Wie die Gesundheitspolitik mit einer Debatte konfrontiert wird, die auf ihrem eigenen Mist gewachsen ist

Seit Jahrzehnten legt jede deutsche Regierung ihre Gesundheitsreform auf, und alle haben sie zum Ziel, die Kosten im Gesundheitssystem zu „dämpfen“, damit die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenkassen nicht „über Gebühr“ steigen. Die Unternehmer sollen nämlich von den Lohnkosten, die ihnen durch diese Beiträge entstehen, entlastet werden. Die Arbeitnehmer und Arbeitslosen können Beiträge in entsprechender Höhe gar nicht aufbringen. Der Staat will die daher für seinen Haushalt anfallenden und steigenden Kosten für die medizinische Versorgung seiner Bevölkerung senken. Dabei hat aber bisher jede Reform daran festgehalten, dass den gesetzlich Versicherten alles medizinisch Notwendige zukommen soll. Zugleich soll vom gültigen Prinzip nicht abgerückt werden, dass mit jeder medizinischen Dienstleistung sowie mit der Herstellung und dem Verkauf von Medikamenten, medizinischen Hilfsmitteln und Geräten ganz marktwirtschaftlich Geld verdient, also ein Geschäft gemacht werden soll.
Jede Gesundheitsreform eröffnet deshalb einerseits den Krankenkassen neue Möglichkeiten, das Notwendige neu zu definieren und vom „bloß“ Wünschenswerten oder Komfortablen zu scheiden, um letzteres dann aus ihrem Leistungskatalog zu streichen. Die erwünschte Kostendämpfung ist dabei allemal erkenntnisfördernd bei der Identifikation von medizinisch Überflüssigem. Andererseits nehmen die Reformer immer wieder Änderungen vor hinsichtlich der Bezahlung der diversen Heilberufler, der Gesundheitseinrichtungen und neuerdings sogar der Produkte der Pharmaindustrie, ohne den sachzwanghaften Auftrag, medizinische Wohltaten unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, also als Mittel der privaten Bereicherung zu erbringen, zurückzunehmen. Schon gar nicht leiden soll die internationale Konkurrenzfähigkeit der Pharmaindustrie und der Hersteller von Medizintechnik am deutschen Standort.

Wegen dieser gegensätzlichen Anforderungen gerät jede Gesundheitsreform ins Kreuzfeuer der Kritik. Während die einen sie als – gemessen am Sparbedarf der Kassen – „unzureichend“ und „halbherzig“ anprangern, beklagen andere, dass mit dem Umfang der Leistungsreduzierung unter der Hand eine „Zweiklassenmedizin“ eingeführt worden sei. Betroffene „Leistungserbringer“ bemühen sich in Konkurrenz untereinander darum, die neuen Geschäftsbedingungen für sich auszunutzen, und behaupten, wenn sie sich unterbezahlt wähnen protestierend, unter den reformierten Umständen ihre Leistungen in erforderlichem Umfang nicht mehr erbringen zu können. Den Medien liefern sie damit Stoff dafür, allerhand Miss- und Notstände als „Skandal“ aufzudecken.
Bei alledem öffnet sich die Schere zwischen den durch die Lohnhöhe begrenzten Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherungen und ihren Ausgaben erneut und immer weiter, was immer wieder zum Ruf nach „endlich echten“, „ehrlichen“ Reformen Anlass gibt.

Mit dem neusten Hit in dieser Richtung landete Bundesärztekammerpräsident Hoppe in den Schlagzeilen. Er fordert, die Politik müsse endlich „über Priorisierung sprechen“, weil eine umfassende Behandlung aller Kassenpatienten nicht mehr finanzierbar sei. (FAZ 21.02.10) Das Gesundheitsministerium weist dieses Ansinnen als überflüssig zurück. Minister Rösler sieht sich zu Beginn seiner Amtszeit durchaus in der Lage, „das System so (zu) ändern, dass sich Ärzte solche Fragen nicht zu stellen haben“, und betont, er könne eine Rangfolge medizinischer Leistungen mit seinen „ethischen Vorstellungen als Arzt nicht in Einklang bringen“ (Deutsches Ärzteblatt 12. Febr. 2010).

Nun ist aber die Einführung einer Grundversorgung für Kassenpatienten, die nur einen Teil des medizinisch Machbaren umfasst, die logische Konsequenz der von ihm angestrebten Finanzierungsreform durch Einführung einer Kopfpauschale. Ethischen Bedenken gegen eine derartige Sortierung medizinischer Leistungen will ein Projekt den Boden entziehen, das die Kollegin vom Ministerium für Bildung und Forschung ins Leben gerufen hat. Das macht sich Gedanken zum korrekten Vorgehen beim Vorenthalten medizinisch zweckmäßiger Behandlungen und schreibt dabei dessen Vereinbarkeit mit der ärztlichen Ethik ganz groß. Nach ersten „Resultaten“ wird in den Medien breitgetreten, dass Rationierung und Ethik durchaus zusammenpassen.
Für die Politik schafft das neue Freiheiten. Wissenschaft und Presse verbreiten hartnäckig, dass angesichts der finanziellen Ausstattung des Gesundheitswesens nun mal nicht alle(s) behandelt werden könne(n), weshalb es eigentlich unethisch sei, den Leuten dies vorzumachen. Über ethisch korrekte Ausschlussverfahren wird unter öffentlicher Anteilnahme nachgedacht. Diese Debatte liefert diesem oder einem der nächsten Gesundheitsminister allemal eine Berufungsinstanz für kommende Runden der Beschneidung des sachlich und fachlich Notwendigen.

Wie man das unter den neuen Titel „Priorisierung“ oder „Rationierung“ „wissenschaftlich“ begründet und als korrekt durchgeführt absegnet, beschreibt der folgende Artikel.

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