Großer US-Onlinehändler beutet seine Arbeiter aus –
das hat Deutschland nicht bestellt!
Seit gut zweieinhalb Jahren kämpft die Gewerkschaft Verdi um einen Tarifvertrag mit dem amerikanischen Onlinehändler Amazon. Ihre periodischen Streiks an den diversen deutschen Standorten des Konzerns sorgen während der Weihnachtszeit für etwas mehr öffentliche Resonanz, allerdings ohne dabei mehr praktische Wirkung zu entfalten. Das bietet Anlass für eine ziemlich traurige Erfolgsbilanz der Gewerkschaft zur Jahreswende: Man habe es zwar nicht geschafft, den Betrieb lahmzulegen, aber man habe durchaus „Sand ins Getriebe“ gestreut und dafür gesorgt, dass „das eine oder andere Paket nicht rechtzeitig angekommen ist.“ Auch im neuen Jahr gehen die Kampfmaßnahmen weiter: Einzelne Lagerhallen werden weiterhin mit kurzen Streiks – mit „tausenden Nadelstichen“ – belegt, zugleich drängt Verdi auf eine Intervention des Staats: Der soll den Tarifvertrag im Einzelhandel für allgemeingültig erklären und damit der Gewerkschaft – so deren Hoffnung – zumindest einen entscheidenden Etappensieg bescheren. Aber der Reihe nach.
1. Ein Kampf um Lohn und Leistung – gegen eine Firma, die Kapitalismus praktiziert, wie er im Buche steht
Einerseits streikt Verdi für Anliegen, die in der sozialen Marktwirtschaft immerzu Kampfgegenstand sind: für die Erhöhung der Löhne und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Auch und gerade bei Amazon sieht Verdi in diesen Fragen grundsätzlichen Korrekturbedarf; der fällt umso dringender aus, als es sich bei Amazon nicht bloß um eine Firma unter anderen handelt, sondern um den „ungekrönten König der aufstrebenden E-Commerce-Branche“ (alle Zitate stammen, sofern nicht anders vermerkt, aus der von Verdi in Auftrag gegebenen und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlichten Studie „Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten“). Mit der Behandlung ihrer Belegschaft setzt diese Firma „Arbeitsplatztrends“ für den gesamten Sektor und darüber hinaus: Laut Verdi-Chef Frank Bsirske ist Amazon gerade dabei, in seinen Lagerhallen die generellen „Arbeitsbedingungen in der digitalen Ära“ maßgeblich zu prägen. Und die sind alles andere als arbeiterfreundlich.
– Das betrifft erstens die Art und Höhe der Löhne, die der „Internetgigant“ zu zahlen pflegt und die ihn als einen fest verankerten Bestandteil des deutschen „Niedriglohnsektors“ mit den dazugehörigen „prekären Beschäftigungsverhältnissen“ ausweisen. Amazon bietet zwar in der Regel Vollzeitstellen an, was im heutigen deutschen Jobwunderland allemal als gar nicht selbstverständliches Kennzeichen besserer Arbeitsplätze gilt; die Stellen sind allerdings „überdurchschnittlich“ befristet – „besonders an den jüngeren Standorten ist der Anteil der befristet Beschäftigten enorm hoch“ – und mit einem entsprechend lockeren Kündigungsschutz versehen. Amazon baut seine Logistikzentren gezielt in den ärmeren Regionen der Republik, was bei der Gewerkschaft den Verdacht schürt, „dass die massenhafte Verfügbarkeit billiger Arbeitskraft für das Unternehmen ein wichtiges Kriterium bei der Standortwahl ist.“ Und seit der Anfang 2013 ausgestrahlten ARD-Reportage „Ausgeliefert – Leiharbeiter bei Amazon“, die in der Presse wie im Bundestag kurzzeitig für Aufregung gesorgt hat, ist auch die Praxis Amazons republikweit bekannt, bis zu 10 000 Saisonkräfte einzusetzen – hauptsächlich in der Weihnachtszeit und zu Bedingungen, bei denen sich die Öffentlichkeit zum Urteil „Ausbeutung!“ genötigt sieht. An dieser Front fordert Verdi Löhne nach dem im Einzelhandel gültigen Tarifvertrag sowie geregelte Zusatzzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld, die Amazon derzeit allenfalls als freiwillige Sonderzahlungen zugesteht.
