Deutschlands Führung freut sich über ihr Volk
1. Fernsehen und Zeitungen berichten ausführlichst darüber: Eine Woge der nationalen Begeisterung geht durch das Land. Es ist angesagt, eine Deutschlandfahne aus dem Fenster zu hängen, am Autofenster anzubringen, ein Deutschlandtrikot anzuziehen, und auf den „Fanmeilen“ und vor den Großbildleinwänden treffen sich Hunderttausende, die schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken oder sich in sie einhüllen; zusätzlich oder ersatzweise bemalen sie sich mit den deutschen Farben. Die Weltmeisterschaft wird also dafür hergenommen, das offensichtlich überwältigende Bedürfnis auszuleben, sich zu seiner Nation zu bekennen, zu zeigen, dass man zu ihr dazugehört und dass man auf sie stolz ist. Ganz egal, wie man in dieser Nation zurechtkommt, ob man mehr zu ihrem begüterten Teil gehört oder zu denen, die mit ihrer Arbeit und mit ihrer Armut für den Reichtum dieser Begüterten sorgen und für ihn einzustehen haben; ganz getrennt davon, dass deutsche Bürger in ihrem Alltag sehr viel aneinander auszusetzen haben und oft genug den je anderen als Hindernis für das eigene Vorankommen betrachten und behandeln; völlig entfernt von dem sonst üblichen staatsbürgerlichen Gemecker, mit dem angefressene deutsche Bürger sonst über „Misswirtschaft“ und „Unfähigkeit“ deutscher Politiker und Wirtschaftsführer herziehen – die Begeisterung verleiht Flügel, sie besteht darin und sie befähigt dazu, von all dem zu abstrahieren. „Deutschland einig Vaterland“ fühlt so und will sich so fühlen wie die Obdachlosen, die die „Süddeutsche Zeitung“ unter einer Münchner Brücke ausfindig gemacht hat:
„‚Wir haben oft genug vom Staat auf den Sack bekommen‘, sagt Indie, ‚aber wir stehen trotzdem für Deutschland, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist.‘ Sein Feuerzeug hat die Farben schwarz-rot-gold.“ (SZ, 22.6.)
Das reicht also, um Menschen – ungeachtet und unbeschadet der wirklichen Verhältnisse, die nicht bloß den Obdachlosen, sondern den allermeisten von ihnen ihr wirkliches Leben schwer bis sehr schwer machen – in die Glückseligkeit zu treiben: die Zugehörigkeit zu ihrer Nation. Dieses eine Merkmal, das in nichts anderem besteht, als Untertan derselben Staatsgewalt zu sein, reicht ihnen aus, um ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, über dem sie alle ihre Unterschiede und Gegensätze vergessen und sich in die Arme fallen. Das nennt man dann ‚nationale Identität‘: Unter Abstraktion von all dem, was die Nation ist, sie einfach dafür zu feiern, dass es sie gibt – und dann sich dafür zu feiern, dass man ein Teilchen davon ist. Darin wollen die Begeisterten aufgehen, und so richtig schön wird die Sache natürlich erst dann, wenn die Teilchen sich wechselseitig bestätigen, wie toll das ist, wenn sich also auf den Straßen und Plätzen lauter Unterkollektive des großen nationalen Kollektivs bilden, die dann entsprechend uniform, nämlich schwarz-rot-gold, aussehen. 2. So ganz von alleine ist die öffentliche Begeisterung allerdings nicht zustande gekommen. Da hat es schon einer gewissen Initiative der obrigkeitlichen Instanzen bedurft, die die Bildleinwände aufstellten, die „Fanmeilen“ etc. organisierten, die also eine solche Massenbegeisterung auf Deutschlands Straßen und Plätzen haben und zeigen wollten. Und es bedarf einer Öffentlichkeit – die Bild-Zeitung ist mal wieder Vorbild für alle –, die diese Begeisterung vorbereitete, sie lobt und immer weiter anheizt. Zum Resultat des Organisierens und Anheizens, zur allabendlichen Feier der nationalen Glückseligkeit, stellen sich Politik und Öffentlichkeit dann so, als würden sie einem spontanen Gefühlsausbruch des Volkes beiwohnen, den sie so nicht erwartet haben, den sie aber nur begrüßen können. Offensiv werfen sie die Frage auf, ob das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer und die fanatischen Deutschland-Liebhaber nicht ein wenig Unbehagen über einen nicht ganz unbedenklichen ‚Nationalismus‘ erwecken könnten – aber nur, um dem nationalistischen Überschwang dann die Absolution erteilen zu können. Nein, hier ist nur ein „fröhliches“ und „begeisterungsfähiges“ Volk unterwegs, das ein Bedürfnis auslebt, das allen Völkern eigen ist – davon, dass davon irgendeine Gefahr gegen irgendjemanden ausgehen könnte, kann nicht die Rede sein. Ziemlich unüberhörbar das unausgesprochene „Endlich!“. Endlich können deutsche Nationalisten wie die Nationalisten anderer Länder auch ihren Nationalstolz ganz ungebrochen vorführen, die in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands gepflegte Bedenkenträgerei wegen „da war doch mal was …“ wird im Eiltempo zu Grabe getragen.
