Die Nation bindet, was zusammengehört, und zusammengehört, was sie bindet
Von Professoren kann man lernen; manchmal nicht nur an der Uni, sondern auch als ganz normaler SPIEGEL-Leser. Der Tübinger Historiker Professor Dieter Langewiesche äußerte sich im SPIEGEL als einer der „führenden Experten für die Geschichte des Liberalismus und Nationalismus in Deutschland“ zum Thema „Nation“.
Die hält einerseits zusammen, was ohne sie gar nicht zusammen wäre:
„Gesellschaften, die keine Nationen bilden, zerfallen in Gruppen anderer Art, etwa in Stämme, die nicht fähig sind, ein – über die Gruppe hinausgehendes – Zusammengehörigkeitsbewusstsein zu entwickeln und dann auch Institutionen zu schaffen.“
Wieso sind Stämme oder sonstige Gruppen, die gar nicht zusammengehören wollen und deshalb auch keine gemeinsamen Institutionen haben, zu so etwas „nicht fähig“? Sie mögen es selber weder wollen noch wissen, aber der „Experte“ weiß, dass sie eigentlich doch zusammengehören, Zerfallsprodukte von etwas sind, das es ohne Nation zwar gar nicht gibt, mit ihr aber zusammengehalten wird. Also: ohne Nation keine nationale Zusammengehörigkeit.
Jetzt soll bloß keiner sagen: „Na, und?“ oder „Wie denn auch?“ – die Nation, so macht der Herr Professor klar, ist von ungeheuerer Bedeutung! So sehr, dass das exakt Umgekehrte ebenfalls gilt: ohne Nation so viel nationale Zusammengehörigkeit, dass sich die Nation einfach zusammenfinden muss:
„Nehmen Sie etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Turner, die Sänger- oder die Schützenvereine. Die Leute haben sich nicht organisiert aus nationalem Interesse, aber sie haben sich dann mit Sängern, Turnern oder Schützen aus anderen deutschen Staaten zusammengetan, etwa Sängerfeste gefeiert, und haben sich dabei als Nation erlebt.“
Das leuchtet ein: Wer ganz ohne nationales Interesse mit- oder gegeneinander zu Chorgesang, Turnen oder Scheibenschießen antritt, dem drängt sich die Nation, die es noch gar nicht gibt, die also gar nichts „zusammenfassen“ kann, dergestalt auf, dass man sie zuerst erlebt, obwohl es sie gar nicht gibt, und sie dann glatt gebildet wird, weil es sie so eigentlich und, ohne dass es sie gibt, doch schon gibt.
In Deutschland, so der Fachmann für dessen Nationalismus, hat das jedenfalls so funktioniert. Mit dem Zollverein von 1833/34
„… werden neue Bestimmungen erlassen, und der Handwerker in einer Region weiß, er konkurriert jetzt mit Kollegen in anderen Regionen, hat dort neue Absatzmärkte. Dabei entsteht Nationalbewusstsein, weil man sich als Deutscher entdeckt, der in diesem ökonomischen Raum handelt.“
Ausgerechnet die ökonomische Konkurrenz über die damaligen Staats- und Zollgrenzen hinaus soll ein gemeinschaftliches nationales Bewusstsein hervorgebracht haben? Es heißt zwar miteinander konkurrieren, handelt sich aber doch um einen Kampf jedes Anbieters gegen alle anderen um die zahlungsfähige Nachfrage, in der jeder versucht, seinen Konkurrenten den Markt streitig zu machen, und dabei Gefahr läuft, dass die ihn vom Markt fegen.
Und wegen dieses so wunderbar entstandenen Gemeinschaftsgefühls konnte Bismarck dann gar nicht anders, als gewissermaßen im Auftrag der (klein)deutschen Sänger, Turner, Schützen und Handwerker mit dem Krieg von 1866 die damalige Präsidialmacht, Österreich, aus diesem Bund zu vertreiben und mit dem Krieg von 1870/71 gegen Frankreich das Deutsche Reich blutig aus der Taufe zu heben.
