Das Gesundheitssystem – gestern, heute, morgen:

Gesundheit ist (zu) teuer

Gesundheit – wer sie braucht kann sie sich nicht leisten

Wer in unserer „modernen Leistungsgesellschaft“ krank wird, hat gleich mehrere Probleme, v. a. dann, wenn er zur breiten Schicht der „Bezieher geringer und mittlerer Einkommen“ gehört. Ein derartiges Einkommen erzielt man nämlich in aller Regel dadurch, dass man sich als Dienstleister oder Arbeitskraft bei einem Betrieb verdingt und die am zugewiesenen Arbeitsplatz geforderte Leistung erbringt. Wie viel von welcher Leistung zu erbringen ist, entscheidet der Betrieb, und da es dem auf geschäftlichen Erfolg ankommt, ist für ihn ein hohes Leistungsniveau gut und ein höheres noch besser. Das ist einerseits für die Arbeitsplatzinhaber nur zu schaffen, wenn sie bei passabler Gesundheit sind und andererseits ihrer Gesundheit abträglich. Im Krankheitsfall verlieren sie nicht nur die körperliche Voraussetzung für allerlei mehr oder weniger vergnügliche private Betätigung, sie verlieren mit ihrer Arbeitsfähigkeit auch und vor allem früher oder später ihren Arbeitsplatz und damit ihr Einkommen und ihre Existenzgrundlage. Wiederherstellung der Gesundheit oder zumindest Linderung der Erkrankung mag medizinisch in vielen Fällen möglich sein, kostet aber Geld, im Falle schwerer oder chronischer Erkrankung sehr viel Geld. Von einem normalen = geringen Einkommen lässt sich das für den Einzelnen nicht finanzieren. Die Spirale Armut – Lohnarbeit – Krankheit – trotzdem Arbeit – noch mehr Krankheit – Arbeitsplatzverlust – noch mehr Armut gehört zu den zahlreichen ganz normalen Schönheiten dieses Wirtschaftssystems.

Die gesetzliche Krankenversicherung sorgt für das Geschäft mit der „Volksgesundheit“

Wie in den meisten erfolgreichen kapitalistischen Staaten hat sich auch hierzulande der Staat dieses Problems angenommen. So gesund, dass sie die am Arbeitsplatz abverlangte Leistung einigermaßen verlässlich erbringen kann. und damit dem nationalen Wirtschaftserfolg zu Diensten ist, hätte er seine Durchschnittsbevölkerung nämlich schon gern. Also macht er das, was dem einzelnen Geringverdiener im Krankheitsfall nicht möglich ist, dadurch möglich, dass er alle Geringverdiener – kranke und gesunde – zusammenfasst. Wer weniger als ein gesetzlich definiertes Mindesteinkommen verdient – das ist die breite Masse der Bevölkerung –, wird verpflichtet einen Prozentsatz jedes Monatseinkommens in eine gesetzliche Krankenkasse einzuzahlen. Wohlweislich überlässt er das Einzahlen nicht dem freien Willen der Arbeitenden. Angesichts der geringen Höhe ihres Verdienstes und der Kosten für die damit zu bestreitenden Lebensnotwendigkeiten wüssten die, solange gesund, immer andere Dringlichkeiten, für die sie das Geld brauchen würden. Dessen ist sich der Staat realistischerweise so sicher, dass er die Krankenkassenbeiträge gar nicht erst in die Hände der Pflichtversicherten gelangen lässt, sondern sie gleich an der Quelle, also im Lohnbüro, einbehält. Durch ständigen Abzug von allen Löhnen und Gehältern wird eine Kasse gefüllt, aus der Behandlungskosten für erkrankte Lohnempfänger bezahlt werden, die diese von ihrem individuellen Verdienst niemals tragen könnten. Dieses einkommensspezifische Zwangssparen sorgt dafür, dass die Krankheitskosten aller Angehörigen der arbeitenden Klasse – Kinder, Alte und hausarbeitende Ehegatten, Arbeitslose und Arbeitsunfähige inklusive – allein vom Lohn, der den Angehörigen der arbeitenden Klasse ausgezahlt wird, getragen werden können und müssen. So etwas zu organisieren macht – unter anderem – das „Soziale“ an unserem Staatswesen aus. Im Sozialstaat gibt es nämlich Gesundheit, auch für Arme, nicht umsonst. Vielmehr sammelt eine staatlicherseits geschaffene Administration die millionenfach eingezogenen Beiträge zu milliardenschwerer Kaufkraft, die das Geschäft von „Gesundheitsindustrie“ und „-anbietern“ bedient. Frei von der individuellen Zahlungs(un)fähigkeit und dem daraus resultierenden Zahlungs(un)willen der Kleinverdiener können Arzneimittel- und Medizinproduktehersteller, Krankenhäuser, Apotheker, Ärzte und sonstige Gesundheitsdienstleister ihre Produkte und ihre Tätigkeit verkaufen und aus dem großen Topf der gesetzlichen Kassen bezahlen lassen. Das schafft einen „Gesundheitsmarkt“, der in dieser Größe ohne gesetzliches Kassenwesen nicht existieren würde, und an und in dem – wie jeder weiß – nicht schlecht verdient wird. Die pharmazeutische und medizinisch technische Industrie stellt einen bedeutenden Wirtschaftszweig dar und liefert einen ansehnlichen Beitrag zum deutschen Handelsbilanzüberschuss, und die durch kassenrechtliche Bestimmungen festgelegten Honorare für zu erbringende medizinische Leistungen haben Jahrzehntelang den „freiberuflichen“ Ärztestand zu einem Club von Spitzenverdienern gemacht

