„nous sommes unis“ – Europas Kampf um die Werte
An einem Freitagabend im November gibt es in Paris einen Terroranschlag: Bombenexplosionen neben dem Stadion, in dem gerade ein deutsch-französisches Fußballfreundschaftsspiel läuft, Schießereien in Bars und Cafés, eine stundenlange Exekution bei einem Rock-Konzert – in der Summe 130 Tote. Und sofort ist für Deutschlands Herrschaften in Politik und Öffentlichkeit klar: „Nichts ist mehr wie vorher“. Mit Paris „ändert sich alles“.
Wieso eigentlich?
Rein sachlich genommen reiht der Anschlag sich ein in eine ganze Kette terroristischer Großaktionen: gegen ein Schiitenviertel in Beirut, gegen russische Touristen im Sinai-Flieger, gegen oppositionelle Kurden und deren Sympathisanten in der Türkei, gegen Christen in Nigeria. Die Terroropfer im Irak zählt schon längst niemand mehr… Mit Paris kann man die nach hiesiger Auffassung aber gar nicht vergleichen. Die Pariser Opfer stehen mit all den anderen Opfern völlig selbstverständlich nicht auf einer Stufe.
Was macht den Unterschied?
Auf den ersten Blick ist klar: Paris ist einem Deutschen, einem zivilisierten Mitteleuropäer unmittelbar nah; dort ist es im Prinzip wie hier. Und jedenfalls ganz anders als da, wo die Leute sowieso ganz anders leben: Wo in ihrem Alltag so viel Elend und Gewalt herrscht, dass sie daran irgendwie gewöhnt sind. Für solche Leute spendet man – vielleicht; aber auch das bestätigt nur: So richtig vom eigenen Schlag sind die nicht. Für die ändert sich mit einem Massenmord mehr nicht so viel – und für den Gang der Weltgeschichte schon gar nicht.
Das ist anders, wenn es gesittete Europäer trifft; noch dazu, wenn die sich gerade einem gesitteten Feierabend hingeben. Da ist nämlich nicht bloß der abendländische Bürger, der sich ganz gut selbst als Kunde in einem Pariser Bistro vorstellen kann, gefühlsmäßig betroffen. Da sind sofort die Figuren, die den Gang der Weltgeschichte professionell managen, mit einer Diagnose geistig vor Ort. Die Repräsentanten europäischer Staatsgewalt identifizieren mit der Autorität ihres Amtes das eigentliche Anschlagsopfer, und zwar links wie rechts des Rheins dasselbe: unsere Werte.
Welche?
Das erklären die dafür Zuständigen ganz locker mit einem Blick auf die heile Welt aus Fußball und Konzerten, Bars und Flaniermeilen, über die der Terror „hereingebrochen“ ist: Ziel der Anschläge ist „unsere Lebensart“. Die ist, so – nämlich von den kommandierenden Herren dieser Lebensweise durch die Brille ihrer terroristischen Feinde – betrachtet, nicht mehr das, was sie ist: das Absacken nach einem Alltag des Gelderwerbs, die bemühte Kompensation der gewohnten Drangsale der Konkurrenz, der kleine Luxus, den man sich gönnt, wenn schon sonst nicht allzu viel läuft… Aus höherer Warte besichtigt sind die Vergnügungen des Alltags erstens der wahre und eigentliche Inhalt abendländischer Lebensart – also nicht die Hetze des Berufslebens, nicht die Armut derer, die noch nicht einmal ein Berufsleben haben, sondern die Freizeit, die dann noch übrig bleibt, und der Spaß, den man sich dann noch leisten kann. Zweitens steht dieser banale Inhalt nicht für sich selbst, sondern dafür, dass der Mensch im Abendland das alles darf: für die Freiheit, die er dort genießt, wo sein Staat sie ihm lässt. Und weil Freiheit und Vergnügen in Paris in so idealer Weise zusammenfallen, ist drittens klar, dass sich dort Bahn bricht, was im Grunde jeder Mensch sich von tiefstem Herzen wünscht, also die unverfälschte Menschennatur freigesetzt und verwirklicht ist. Womit das Wichtigste an „unseren Werten“ klargestellt wäre: das Feindbild vom bösen Fanatiker, der sich am Wesen des Menschen schlechthin vergeht. Und noch wichtiger: das Bild von der Staatsgewalt als Hüter der menschennatürlichen Freiheit, mit dem die Vertreter dieser Gewalt sich ins Spiel bringen.
Denn denen kommt es ja auch dann, wenn sie vor einer trauernden Gemeinde ihre Reden halten, weder auf die Freizeitsitten ihrer angepassten Jugend noch auf die „Grundprinzipien des menschlichen Seins“ als solche an, sondern auf die Schlussfolgerung, die sich ihnen aufdrängt, die aber auch nur Machthaber von ihrem Kaliber ziehen können: Sie sorgen dafür, dass „nach Paris alles anders“ wird. Das ist für sie das Entscheidende: Sie beziehen die Gewalttaten der Terroristen auf sich als Herrschende, auf ihr Gewaltmonopol. Sie erklären sich, nämlich ihre durchgreifende Hoheit über die „Lebensart“ ihrer Bürger für angegriffen. Und sie machen nicht einfach weiter wie bisher, sondern machen mobil. Der französische Präsident ergreift die Gelegenheit und tut, was nur wenige seiner Kollegen tun könnten, ohne sich zu blamieren: Er erklärt „dem Terrorismus“ den Krieg, mit einem Bombenflugzeug pro Terroropfer, und weiß auch schon, wo er den führen will, gegen wen – und vor allem: mit wem. Die ganze Welt, vor allem aber Europa und hier insbesondere der deutsche Nachbar, sind herzlich eingeladen, mit einem ziemlich umfangreich und längerfristig angelegten nahöstlichen Feldzug dafür zu sorgen, dass die Weltgeschichte wirklich nicht mehr weiterläuft wie zuvor.
An dieser Stelle hat die Staatsmacht in Berlin ihren Auftritt. Sie trauert öffentlich, erklärt sich für mit-terrorisiert und macht für sich aus Frankreichs Kriegserklärung, was für passend, nämlich für notwendig und hinreichend hält, um für das weitere Weltgeschehen „Verantwortung zu übernehmen“: Berlin gewährt dem Partner Militärhilfe. So macht die Herrschaft den Übergang von der Ordnungsmacht, die sie sowieso immer und überall sein und als die sie sich weltweit respektiert sehen will, zur Militanz.