Staat alle darauf verpflichtet, mit dem auszukommen, was ihnen der Zufall der Geburt oder die Wechselfälle des marktwirtschaftlichen Lebens an Mitteln bescheren oder versagen,
– in der das Privateigentum von Staats wegen garantiert und gesichert ist – auch gegen diejenigen, die nicht genug zum Leben haben,
– in der Staaten mit überlegener Wirtschaft und Militärmacht von anderen Staaten verlangen, die Ergebnisse der globalen Konkurrenz auch dann hinzunehmen, wenn sie darüber verarmen.

Dann denke man sich die Staatsgewalt aus dieser Gesellschaft weg – und schon entdeckt man die soeben theoretisch aufgerissene Lücke, die der Staat sinnvoll ausfüllt: Ohne ihn ginge das alles tatsächlich nicht!

Von wegen ‚Bresche‘, von wegen ‚keinen Markt‘:
Gewalt ist in dieser Gesellschaft, in der sich das Interesse an der Vermehrung privaten Besitzes nur auf Kosten anderer durchsetzen lässt, zweifellos vonnöten. Dass die vom Staat und nur vom Staat ausgeübt wird, das setzt der Staat durch. Er beansprucht das Gewaltmonopol für sich und verbietet das Kaufen von Polizisten, Richtern und Atomraketen. Die „Bresche“, in die ihn die F.A.Z. da springen lässt, hat er also selbst geschlagen.

Um seine verkehrte Begründung so richtig plausibel zu machen, lenkt der HWWI-Professor die Aufmerksamkeit seiner Leser auf – Afrika. Dort ist Staaten, in denen im Zuge der Entkolonialisierung all die schönen Marktprinzipien einigermaßen blutig, aber doch erfolgreich eingerichtet worden sind, mangels wirtschaftlichen Erfolgs und ohne die im Kalten Krieg von den rivalisierenden Großmächten gestiftete finanzielle und waffentechnische Ausstattung, das Gewaltmonopol über ihr Staatsgebiet abhanden gekommen. Das Gedankenspiel „Marktwirtschaft ohne staatliches Gewaltmonopol“, so meint die F.A.Z., lässt sich da realiter betrachten. Der Blick auf den schwarzen Kontinent nämlich „macht klar, wieso wir einen Staat brauchen. In vielen afrikanischen Regionen herrschen Anarchie, Gewalt und Willkür. Es fehlt ein Staat, der die Rechte der einzelnen vor den Übergriffen anderer schützt. Ohne Staat kann zwar jeder machen, was er will. Ohne Staat ist aber auch jeder ohnmächtig, seine Freiheit gegenüber anderen durchzusetzen. Es herrscht ein Kampf ,jeder gegen jeden‘.

Der Reihe nach:
Von wegen ‚Anarchie, Gewalt‘, ‚Willkür‘, von wegen ‚Kampf jeder gegen jeden‘:
Man merkt schnell, dass es dem Autor hier nicht darum geht zu erklären, warum eine Reihe afrikanischer Länder, wie z. B. Somalia, in lauter Einzelteile zerfallen sind, sondern um die Bebilderung des ihm „Selbstverständlichen“: Weil es diesen ‚failed states‘ (gescheiterten Staaten) an einer zentralstaatlichen Gewalt fehlt, müsse es einfach drunter und drüber gehen. So versteigt sich die F.A.Z. zu der Behauptung, wegen des Zerfalls der ehemaligen Zentralgewalt gingen sich die Einwohner als Privatsubjekte gegenseitig an den Kragen. Dabei kämpft dort keineswegs jeder gegen jeden, sondern Privatarmeen und Milizen von War-lords führen Dauerkriege darum, ein neues Gewaltmonopol auf ihrem jeweiligen Territorium, also eine neue anerkannte Staatsmacht, zu errichten.