– Zweitens und hauptsächlich will Verdi die Bedingungen der Leistung korrigieren, die der „Online-Riese“ den „pickers“ und „packers“ in seinen „fulfillment centers“ abverlangt. Dort sind die einschlägigen Ansprüche nicht nur hoch, ihre Einhaltung wird auch mithilfe modernster Technik penibelst kontrolliert: „Jede Aktivität wird durch Warenscanner aufgezeichnet und lückenlos überwacht.“ Wenn die Arbeiter den Anforderungen nicht entsprechen, werden sie in individuellen „Feedback-Gesprächen“, die Amazon mit seinen Dienstkräften regelmäßig durchführt, auf ihre mangelnde Leistung und Leistungsbereitschaft angesprochen: Mal wird im herrschaftsfreien Dialog konstruktiv darüber beraten, wie die Arbeiter „an sich arbeiten können“; mal werden sie mit direkten Mahnungen und gar nicht so subtilen Verweisen auf die befristete Natur ihrer Anstellung zu erwartungsgemäßen Leistungen gedrängt. Dabei werden sie auf das inzwischen erreichte durchschnittliche Leistungsniveau im Betrieb verwiesen, um sie zu ermuntern, den Durchschnitt zu übertreffen, was wiederum die Durchschnittsleistung und damit die Ansprüche erhöht, denen alle Dienstleister zu gehorchen haben. Insgesamt scheint es keine große Kunst zu sein, die Aufseher in Sachen „Arbeitsmoral“ unzufrieden zu stimmen:
„Ein Mitarbeiter wurde angeblich abgemahnt, weil er innerhalb von fünf Minuten zweimal kurz stillgestanden habe. Das nenne Amazon dann ‚zweimalige Inaktivität‘ in fünf Minuten.“ (Verdi-Chef Bsirske im ZDF-Morgenmagazin) „Wer nicht schnell genug ist oder Phasen der ‚Nichtaktivität‘ im Protokoll hat, wird zum Feedback-Gespräch zitiert. Exemplarisch hierfür steht ein … ‚Inaktivitätsprotokoll‘ von 2014, in dem vermerkt wird, dass eine Beschäftigte, die ‚von 07:13 bis 07:14 (1 min) inaktiv‘ war, darüber belehrt wurde, ihre ‚arbeitsvertragliche Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung verletzt‘ zu haben.“
Das Resultat ist unter anderem ein Krankenstand, der ungefähr 20 Prozent über dem deutschen Durchschnitt liegt.
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Gegen diese Zustände wendet sich die Gewerkschaft mit der Parole „Wir sind Menschen, keine Roboter“. Die Praxis, gegen die sie diesen Vorwurf erhebt, besteht allerdings keineswegs in einem Verstoß gegen eine irgendwie geartete Menschennatur der Arbeitenden. Sie verdankt sich einem kapitalistischen Grundsatz, dem die Beschäftigung von lohnarbeitenden „Menschen“ gehorcht und den Amazon äußerst ernst nimmt: Die Zeit, für die eine Firma ihre Arbeiter vertragsgemäß entlohnt, ist das Eigentum der Firma. Wenn Amazon von seiner Belegschaft nicht nur konstant hohe und steigende Leistungen einfordert, sondern auch jede „Standzeit“ als penibel zu prüfenden Abzug von der geforderten Arbeitszeit verbucht, dann macht es sein gültiges Recht auf vollständige Verfügung über sein erworbenes Eigentum geltend: den Arbeitseinsatz der bezahlten Arbeitskräfte. Wenn Amazon seine Beschäftigten wie „Roboter“ arbeiten lässt, dann verfehlt es nicht deren menschliches Wesen, sondern behandelt sie durchaus sachgerecht: Schließlich sind sie vom Standpunkt der betrieblichen Rechnung, die bei der Verrichtung ihrer Arbeit gilt, weil sie überhaupt der Grund ihrer Anstellung ist, nichts als lebendige Produktionsmittel. Es ist also nur konsequent, dass es bei ihnen, genauso wie bei der Maschinerie, die Amazon in seinen Lagerhallen aufstellt, auf maximale Leistung ankommt – auch hier für minimales Geld.