Der Redakteur vom SPIEGEL spinnt beeindruckt Langewiesches gewagten Gedanken von der Geburt des Staatsgrenzen überwindenden Zusammengehörigkeitsgefühls aus dem Gegeneinander der Konkurrenz weiter und will wissen, ob sich denn analog auch angesichts der heutigen globalisierten Konkurrenz der althergebrachte Nationalismus als „politische Kraft“ „behaupten“ kann? Ersetzt ihn jetzt weltweites Zusammengehörigkeitsgefühl? Nein, so Prof. Langewiesche, heutzutage bewirkt der Wettbewerb dieses Wunder nicht, eher das Gegenteil:
„Ich vermute, dass der Nationalstaat die wichtigste Institution bleiben wird, um die Auswirkungen (der Globalisierung, d. Verf.) zu dämpfen…“
Keine Hinwendung zu einer Art Weltbewusstsein, weil man sich in der weltweiten Konkurrenz als Weltbürger „entdeckt“, der im gemeinsamen „ökonomischen Raum“ handelt. Ganz im Gegenteil: Während die Staaten des Deutschen Bundes der freien Konkurrenz des deutschen Zollvereins weichen mussten, fällt gegenwärtig dem heutigen (National)Staat die Aufgabe zu, die Auswirkungen der Konkurrenz mit den „Kollegen in anderen Regionen“ zu „dämpfen“. Und jetzt bitte – trotz des Widerspruchs – keine Zweifel an der Stimmigkeit der oben gelieferten historischen Erklärung der Nation aus dem Nationalbewusstsein und des Nationalbewusstseins aus der ökonomischen Konkurrenz! Ein Historiker hat kein Problem damit, einmal das nationale „Zusammengehörigkeitsbewusstsein“ aus der Existenz der Nation und danach umgekehrt die Nation aus ebendiesem Nationalbewusstsein abzuleiten; ebenso wenig schert er sich um den Widerspruch, aus dem ökonomischen Gegeneinander einmal Staatsgrenzen überwindendes Miteinander, ein ander Mal Staatsgrenzen verfestigenden Nationalismus abgeleitet zu haben. Ihn interessiert es eben nicht zu erklären, worin die Besonderheit des Nationalstaats liegt und warum im 19. und 20. Jahrhundert Staaten dieses Typus gegründet wurden. Ihn interessiert vielmehr, ob und wie lange Staaten „Bindekraft“ „entwickeln“ bzw. „verlieren“. Mit diesem Terminus übersetzt er die Tatsache, dass sich Nationalstaaten gegen die alten Reiche durchgesetzt und bis heute gehalten haben, tautologisch in eine innere Kraft, die sie angeblich hergestellt hat und so lange zusammenhält, bis sie dahinschwindet. Dann beweist umgekehrt der sichtbare nationale Zerfall, dass die Bindekraft schwer nachgelassen hat. Ein Historiker weiß eben alles, was geschah, damit zu begründen, dass es geschah. Wenn der Gründung des Deutschen Reiches die Herstellung eines gemeinsamen deutschen Marktes vorausging, dann muss ja wohl in der in ihm freigesetzten Konkurrenz dieselbe Bindungskraft gewirkt haben, die dann die (klein)deutschen Länder zum Reich zusammengeschweißt hat. Beweis? Schließlich gab es das Deutsche Reich dann ja – und in Gestalt seines demokratischen Rechtsnachfolgers existiert es immer noch! Die Weltnation dagegen gibt’s nicht und ist eher nicht absehbar, also nix globale Bindekraft. Deshalb ist dasselbe eben einmal der Grund für Staatsgrenzen überwindendes Nation-Building und ein andermal für das Gegenteil: staatliche Schutzmaßnahmen („dämpfender“ Protektionismus) und Ausgrenzung der Angehörigen anderer Nationen. Dabei legt sich der Historiker überhaupt nicht auf die real existierenden Nationalstaaten fest:
„… Aber das [Dämpfen der Auswirkungen der globalen Konkurrenz] könnte auch Aufgabe der EU werden.“
Ein bisschen mehr europäische Einigung in Richtung auf eine Art EU-Supranationalstaat könnte er sich schon vorstellen, ob als Resultat des gemeinsamen europäischen ökonomischen Raumes oder als Schutz vor dem globalen ökonomischen Raum, das will er gar nicht erst erklären. Und wieso die dämpfende Funktion der Nationalstaaten global wichtig und europaintern hinfällig sein soll oder auch europaintern wieder wichtig werden könnte, bedarf keiner Begründung, weil sich im historischen Verlauf schon noch herausstellen wird, was mehr „Bindekraft“ entwickelt, die gegenwärtigen Nationalstaaten oder ein gesamteuropäischer Staat oder irgendetwas dazwischen.
*Man sieht: Der Historiker ist immer auf der richtigen Seite, nämlich der historisch sich durchsetzenden Staaten und Staatsformen; denn die beweisen einwandfrei – „Bindekraft“!
(Alle Zitate aus SPIEGEL 4/2007, S. 64 ff.)