Fortschritt heute:

Länger arbeiten und weniger verdienen

Volkswirtschaften sind, um arbeiten und sich die Mittel des Lebens beschaffen zu können, darauf angewiesen, dass ihnen jemand „Arbeit gibt“. Sie können die Arbeit, die nötig ist, um das, was sie brauchen, selber herzustellen, nicht selbst erledigen; denn sie verfügen nicht über die nötigen Mittel zur Produktion. Die Eigentumsordnung reserviert einer kleinen Minderheit die Verfügung über Werkzeuge und Maschinen, Grund und Gebäude, Erfi ndungen und Know-how. Diese Minderheit arbeitet nicht, sondern lässt arbeiten – und zwar unter der Bedingung, dass die Arbeit, die sie verrichten lässt, erst einmal ihr einen Gewinn einbringt. Die Vergrößerung des Reichtums der Reichen ist die Vorbedingung der Arbeit, die das Lebensnotwendige heranschafft. Arbeit.

Die Unternehmer begründen das einmal mit Verlusten (Karstadt, Opel), ein andermal fragen sie gerade in Jahren mit Rekordgewinnen provozierend: „Muss ein Unternehmen denn erst kurz vor dem Konkurs stehen, bevor sich etwas bewegt?“ (FAG Kugelfi scher). Gleichgültig ob Unternehmen Branchenführer mit Supergewinnen sind oder Verluste bilanzieren; gleichgültig, ob sie ihre Konkurrenten mit zusätzlichen Kostensenkungen vom Markt fegen wollen oder ob sie sich mit Kostensenkungen vor dem Konkurs retten wollen, immer haben sie dieselbe Diagnose: Die Arbeitskräfte in Deutschland arbeiten zu wenig und kosten zu viel. Also heißt die Lösung für alle ihre unterschiedlichen Konkurrenzbedürfnisse immer: Verlängerung
der Arbeitszeit plus Lohnsenkung. Die einen wie die anderen verweisen auf den Zwang der Konkurrenz, der ihnen keine andere Wahl lasse. Dabei üben sie diesen Zwang durch die Verfolgung ihres Geschäftszwecks selbst gegeneinander aus – und dieser Geschäftszweck heißt nun einmal Profit und lebt davon, dass Arbeitskräfte für die Firma arbeiten und nicht für sich. Je mehr Leistung sie abliefern und je weniger sie davon haben, desto besser für die Rendite und desto besser für die Fähigkeit der Firma, der Konkurrenz Marktanteile weg-zunehmen.

So herrscht das Interesse der Kapitaleigner in Form eines ganzen Systems von Sachzwängen und jede einzelne Firma „muss“ immerzu genau das, was sie will: Sie muss bei ihrer Jagd nach Profit gegen Konkurrenten erfolgreich sein, sonst geht sie unter. Aber ist das ein guter Grund für die Lohnabhängigen, dem Profi tinteresse des Kapitals den eigenen Lebensstandard zu opfern? Schließlich beweist das doch nur, dass die Arbeiterschaft nicht nur einem einzelnen raffgierigen Bösewicht gegenübersteht, mit dem sie fertig werden muss, sondern einem ganzen Wirtschaftssystem.

Die Unternehmer jedenfalls, die selbstbewusst für den Vorrang des Profits vor dem Lohn argumentieren, verlassen sich nicht auf ihre Überzeugungsarbeit. Mit der Verordnung längerer Arbeitszeiten für weniger Geld stellen sie praktisch klar, dass der Lohn keine Frage einer gerechten Entsprechung von Leistung & Entgelt ist, sondern eine Frage der Macht: Wenn sie sich stark genug fühlen und die Gegenwehr schwach genug ausfällt, ändern sie einfach Leistungsanforderungen und Entlohnung in ihrem Sinn. Den Belegschaften, die das nicht gleich einsehen wollen, kommen sie mit Erpressung. Sie drohen, deutsche Standorte zu schließen und anderswo „Arbeit zu geben“, wo das ausbeutbare Elend noch größer ist – und ebenso die Bereitschaft, sich alles gefallen zu lassen. Aus dem weltweiten Überangebot von Arbeitsleuten suchen sie sich ganz frei die billigsten und leistungsfähigsten heraus. Und nur wenn die einheimischen dieses Kriterium nach Preis und Leistung erfüllen, tun sie selbstverständlich auch ihnen den Gefallen, sie auszubeuten. Wie Mafiosi drücken die Unternehmer ihre Erpressung als ein Angebot an die Belegschaften aus, das die nicht ablehnen können: „Nur wenn deutsche Löhne mit polnischen, indischen usw. konkurrenzfähig sind, können wir Arbeitsplätze in Deutschland halten.“ Bei ihrer Erpressung setzen die Konzerne auf die Abhängigkeit der „Arbeitnehmer“ von der Arbeit, die sie „geben“, – und auf den Willen ihrer Leute, den Ansprüchen dieser Abhängigkeit gerecht zu werden. Und wie es aussieht, können die Kapitalisten auch darauf setzen.