Einen Unterschied zu den Robotern kennt Amazon bei seinen menschlichen Arbeitskräften deswegen auch sehr genau: den subjektiven Faktor, ihren Willen. Dem lässt das Unternehmen deswegen eine ganz eigene Pflege zukommen. Das fängt an mit dem Leitspruch, mit dem die Belegschaft in den Lagerhallen täglich zur Mitarbeit bei Amazon beglückwünscht wird: „Work hard, have fun, make history.“ Die Arbeiter werden damit eingeladen, sich als Teil eines ganz besonderen betrieblichen Teams zu begreifen, das sich durch die Fähigkeit und Bereitschaft auszeichnet, freiwillig und freudig ranzuklotzen und als leistungsstarke Betriebsgemeinschaft mit Amazons Geschäftserfolg Großes, geradezu Historisches zu schaffen. So werden sie daran erinnert, worin ihre besondere Rolle im Team besteht: Sie haben sich ganz nach den Vorgaben reinzuhängen, über die die anderen, betriebsleitenden Team-Mitglieder entscheiden. Und zugleich sollen sie nicht aus den Augen verlieren, dass und wie sehr es ihre Sache ist, wofür sie sich da reinhängen dürfen. Dafür wird ihnen die Freude, stolzer Teilhaber am Phänomen Amazon zu sein, allmorgendlich in Erinnerung gerufen: „Jede Schicht beginnt nicht nur mit der Vorgabe, was geschafft werden muss, sondern auch mit der Aufforderung, ‚Spaß bei der Arbeit‘ zu haben.“ (börsenblatt.net, 21.05.13) Das ist sicher gruselig, aber in einer Hinsicht genauso sachgerecht wie das, was die Betriebsleitung ihnen nach dem firmeneigenen Morgengebet an Arbeitseinsatz abverlangt: Es ist die angemessene Pflege einer Leistungsbereitschaft, von der sich das Unternehmen nicht abhängig macht, sondern die die Beschäftigten beweisen müssen. Wenn Amazon seine Mitarbeiter jeden Tag ermuntert, „sich selber zu übertreffen“, und ihnen gratuliert, wenn sie sich mit jeweils neuen Spitzenleistungen als „top performer“ und Vorbild für alle anderen auszeichnen, dann zeigt sich die Wahrheit dieser tollen Leistungsgemeinschaft: Wenn deren Mitglieder sich derart ins Zeug legen, dann lassen sie alle Rücksichten gegen sich fallen und einander wechselseitig alt aussehen, so dass der Nutzen sachgerecht bei dem Organisator dieses Leistungskollektivs anfällt.