Von wegen ‚Recht‘, von wegen ‚Freiheit‘:
Aber mit Afrika hat es längst nichts mehr zu tun, wenn die F.A.Z. verkündet, dass ‚Freiheit‘ eine Frage der Durchsetzung ist. Warum hält die F.A.Z. das für selbstverständlich? Weil es jedem, der die tägliche Konkurrenz für eine selbstverständliche Sache hält, gleich einleuchtet, dass sich seine Interessen gegen die anderer durchsetzen sollen. Nur: Das wünscht sich jeder andere auch, bloß eben umgekehrt. Und alle haben sogar noch einen Wunsch gemeinsam: Sie brauchen einen Schutz davor, dass der jeweils andere sich die Freiheit nimmt, sich auf ihre Kosten durchzusetzen. Schon eine ziemlich verrückte Idee! Auf die man aber nur kommen kann, wenn es eine solche janusköpfige Gewalt längst gibt und wenn sie alle darauf verpflichtet hat, ihre Interessen in aller Freiheit gegen alle anderen zu verfolgen und damit die spiegelbildliche Freiheit der anderen zu respektieren. Und wer legt die Reichweite der Freiheit aller wohl fest? Genau derselbe Staat, den die F.A.Z. bei diesem Gegeneinander längst unterstellt. Es gibt sie also längst, die zentrale Gewalt, die die Regeln dieses „Kampfes ‚jeder gegen jeden‘“ festlegt und Verletzungen sanktioniert. Dann aber geht Freiheit nur mit Gewalt. Schädigungen anderer verdienen somit aber laut F.A.Z. einfach nicht mehr das negative Prädikat ‚Übergriff‘, weil der Staat ja per Recht und Gesetz definiert, was an wechselseitiger Schädigung im täglichen Konkurrieren erlaubt ist und was nicht – und nur Letzteres gilt im Rechtsstaat als Übergriff. Man muss sich den Kopf schon ziemlich verbogen haben, wenn man ein solches Loblied auf die Gewalt in aller Freiheit auch noch mitträllert… Jetzt aber startet die F.A.Z. so richtig durch:

„Ohne starken Staat gibt es keine freien Märkte. Nur ein starker Staat kann individuelle Grund- und Freiheitsrechte verläßlich garantieren. Nur so lassen sich Eigentums- und Verhaltensrechte und damit die Funktionsfähigkeit offener und freier Märkte sichern. Dazu greift der Staat auf Gerichte, Polizei und Streitkräfte zurück.“ [Es braucht den Staat auch,] „um Rechts-, Vertrags, Handels- und Verkehrsregeln durchzusetzen. Er muß Grundbücher und Handelsregister führen oder Maße und Gewichte kontrollieren.“

Bei einem fertigen Staatsgebilde wie dem unsrigen ist im Unterschied zu Afrika alles in bester Ordnung – und der „Kampf ‚jeder gegen jeden‘“ (vornehmer formuliert: „Konkurrenz“) als verbindlich etabliert und somit so richtig eröffnet, sofern sich die am allgemeinen Konkurrenzgeschehen Beteiligten an die staatlichen Spielregeln halten. Auch ‚Markt‘ funktioniert nur, wenn allgemein eingesehen wird, dass Eigentum an was auch immer alle anderen davon ausschließt, selbst wenn sie Bedarf daran hätten. Und die staatliche Gewalt sorgt mit Gesetzen und ausführenden Behörden dafür, dass es mit dem Einsehen auch nachhaltig klappt… Und so eine Welt soll uns als selbstverständlich einleuchten??? Aber ja, meint die F.A.Z., wenn schon nicht die Welt, so doch der Staat!

„Für einige Bedürfnisse gibt es keinen Markt, etwa für die Landesverteidigung oder den Gerichtsvollzug.“
Kein Wunder: In diesen Bereichen ist der eben noch erwünschte private Konkurrenzkampf ausdrücklich verboten –handelt es sich doch um Kernstücke staatlicher Souveränität. Aber einleuchten sollen Panzer und Gefängnisse auf jeden Fall. Schließlich seien es ja auch ‚Bedürfnisse‘, ganz so wie das private Bedürfnis nach einer Mütze Schlaf oder einem Glas Rotwein. Nun mag es zwar sein, dass es Bürger gibt, die ein dringendes Bedürfnis nach Lenkraketen, Isolationszellen und schnellen Eingreiftruppen verspüren: Aber auch sie müssen dann zur Kenntnis nehmen, dass private und staatliche Bedürfnisse nicht dasselbe sind und die Befriedigung solch exquisiter Gewaltbedürfnisse für Privatpersonen ausdrücklich unter Strafe steht!