So hatte bisher jeder das Seine: die Arbeitnehmer zahlten die Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit selber und blieben der nationalen Wirtschaft als Arbeitskräfte erhalten; und sie finanzierten damit gleichzeitig das Geschäft eines Wirtschaftsbereichs, dessen Wachstum einem kapitalistischen Staat allemal zur Freude gereicht. Für steigende Nachfrage nach den Leistungen und Produkten dieses Wirtschaftszweigs sorgten die marktwirtschaftlichen Lebens- und Arbeitsumstände ganz von selbst. Die steigenden Kosten für die medizinischen Leistungen wurden dem nationalen Gesamtlohn aufgebürdet, denn die gesetzlichen Krankenkassen konnten bei Bedarf die Beitragssätze erhöhen und so die Zahlungsfähigkeit, auf die der Wachstumsmarkt Gesundheit zugriff, sicherstellen. Der Bedarf die Beiträge zu erhöhen stieg um so mehr, je mehr die Gesamtlohnsumme sank. Das tat sie, weil deutsche Unternehmen sich „weltmarkttauglich“ machen, indem sie ihren Gewinn durch Entlassungen und Lohnsenkungen erhöhen. Deshalb mussten immer weniger Beitragszahler mit immer geringerem Einkommen immer höhere Lohnabzüge hinnehmen, um die steigenden Kosten im Gesundheitswesen zu tragen.