2. Ein Kampf um gewerkschaftliche Selbstbehauptung – gegen eine Firma, die alle Möglichkeiten ausschöpft, die ihr die Rechtslage und die Arbeiterklasse in Europa bieten
Im Streit über Lohn und Leistung bei Amazon führt die Gewerkschaft Verdi inzwischen einige kleine Erfolge auf ihre periodischen Kampfmaßnahmen zurück: Die eine oder andere Lohnerhöhung sowie rudimentäre Verbesserungen der Arbeitsbedingungen hat sie erreicht, wobei Amazon wiederum beteuert, dass das mit dem Druck der Gewerkschaft nichts, mit der sozialen Ader der Firma aber alles zu tun habe. Dazu kommt die Einrichtung von Betriebsräten an fast allen Amazon-Standorten in Deutschland – auch wenn Verdi-Zugehörigkeit bei denen eher die Ausnahme ist und manche Betriebsräte sich ausdrücklich „arbeitgeberfreundlich“ verstehen. Doch Verdi geht es nicht nur um Fragen von Lohn, Leistung und betrieblicher Repräsentation, vielmehr um eine Grundsatzfrage, mit der sich deutsche Gewerkschaften immer öfter auseinandersetzen müssen: Verdi kämpft darum, dass Amazon die Gewerkschaft überhaupt als eine Instanz anerkennt, die Einfluss auf die Entscheidungen der Firma nehmen darf. Und diesem Ziel – für die Gewerkschaft die Hauptsache, weil daran ihre eigene Fähigkeit hängt, für die Amazon-Arbeiter überhaupt etwas zu erreichen – ist Verdi eingestandenermaßen kein Stück näher gekommen. Denn Amazon weigert sich nicht nur, den Tarifvertrag im Einzelhandel bei sich anzuwenden; es lehnt überhaupt jegliche Tarifbindung nach wie vor grundsätzlich ab. Amazon definiert sich ganz nach seinen eigenen Berechnungen als Logistikunternehmen, das sich entsprechend am Logistik-Tarifvertrag „orientiert“, bei dem das Lohnniveau ca. 14 Prozent unter dem des Einzelhandels liegt. 1) Nach eigenen Angaben befindet es sich in dieser Sparte sogar im „oberen Bereich“ und zahlt inzwischen auch Weihnachts- und Urlaubsgeld. Doch es besteht darauf: Das alles sind freiwillige Leistungen der Firma, auf die sie sich durch einen Vertrag mit der Gewerkschaft nicht verpflichten lässt; und auf den von der Gewerkschaft beantragten Tarifwechsel schon gleich nicht.
Auch hier besteht Amazon auf dem Grundsatz kapitalistischer Unternehmerfreiheit: Ein Unternehmen ist ein Stück Privateigentum, über dessen Verwendung allein der Eigentümer entscheidet. Die Belegschaft mag man als „Mitarbeiter“ zum großen Team zählen, die Betriebsleitung die Löhne der Festangestellten sogar mit einem Stück Eigentum an der Firma per Aktienpaket versüßen, aber es bleibt dabei: Die Mitarbeiter sind eben Mitarbeiter, also ein für allemal Mittel der Firma, insofern Betroffene von, aber nicht Mitspracheberechtigte bei der Unternehmensführung. Für das Ziel, für das dieses Privateigentum da ist, nämlich mehr zu werden in Konkurrenz mit anderen Privateigentümern, ist die Entscheidungsfreiheit des Unternehmens – das beteuert Amazon bei jeder Gelegenheit – unerlässlich. Seine Fähigkeit, allfällige „Innovationen“ durchzuführen, den Betriebsablauf bei Bedarf umzugestalten und die Wünsche der Kunden immer besser und effizienter zu erfüllen – alles zu dem Zweck, den eigenen Gewinn zu steigern –, verträgt sich einfach nicht mit einer Mitsprache der Belegschaft, schon gar nicht mit einer gewerkschaftlichen. Die Organisation der Beschäftigten als Leistungskollektiv nach den Gewinnansprüchen des „Arbeitgebers“ duldet keine Störung durch eine organisierte kollektive Interessenvertretung der Beschäftigten. Um das machen zu können, womit Amazon „Geschichte“ macht, muss es frei von Rücksichten auf seine Belegschaft operieren können.