Nun ist es zwar kein besonders gutes Argument, seinen eigenen Nationalismus deswegen für unbedenklich zu erklären, weil andere genau denselben pflegen; schließlich ist erwiesen, dass das Aufeinandertreffen der diversen ‚nationalen Identitäten‘ schon für ziemlich viel Blutvergießen gesorgt hat, jede ‚nationale Identität‘ es an sich hat, einer ‚fremden‘ grundsätzlich misstrauisch bis feindselig gegenüberzutreten – aber was soll’s! Jetzt ist „Party“! Auf diesen Ausdruck haben sich Politik und Öffentlichkeit geeinigt und sie wollen damit dem nationalistischen Freudentaumel den Anstrich der rein privaten Lebensfreude geben, der man doch unmöglich irgendeine „Aggressivität“ oder gar „Fremdenfeindlichkeit“ entnehmen kann, die stattdessen dafür spricht, dass sich hier ein ganz „normales“ Volk präsentiert. Die politisch führende und die meinungsbildende Elite der Nation hält es für selbstverständlich und sie feiert es ihrerseits, dass diese Privatheit sich ausgerechnet im Aufgehen in dem, was in anderen Zusammenhängen auch mal gern „die gesichtslose Masse“ genannt wird, am schönsten aufgehoben fühlt. Und sie gibt sich große Mühe, ein Bild der Nation zu entwerfen, das einerseits eine Absage an ein – nun so zu nennendes – früheres Duckmäusertum der Nation ist, das andererseits allen anderen Nationen mit dem Anspruch präsentiert wird, die deutsche Nation, so wie sie sich nun darstellt, zu akzeptieren und ihr nicht mehr mit Vorbehalten und moralischen Anschuldigungen wegen „da war doch mal was …“ zu kommen. Sie haben sich vielmehr daran zu gewöhnen, dass es in Deutschland nun einen „neuen Patriotismus“ gibt, der ungemein „weltoffen“ und „unbelastet“ sei.