Das Gesundheitssystem wird kostengedämpft

Seit einiger Zeit gilt der Politik das ständige Steigen der Krankenkassenbeiträge als Problem. Nicht so sehr als eines der Pflichtversicherten, von deren Einkommen sie abgezogen werden, sondern als eines der nationalen Volkswirtschaft. Das hat seine Ursache in der Art und Weise, wie die Kassenbeiträge vom Lohn abgezogen werden. Während die eine Beitragshälfte („Arbeitnehmeranteil“) als Abzug vom Bruttolohn ausgewiesen wird, firmiert die andere Hälfte unter dem Titel „Arbeitgeberanteil“ als Aufschlag auf die „Brutto“lohnsumme. Das ändert zwar nichts daran, dass beides zusammen den Prozentsatz ausmacht, der vom verdienten Gesamtlohn (also dem wirklichen Bruttolohn) an die Krankenversicherung abgeführt werden muss, führt aber dazu, dass sich steigende Versicherungsbeiträge zur Hälfte als Steigerung des Gesamtlohns auswirken. Und das gilt in Zeiten, in denen Wirtschaft und Politik im Namen der Standortsanierung nach umfassender Lohnsenkung rufen, als grundsätzliches Übel. Deshalb wurde und wird das Gesundheitswesen „reformiert“: „Reform“ bedeutet seit Jahren, dass Maßnahmen, die früher als „medizinisch notwendig“ definiert und deshalb Kassenleistungen waren, teilweise oder ganz aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) gestrichen werden. Das begann mit privaten Zuzahlungen für Zahnersatz und Medikamente und hört mit Mehrkostenregelung für zahnärztliche Leistungen, Krankenhaus- Praxis- und Apothekengebühr noch lange nicht auf. Auch wenn Gesundheitspolitiker und Krankenkassen immer noch die Behauptung aufrecht erhalten, dass eine „ausreichende“ Versorgung der GKV-Versicherten gewährleistet sei, so ist doch mit dem Streichkonzert der Maßstab des medizinisch Notwendigen zugunsten der Kostenersparnis an vielen Stellen verlassen worden. Brillen, Zahnbehandlung und regelmäßige Medikamenteneinnahme haben diejenigen, die sie brauchen, ganz oder teilweise aus dem Nettolohn zu bezahlen. Wenn Niedriglohn, Rente oder Arbeitslosengeld das nicht hergeben, haben sie Pech gehabt. Und dass Arztbesuche unterbleiben, um die Praxisgebühr zu sparen, war der Zweck dieser Erfindung. “Fallpauschalen“ limitieren die Kosten pro Erkrankung und Krankenhausaufenthalt. Auf „wirtschaftliche Betriebsführung“ bedachte Krankenhäuser reagieren darauf mit gezielter Bettenbelegungspolitik, Kürzung der Behandlungszeit pro „Fall“ und Personalabbau, was der Qualität der Patientenbetreuung wenig förderlich ist. Sogar die Honorare von Ärzten und Zahnärzten wurden mit einer summarischen Obergrenze versehen, da die Krankenkassen hierfür inzwischen einen festen Jahresgesamtbetrag zur Verfügung stellen, mit dem, unabhängig von ihrer Menge, sämtliche ärztlichen Leistungen abgegolten sind. Damit führt eine steigende Patientenzahl nicht mehr automatisch zu steigendem Arzteinkommen. Standes- und einkommensbewusste Ärztevertreter rufen deshalb nach grundlegenderen Reformen, die es ihnen ermöglichen, mehr bei den Patienten direkt abzukassieren. Der Ruf verhallt nicht ungehört.

Systemwechsel im Gesundheitswesen

Dass die jüngste Reform der GKV trotz erheblich vermehrter finanzieller Belastung der Patienten „unzureichend“ ist, darüber sind sich alle politischen Parteien einig. “Drastische Reformen sind unvermeidlich!“ ( C.C. v. Weizsäcker, Studium Generale, Tübingen 19.01.2005) Mit „drastisch“ ist hier nicht weitere Kostendämpfung gemeint, sondern eine grundsätzliche Umstellung der Finanzierung des Gesundheitssystems, die die Geldbeschaffung für ein gesundes Geschäft mit den Kranken „auf Dauer von Löhnen und Arbeitskosten abkoppelt“ (B. Rürup, Regierungsberater). „Bürgerversicherung“ und „Kopfpauschale“ heißen die Alternativen, die quer durch die Parteien Befürworter und Gegner finden. Die Bürgerversicherung soll dem Gesundheitswesen neue Finanzierungsquellen jenseits der Löhne erschließen, indem sie jedes Einkommen zu einem bestimmten Prozentsatz beitragspflichtig macht. Allein schon die Methode, mehr Beitragszahler zu requirieren, von der Art des Einkommens bei der Verpflichtung zur Beitragszahlung abzusehen und Lohn- und Zinseinkommen ebenso wie die Dienstbezüge von Beamten gleichermaßen einzubeziehen, würde, so die Hoffnung der Reformer, dafür sorgen, dass der Lohn nicht mehr im gleichen Maße wie bisher durch steigende Beiträge „getrieben“ würde. Man setzt darauf, dass die zwangsweise ausgehobenen Neumitglieder der Bürgerversicherung mit überdurchschnittlich hohen – weil ja einkommensabhängigen – Beiträgen und klassenbedingt unterdurchschnittlichem Krankheitsrisiko „innerhalb der Versicherung“ ihren erzwungenen Solidarbeitrag zur Mäßigung des nationalen Lohnkosten-Niveaus und zur Finanzierung des Gesundheitssektors abliefern würden. Noch mehr „Abkopplung“ der Geldbeschaffung vom Lohn strebt der Ergänzungsvorschlag an, den Arbeitgeberanteil „einzufrieren“ und Erhöhungen der Versicherungsbeiträge ausschließlich zu Lasten der Versicherten vorzunehmen.