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Von diesem Standpunkt lässt sich das innovationsfreudige Unternehmen nicht abbringen – schon gar nicht von einer Gewerkschaft, deren Macht und Streikfähigkeit es nicht fürchtet. Man gibt sich demonstrativ unbeeindruckt: „Das Glatteis bereitet uns jedes Jahr weitaus mehr Kopfzerbrechen als die Verdi-Aktionen.“ (Ralf Kleber, Deutschlandchef von Amazon in der WirtschaftsWoche, 8.10.15) Das zeugt zwar auch, aber nicht nur von der Frechheit des Vorstands, vielmehr von der Sicherheit des Konzerns, sich mit seinen Ansprüchen auf breiter Front auch durchzusetzen.
– Dazu nutzt Amazon erstens eine Rechtslage, welche die intensive und extensive Verwendung von Leiharbeit und befristet Beschäftigten erlaubt. Es macht sich außerdem den Umstand zunutze, dass die Unternehmensmitbestimmung erst ab 2.000 Beschäftigten zur rechtlichen Pflicht wird, und schneidet die Größe seiner Betriebe entsprechend zu. Es sichert sich staatliche Protektion, indem es seine „fulfillment centers“ vornehmlich in „strukturschwachen Regionen“ hinstellt. In ihrer Sicht erfüllt die Firma also recht besehen einen politischen Auftrag, wenn sie die Bedingungen einer Politik benutzt, deren Motto nach wie vor: „Sozial ist, was Arbeit schafft“ lautet.
– Amazon kann sich zudem auf mehr als ein innovationsfreundliches rechtliches und politisches Umfeld stützen. Die Freiheit des europäischen Binnenmarkts kommt einer Firma wie Amazon entgegen: „Wir denken nicht in Landesgrenzen.“ (Kleber) – was Verdi derzeit vor allem in Gestalt der Lagerhallen zu spüren bekommt, die Amazon z.B. in Polen errichtet, um von dort aus zu einem Viertel des in Deutschland bezahlten Lohns deutsche Kunden nicht erst im Falle von Verdi-Streiks zu beliefern. Und das Unternehmen kann auch auf eine europaweite Masse an Lohnabhängigen zurückgreifen:
„Mangels Alternativen ist Amazon für viele – trotz allem – ein attraktiver Arbeitgeber. Zahlreiche Beschäftigte kommen aus der Langzeitarbeitslosigkeit oder hatten vorher andere prekäre Jobs, vielfach in der Logistik, im Einzelhandel oder auf dem Bau.“
Bei diesen Figuren trifft Amazon nicht selten auf ein Bewusstsein, dass man es bei Amazon vergleichsweise gut getroffen hat, weil man eine Chance geboten bekommt, die sich sehen lassen kann: „Ein Vertrauensmann bringt es auf den Punkt: ‚Um ehrlich zu sein: Viele meiner Kollegen sind einfach zufrieden mit ihrer Arbeit. Die sagen: Mir geht es gut.‘ “ Und gerade weil diese Chance so prekär ist, sehen nicht wenige Amazon-Arbeiter in einer Gewerkschaftsvertretung, die für bessere Arbeitsverhältnisse eintritt und sich mit dem Unternehmen anlegt, weniger ein Mittel für ihre Interessen als eine Gefahr für ihre Arbeitsplätze. Schließlich hängen die am geschäftlichen Erfolg des Unternehmens. Den und damit die Arbeitsplätze gefährdet eine Gewerkschaft mit ihrem Kampf für bessere Konditionen der Beschäftigung – so die Logik, mit der Beschäftigte sich auf die Seite des Unternehmens und seines ungestörten Vorankommens als ihr Lebensmittel schlagen. Das gibt Verdis Werbeparole, es seien die Arbeiter, die Amazon mit ihrer Leistung und Leistungsbereitschaft groß gemacht haben, eine interessante Wendung. Für Verdi mag der Verweis auf die tätigen Dienste der tüchtigen Belegschaft für den Unternehmenserfolg ein Berufungstitel dafür sein, dass der Kampf der Beschäftigten um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen legitim sei; für nicht wenige Amazon-Arbeiter scheint das eher ein Ausweis zu sein, wie sehr Amazon ihre Firma ist, also eher ein Grund zum Schulterschluss mit der Firma, deren Erfolg auf ihre Arbeit