Die erpressten Arbeitsleute sollten aber eines wissen: Genau mit ihren Anstrengungen, die Renditeansprüche des Kapitals zu erfüllen und selbst für weniger Geld mehr zu leisten, reiten sie sich immer tiefer in die Scheiße. Genau dadurch vergrößern sie die Erpressungsmacht des Kapitals, die ihnen zu schaffen macht.

Worauf die Erpressungsmacht des Kapitals beruht und warum sie immer größer wird.

Die meisten Menschen in den modernen die keinen Profit abwirft und nur dem Arbeitenden nützt, gibt es im Kapitalismus nicht. Nur deshalb gibt es Arbeitslose, Leute die Arbeit brauchen und nicht kriegen können.

Für ihren Gewinn sind die Unternehmer auf die Dienste ihrer Beschäftigten angewiesen. Aber sie verstehen, mit dieser Abhängigkeit so umzugehen, dass daraus keine wechselseitige Erpressungsfähigkeit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer entsteht, sondern die Sache schön einseitig bleibt. Da der Lohn, von dem die Beschäftigten leben müssen, für die Unternehmer Kosten sind, setzen sie überall neueste Maschinerie ein und machen die Arbeit, die sie bezahlen, immer produktiver. Das könnte ein Segen für die Menschheit sein. Technisch gesehen wird es nämlich von Jahr zu Jahr leichter, das Notwendige und Wünschenswerte herzustellen und zu beschaffen. Technisch gesehen nimmt die notwendige Arbeit ab. Aber im Kapitalismus findet der technische Fortschritt selbstverständlich nicht statt, um den Arbeitern mehr Güter zugänglich zu machen oder um ihnen Arbeit zu ersparen. Er findet statt, um dem Kapital Lohnkosten zu ersparen – entsprechend sehen seine Wirkungen aus: Wenn Firmen den technischen Wirkungsgrad der Arbeit steigern und in einer Stunde das Ergebnis von vorher zwei Arbeitsstunden erarbeiten lassen, dann entlassen sie die eine Hälfte ihrer Beschäftigten und sparen sich die Zahlung von deren Lebensunterhalt. Die verbliebene andere Hälfte kann dann, erpresst durch die Entlassungsdrohung, froh sein, an den verbliebenen Arbeitsplätzen – wenn sie Glück hat, zum alten Lohn – weiterarbeiten zu dürfen. Dadurch senken die Unternehmer ihre Lohnkosten und steigern ihren Gewinn. Die Form der Arbeitszeitverkürzung, die der Kapitalismus kennt, heißt Arbeitslosigkeit – und mit der Produktivität der Arbeit in den Fabriken wächst die Zahl derer, die ins Elend abstürzen, weil das Kapital ihre Dienste nicht mehr braucht. Ihre Not ist die andere Seite des wachsenden Kapitalreichtums.

Zusammen mit ihrem Reichtum wächst die Erpressungsmacht der Kapitaleigner. Sie verwenden die durch ihren Fortschritt geschaffenen Arbeitslosen als Kampfmittel gegen ihre Beschäftigten. Je produktiver die Arbeit, desto größer die Zahl der national und weltweit Arbeitlosen; und je größer deren Zahl, desto härter und glaubwürdiger die Drohung der Kapitalisten, noch billigere Arbeitslose an Stelle der angestammten Belegschaften anzustellen. Eben dadurch, dass die einen gar nicht mehr arbeiten dürfen, werden die anderen dazu erpresst, wieder länger zu arbeiten. Arbeitslosigkeit und Überarbeit gehören in diesem System zusammen und nichts ist hier undenkbarer, als dass sich diejenigen, die zu viel arbeiten müssen, mit denen, die gar nicht arbeiten, die Arbeit teilen könnten.

Der freiheitliche Staat baut die Erpressungsmacht der Unternehmer zum kompletten Zwangssystem aus: Er beschimpft die vom Kapital überflüssig gemachten und auf öffentliche Unterstützung angewiesenen Erwerbslosen als Schmarotzer mit „Mitnahmementalität“, setzt sie auf 345.– Euro Existenzminimum – und zwingt sie so erst recht in eine Billigkonkurrenz gegen die Beschäftigten. Sie müssen jede Arbeit zu jedem Preis annehmen und drücken dadurch den Lohn aller.

So wächst im Zeitalter nahezu vollautomatischer Fabriken und inmitten des größten Überflusses an Produkten aller Art die Armut. Die einen werden für Dienste am Kapital nicht mehr gebraucht und verlieren mit der Arbeit ihr Einkommen. Die anderen, die „Arbeit haben“, verteidigen ihren Status gegen die Billiglöhner dadurch, dass sie ihnen immer ähnlicher werden – immer fleißiger nämlich und ärmer.

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