Die Kopfpauschale, irreführenderweise von ihren Propagandisten auch Gesundheitsprämie genannt, ist eine von jedem Versicherten einkommensunabhängig zu entrichtende feste Monatsprämie. Der Arbeitgeberbeitrag wird den Lohnempfängern als zu versteuerndes Einkommen ausbezahlt. Und weil man genau weiß, dass die zahlreichen „Geringverdiener“ die für den Anfang geplanten 210 € nicht zahlen können, werden steuerfinanzierte Zuschüsse diskutiert.

„Kopfpauschale“ und „Bürgerversicherung“ bemühen sich also erkennbar um ein gemeinsames materielles Ziel: Durch Absehen von der Art, und bei den Kopfpauschalierern auch noch von der Höhe der Einkünfte, soll der Lohn als Kostenfaktor für die Unternehmen aus der Haftung für das Wachstum von Kosten im Gesundheitswesen entlassen werden – um ihm zugleich, soweit er Lebensunterhalt der Lohnempfänger ist, weiterhin die nötigen finanziellen Mittel für die Branche abzupressen. Beide Modelle stoßen da auf das Phänomen, das der ganzen Reformiererei als Ausgangspunkt zu Grunde liegt: dass der Gesamtlohn am Wirtschaftsstandort Deutschland ständig gedrückt wird, stellt in zunehmendem Ausmaß eine Schranke für die Finanzierung medizinischer Geschäftsgelegenheiten dar. Die Bürgerversicherer schlagen sich damit herum, dass die besserverdienenden „Leistungsträger“ der Nation nicht mit ungebührlich hohen Krankenversicherungsbeiträgen belastet werden sollen, und die Gesundheitsprämierer wollen die Steuerzuschüsse für die Kopfprämien der Armen nicht zu hoch werden lassen. Beide Modelle führen deshalb zur Konsequenz, die Gesundheitsleistungen in der Sozialversicherung auf das Niveau einer Grundversorgung zu reduzieren, die eben nicht mehr alle medizinischen Erfordernisse abdeckt, und den nicht abgedeckten Teil dieser Erfordernisse der Kaufkraft des privaten Geldbeutels zu überlassen. Das stößt auf Zuspruch bei einigen ärztlichen und zahnärztlichen Verbänden, die sich durch den kassenrechtlich festgelegten Preiskatalog für ihre Leistungen schon immer „gegängelt“ fühlten und sich von freierer Preisgestaltung ein besseres Geschäft mit der Krankheit versprechen. Es provoziert aber auch Widerstand bei den „Leistungserbringern“, die in der Kürzung bei den beitragsfinanzierten Gesundheitsleistungen eine Einschränkung ihres Geschäftsfelds sehen und sich nicht „kaputtsparen“ lassen wollen. Private Krankenversicherungsunternehmen sehen einerseits ihre Kapitalvermehrung durch eine „gleichmacherische Staatsmedizin“ bedroht, die ihnen den exklusiven Zugriff auf ihre wohlhabende Klientel entzieht. Andererseits tun sich ihnen mit dem absehbaren Bedarf an Zusatzversicherungen bei den Normalverdienern neue Geschäftsmöglichkeiten auf. Den politischen Reformern des sozialen Versicherungswesens sind nämlich die widerstreitenden Gesichtspunkte ihrer Tätigkeit wohlvertraut. Die bewährte Technik, den Lebensunterhalt der Versicherten per Zwang zur Zusatzversicherung in die Pflicht zu nehmen, ist deshalb fester Bestandteil der Reformtätigkeit. Und da, wo die Übernahme der Kosten dem Willen der Kranken überlassen bleibt, erfordert die Streichung von GKV-Leistungen sachverständiges Unterscheidungsvermögen. Auf den motivierenden Leidensdruck, den die Krankheit erzeugt, kann man sich zwar verlassen, auf den beschränkten Geldbeutel der Kranken aber eben auch. Also wird mit „Positiv“- oder „Negativlisten“ für Arzneien, die volkswirtschaftlich wichtigen Firmen schaden könnten, eher vorsichtig umgegangen. Dort, wo die öffentlichen Kassen direkt als Zahler gefragt sind, etwa bei Krankenhausbau, -ausstattung und, vor allem, –personal zeigen Politiker dafür häufig entschiedenen Sparwillen.

Die Heilung der „sozial Schwachen“ als sozialstaatliche Aufgabe, ist weitgehend Schnee von gestern. Heute steht die „Heilung des Gesundheitssystems“ an, damit morgen die bürgerliche Freiheit, (nur) das zu kriegen, was man sich leisten kann, auch auf dem medizinischen Sektor Wirklichkeit werden kann.

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