zurückgeht, den sie also sich an die Brust heften. Dort sind sie – im Prinzip, im Großen und Ganzen – gut aufgehoben, nicht bei einer Gewerkschaft, die nur dazwischenfunkt. In diesem Geist der so schlichten wie verkehrten Übersetzung der Inanspruchnahme, die sie durch ihre Anwender erfahren, in eine Leistung, die sie als Betriebskollektiv erbringen, bilden sich dann auch – mit wohlwollender Unterstützung der Betriebsleitung – an einigen Amazon-Standorten „Pro-Amazon“- und „Anti-Verdi“-Gruppen, die sich gegen die Einmischungsversuche der Gewerkschaft wehren. Und zwar nach dem Motto, das nicht zufällig die Unternehmensleitung am besten auf den Punkt bringt: „Jeder Festangestellte in Deutschland ist auch Miteigentümer. Verdi ist nicht Teil dieser Beziehung.“ (Dave Clark, Amazons Vize-Präsident Global Operations). Amazon kann sich offenbar durchaus auf die Bereitschaft seiner Belegschaft verlassen, sich für alle Methoden der Ausbeutung herzugeben, die Amazon an ihr durchexerziert: für den praktischen Vergleich, den Amazon zwischen seinen Arbeitern anstellt, um ihre Leistung und Leistungsbereitschaft zu steigern, sowie für den ideellen Lohn, der dabei allemal zu verdienen ist. Da wird deutlich, wer den Nutzen davon hat, wenn Arbeiter Stolz auf ihre Arbeit entwickeln – naturgemäß derjenige, der über ihre Tätigkeit bestimmt und über deren Resultate verfügt.
– Selbstverständlich überlässt Amazon den Kampf gegen die gewerkschaftliche Vertretung nicht dem betriebsstolzen Gemeinschaftsgeist von Belegschaftsmitgliedern, sondern schöpft die Potenzen der Rechtslage, der Propaganda und der direkten Einschüchterung zur Unterbindung von gewerkschaftlichen Aktivitäten aller Art selber ziemlich vollständig aus, wie Verdi konstatieren muss. „Union Busting“ wird das auch in Deutschland genannt, und das hat sich inzwischen zu einer genuinen Industrie ausgewachsen – mit Gewinn- und Beschäftigungsmöglichkeiten für einschlägige Anwaltsfirmen.
3. „Kulturkampf“ einer Gewerkschaft, die (sich) Amazons Geschäftsgebaren zu einem nationalen Fremdkörper zurechtlügt
Die Gewerkschaft bekommt also zu spüren, dass sich ein Unternehmen wie Amazon in der modernen deutschen Arbeitswelt durch die gewerkschaftlichen Kampfaktionen nicht beeindrucken lässt, weil alle gewerkschaftlichen Forderungen und alle Appelle und Mahnungen an die Verhandlungsbereitschaft der Gegenseite nur so wirksam sind wie der Druck, den die Gewerkschaft dafür zu mobilisieren vermag. Und das ist nicht viel.
Dass es bei diesem Arbeitskampf um einen „fundamentalen Konflikt“ geht, ist dem Verdi-Chef auch ebensowenig entgangen wie das Fehlen gewerkschaftlicher Macht in der Auseinandersetzung mit Amazon. Was deren grundsätzlichen Charakter angeht, so betont Bsirske bei jeder Gelegenheit den prinzipiellen Gegensatz zwischen dem Unternehmensinteresse und dem der Arbeitervertretung – allerdings in einem etwas anderen Sinn:
„Das ist ein Stück Kulturkampf… Amazon will die Arbeitsbeziehungen in diesem Land amerikanisieren. Die wollen Wildwest spielen.“ (Bsirske in „Die Welt“, 12.3.14) „Hier sollen amerikanisierte Arbeitsbeziehungen mit einer Ablehnung von Gewerkschaften als Verhandlungspartner nach Europa exportiert werden.“ (ebd. 1.1.14) „Das ist eine Kultur des Umgangs mit Arbeitenden, die wir nicht wollen, das ist Wildwest. Das mag in Texas gehen, aber hier kann man mit Menschen so nicht umgehen.“ (Bsirske im ZDF-Morgenmagazin, 23.12.13)
Das sind nicht bloß Kampfparolen, bei denen eine gewisse dichterische Freiheit gilt. Bsirskes polemische Zuspitzungen des Kampfs sind sehr ernst gemeint – und erfüllen den Tatbestand einer beschönigenden Lüge.