Eine Weltmeisterschaft ist dafür eine günstige Gelegenheit. Zwar geht es auch da um nationale Repräsentation und auch da wollen Nationen ihre Überlegenheit vorführen und die Konkurrenz auf eben dieser Ebene gewinnen, aber es geht ja nicht um die wirklich bedeutsamen Streitpunkte und Gegensätze zwischen ihnen, sondern eben nur um die „schönste Nebensache“. Da lässt sich zwischenzeitlich mal gut auf „Völkerverständigung“ und „Kosmopolitismus“ machen und der „Gastgeber“ Deutschland kann sich ganz prima in dieser Hinsicht hervortun. Allerdings muss er dann auch dafür sorgen, dass das, was er über sein jetzt so „normales“ Volk sonst noch weiß, nicht zum Vorschein kommt und den guten Eindruck vermasselt. Deutschlands Führung weiß nämlich, dass in ihrem „normalen“ Volk jede Menge – wie man so sagt – „Aggressionspotenzial“ steckt, das dazu neigt, auf andere „normale“ Völker, die jetzt gerade zu Gast sind, loszugehen. Dieses „Potenzial“, das bei anderer Gelegenheit gerne aufgewiegelt und abgerufen wird, ist jetzt störend und muss mit dem passenden Mittel unterdrückt werden. Deswegen wird auf Deutschlands Straßen und Plätzen ein ziemlich einzigartiges Aufgebot an polizeilicher Gewalt postiert, die darauf aufpasst, dass national besoffene Massen sich Ausländern nur mit der Absicht der Verbrüderung nähern und so ihre Aufgabe erfüllen, der Welt zu signalisieren: Weil wir so internationalistisch sind, dürfen wir auch so hemmungslos nationalistisch sein. Der gute deutsche Bürger hat verstanden und hält sich im Wesentlichen daran. 3. Eitel Sonnenschein also? Nicht ganz. In den Redaktionsstuben, aber auch in den Parteien taucht eine Sorge ganz eigener Art auf: Lässt sich dieser nationalistische Aufschwung konservieren? Ist ja schön und gut, wenn die Leute einfach nur zufrieden sind in und mit ihrer Nation und vor lauter „Deutschland über alles“ den ganzen sperrigen Alltagskram dem unterordnen und zweitrangig werden lassen – im jetzigen Ausnahmezustand, so ein Kommentar, könnte die Regierung sogar die Mehrwertsteuer noch mal erhöhen und das würde ziemlich glatt durchgehen. Aber, so die Sorge, was ist, wenn der Ausnahmezustand vorbei und die Feiertagsstimmung verflogen und die Leute ohne nationalen „Hype“ wieder mit den „Notwendigkeiten der Reformpolitik“ konfrontiert sind? Wird der jetzige „Schwung mitgenommen“, steht die Nation wie ein Mann hinter den „Härten“ dieser „Reformpolitik“, baut sie sich mit der Geschlossenheit, mit der sie jetzt auftritt, gegen den Rest der Welt auf – oder kehrt die altbekannte deutsche Miesepetrigkeit und Verzagtheit zurück? Das ist natürlich eine zurechtkonstruierte Sorge, denn dass das Merkel’sche „Durchregieren“ nach der Weltmeisterschaft Probleme mit den dann wieder ernüchterten Massen kriegen würde, glaubt ja wirklich keiner. Aber wenn Politiker und Kommentatoren solche Sorgen in der Öffentlichkeit ausbreiten, dann sprechen sie
· erstens ganz unverblümt aus, welchen Dienst sie sich vom nationalen Wahn der Massen versprechen bzw. welche Funktion sie ihm zusprechen. Leute, die nach Identifikation mit ihrer Nation streben, sind nicht nur bereit, die Zumutungen, die diese Nation gegen sie auf Lager hat, hinzunehmen, sie begrüßen sogar dieses „Durchregieren“ als längst überfällig. Die Regierung sagt ihnen, dass es das braucht, um sich gegen andere Nationen durchzusetzen, und sie setzen aus Liebe zu ihrer Nation deren Wohl – mit all den darin für sie eingeschlossenen „Härten“ – über ihr eigenes.
· Zweitens benennen diese Politiker und Kommentatoren, die die jetzige Stimmung gern ‚konservieren‘ würden und von einem „neuen Patriotismus“ schwärmen, ihr Ideal. So wollen sie das Volk haben: Ganz damit beschäftigt, den Nationalstolz hervorzukehren und zu pflegen, keine Gegensätze mehr kennen zu wollen, sondern nur noch „Wir Deutschen!“, sich nach der Einheit der Nation, nach dem nahtlosen Zusammenschluss von Unten und Oben, von Führung und Gefolgschaft zu sehnen. Das ist dann – so sieht es Deutschlands Elite – eine „gute“ Masse, nämlich im Sinn von Manövriermasse. Die kann man und die lässt sich einsetzen für die „Herausforderungen der Globalisierung“: Zurzeit verstehen „wir uns“ ja bestens mit „unseren ausländischen Freunden“, aber es steht ja fest, dass dieser Ausnahmezustand mit der Weltmeisterschaft wieder aufhört.
(Aus: Die wöchentliche Analyse vom GegenStandpunkt-Verlag im Freien Radio für Stuttgart)