‚Markt‘ war für die F.A.Z. bis hierhin so etwas wie die Grundvoraussetzung für Wohlstand usw., aus der sich der Staat gefälligst heraushalten soll. Jedoch:

„In anderen Fällen versagt der Markt, weil es doch (?) zu mächtigen Monopolen kommt. Wir fragen uns: Wie kann eigentlich ein Markt ‚versagen‘, weil es zu Monopolen kommt? Jeder Marktteilnehmer ist darauf aus, Gewinn zu machen. Wenn einem Unternehmen dieser allgemein akzeptierte Zweck so erfolgreich gelingt, dass er seine Konkurrenten vom Markt fegt, dann ist er Monopolist. Worin soll jetzt eigentlich das ‚Versagen‘‘ liegen? Versagen tut hier keiner, schon gar nicht der hochgelobte Markt – so geht er!

Aber noch etwas spricht für den Staat. Denn er ist auch – neben seinen anderen ‚Aufgaben‘ – ein Leistungsstaat:

„Er dient dazu, jene gemeinsamen Aufgaben zu erledigen, bei denen der Markt versagt und ein Angebot gar nicht, nicht in genügendem Maße oder nur mit ungewünschten Nebenwirkungen zustande kommt. (…) Der Markt sorgt nicht für eine gerechte Einkommensverteilung. Er verteilt Einkommen nach Leistung und nicht nach Bedarf. Aus gesellschaftspolitischen Gründen ist daher eine Umverteilung durch den Staat angezeigt.“

Komisch: Bisher kam es ausdrücklich darauf an, den ‚Markt‘ mitsamt seinen segensreichen Wirkungen freizusetzen. Und – kaum geschehen – produziert ebendieser Markt mit schöner Regelmäßigkeit lauter unschöne Dinge : vom Tod bringenden BSE-Rindfleisch bis zu verelendeten Einkommenslosen. Das spricht aber, so die F.A.Z., nie und nimmer gegen den Markt, sondern wiederum für den Staat, der hier erneut schwer gefragt ist. Einleuchtende Beweisführung, oder? Na klar, wenn man die schädlichen Wirkungen des Marktes einfach zu ‚Nebenwirkungen‘ erklärt, dann ist das Marktprinzip schon mal davon freigesprochen, dass es so etwas wie Lebensmittelvergiftung, Elend usw. notwendigerweise bewirkt. Und man kann dem Markt umso dankbarer für seine ansonsten guten Hauptwirkungen sein –vorausgesetzt, der Staat mischt sich nicht zu viel oder zu wenig, sondern genau richtig ein. Wie z. B. bei der „gesellschaftspolitisch“ gebotenen Umverteilung von Einkommen „nach Bedarf“: Hartz-IV-Empfänger wissen es dem „Leistungsstaat“ zu danken, dass er ihnen bei seiner, den Markt korrigierenden, „gerechten Einkommensverteilung“ auch gleich noch das schwere Geschäft abnimmt, ihren Bedarf selbst zu ermitteln… Wir jedenfalls fänden es wesentlich einleuchtender, sich den Markt mitsamt dem staatlichen Gewaltapparat vom Hals zu schaffen, als Markt und Staat abwechselnd zu loben und zu tadeln. Und dabei aus jedem angeblichen Versagen des Marktes den Staat als segensreichen Helfer aus der Not ‚abzuleiten‘ und umgekehrt.

Die Botschaft lautet also: Ja sagen zum Staat, mit Mann & Maus, Markt & Moneten; ja sagen zum Prinzip, dessen Funktionieren kritisch zu begleiten, aber nie in Frage zu stellen ist – mehr soll gar nicht einleuchten. Da hätten wir doch gleich einen anderen Vorschlag: Die F.A.Z. wegschmeißen und sich beim „Fanclub Deutschland – Land der Ideen“ anmelden (www.landderideen.de) – schönen Gruß auch in diesem Sinn an den Tübinger Streitkultur e.V.! Literaturempfehlungen: „Der bürgerliche Staat.“, München 1999; „Arbeit und Reichtum“ (Sonderdruck aus GegenStandpunkt 4-96 und 1-97) – zu beziehen über den GegenStandpunkt Verlag oder im Internet: www.gegenstandpunkt.com

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