Erstens weiß er ganz genau, dass das, was Verdi im Fall Amazon bekämpft, durch hiesiges Recht und Gesetz gedeckt ist. Das Unternehmen muss jedenfalls keine der Bedingungen erst noch importieren, die es weidlich ausnutzt: weder die rechtlichen Freiheiten für den Gebrauch deutscher und europäischer Arbeitskräfte, noch die prekären Lebenslagen, die ein fester Bestandteil des deutschen Arbeitsmarkts geworden sind, insbesondere in den „strukturschwachen Regionen“, die es hierzulande massenhaft vorfindet. Es hat auch den Arbeitern das Bewusstsein nicht einpflanzen müssen, an dem sich Verdi derzeit die Zähne ausbeißt – so manche deutsche Belegschaft zelebriert diesen Fehler ganz ohne Anleitung von oben mit Parolen und T-Shirts wie „Wir sind Opel“, „VW: Ein Team – Eine Familie“ – vorzugsweise in harten Firmenzeiten. Zweitens weiß Bsirske sehr gut, dass seine Gewerkschaft dieselben Auseinandersetzungen mit urdeutschen Einzelhändlern wie z.B. Real, KiK und Zalando führen muss, die sich ebenfalls weigern, sich an einen mit der Gewerkschaft ausgehandelten Tarifvertrag binden zu lassen. Mit der Rede von „Amerikanisierung“ werden aber die Arbeitsbedingungen, die diese einheimischen Firmen frei von allem gewerkschaftlichen Einfluss einrichten, von der Gewerkschaft zu einer „Kopie“ einer fremden – fremdländischen – Arbeitskultur umgedeutet, gelegentlich sogar zu einer leidigen Notwendigkeit, die diese Firmen befolgen müssen, wollen sie mit dem amerikanischen „Wildwest“-Konzern mithalten. Dass sich diese Firmen durch den Konkurrenten Amazon zu nichts anderem als zu einer entschiedeneren Verfolgung des gleichen Interesses, Durchsetzung in der Konkurrenz um Profit, genötigt sehen, verwandelt diese Sicht in den Skandal, dass hier von außen, aus der Fremde ein vorgebliches nationales soziales Gemeinschaftswerk, eine einvernehmliche „Arbeitskultur“ angegriffen und zerstört wird.
Wie steht es denn um den Teil der heimischen „Kultur“, in der kein Wildwest herrscht, weil Verdi als Tarifpartner und Mitbestimmer daran beteiligt ist? Diesen ‚ordentlich‘ geregelten Tarifbereichen sind jedenfalls Löhne, die unter dem Niveau liegen, das Amazon seinen Dienstkräften bietet, z.B. nach den Bestimmungen des von Verdi unterschriebenen Logistiktarifvertrags, überhaupt nicht fremd. Im Verhältnis zu den Bedingungen, die im Einzelhandel zu finden sind, steht Amazon nicht schlecht da, im Gegenteil:
„Der Lohn liegt meist leicht über dem regionalen Durchschnitt und kommt pünktlich. Es handelt sich im Allgemeinen um Vollzeitarbeitsverhältnisse, anders als es etwa im Einzelhandel Standard ist, wo der Anteil der Minijobs und unfreiwilligen Teilzeitarbeitsverhältnisse inzwischen bei fast 60 Prozent liegt und stetig wächst.“
Aber in diesem Abschnitt der deutschen Arbeitskultur herrscht eben nicht „Wildwest“ – und das macht für Verdi offensichtlich den entscheidenden Unterschied. Hier nämlich wird Verdi – vielleicht nicht immer, ja, nicht einmal sehr oft – vor und nach den Streiks, zu denen sie sich auch hier immer wieder genötigt sieht, als Tarifpartner respektiert. Da steht sie nicht ständig vor verschlossenen Türen, sondern wird immer wieder zum Verhandlungstisch zugelassen, also als gewerkschaftlicher Sozialpartner akzeptiert. So jedenfalls die gewerkschaftliche Vorstellung einer an sich hierzulande herrschenden nationalen Kultur eines Einvernehmens zwischen Unternehmer- und Arbeiterschaft, mit der sie die Unternehmensstrategie Amazons als undeutsch brandmarkt.
Und von diesem Standpunkt einer bedrohten einheimischen Arbeitskultur aus, eines zu verteidigenden nationalen Gemeinschaftswerks von Kapital und Arbeit unter Leitung des Staats, kennt Verdi folgerichtig auch noch ganz andere Opfer als die Arbeiter, die sie ideell hinter sich schart und in deren Namen sie antritt. Da gibt es erstens die unmittelbaren geschäftlichen Konkurrenten von Amazon, die einheimischen Händler, die gegenüber Amazon immer öfter den Kürzeren ziehen; zweitens die Geschäftspartner von Amazon, die vielen Firmen, die Amazon für ihre eigenen Bedürfnisse benutzen und die der Versandriese nach dem Dafürhalten von Verdi auch nicht sehr partnerschaftlich behandelt; drittens und vor allem die Staatskasse, zu der Amazon nach Ansicht der Gewerkschaft dank allerlei rechtlicher Winkelzüge nicht seinen gerechten Teil beiträgt.
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Die Antwort des Verdi-Chefs auf die Umtriebe von Amazon und auf ihre eigene erfahrene Ohnmacht, diesen Umtrieben Einhalt zu gebieten – nicht zuletzt wegen des Mangels an gewerkschaftlichem Kampfbewusstsein seitens der Beschäftigten mit ihren Arbeitsplatz- und Lohnsorgen – heißt also: Nationalismus. Verdi stilisiert sich zum Vorkämpfer einer eingebildeten nationalen Front gegen einen Störenfried, den keiner oben wie unten in der deutschen Arbeitswelt so dulden könne. Sie spricht die Amazon-Belegschaften nicht mehr als geschädigte Lohnabhängige, sondern als beleidigtes deutsches Arbeitsvolk in seinem Antiamerikanismus an und agitiert sie – ganz im Stile einer schlechten Kopie des Amazon-Morgengebets – mit der Propaganda eines geschichtsträchtigen nationalen Kampfauftrags, den die als stolze Vorkämpfer zu führen hätten. Sie sind berufen zur Rettung des nationalen Gemeinschaftswerks Deutschland:
„Auf euch schaut ganz Deutschland. Ihr kämpft gegen einen Weltkonzern. Die Menschen stehen hinter euch!“ „Ihr schreibt Geschichte, Sozialgeschichte, indem ihr streikt! Wir werden keine große amerikanische Firma hierher kommen lassen und Wildwest spielen!“
In diesem Geist geht Verdis Kampf auch im neuen Jahr weiter. Auch dieser Kampf hat also gute Chancen, zum Kulturbestand der deutschen Arbeitswelt zu gehören.
1) In den USA sieht Amazon die Sache genau umgekehrt: Dort besteht es darauf, Einzelhändler zu sein, weil dort – im Gegensatz zu Deutschland – das im Einzelhandelstarifvertrag vorgesehene Lohnniveau unter dem des Logistiktarifvertrags liegt.