H2>Soziale Menschenrechte, wie sie zur Marktwirtschaft passen
Im Rahmen des Studium Generale lädt die Lokalgruppe Tübingen des FIAN (Food First Informations- und Aktionsnetzwerk) zu einer Ringvorlesung zum Thema: „Rechte zweiter Klasse? – Die wirtschaftlichen, sozialen, und kulturellen Menschenrechte 60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen“.
Angesichts von Hunger und Armut in der Welt soll damit „z.B. das ‚Recht eines jeden von Hunger frei zu sein’ oder das ‚Recht auf gleichen Lohn’ … in den Vordergrund gerückt und Perspektiven entwickelt werden für eine Welt, in der sie (die sozialen Menschenrechte) für alle gewährleistet sind.“
In einer solchen Welt, so meinen die Aktivisten von FIAN offenbar, wäre das Elend geringer. Oder umgekehrt: Das Ausmaß der Not in der gegenwärtig existierenden Welt zeige, dass den Menschen Rechte vorenthalten würden, auf deren Einhaltung sich die Nationen doch verpflichtet hätten.
Mit Herta Däubler-Gmelin hatten sie eine Fachfrau zum Vortrag gebeten, von der sie meinen, dass sie als Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe für die Durchsetzung dieser Rechte zuständig wäre.
Rechte „zweiter Klasse“ …
Die hat ihnen zunächst einmal Recht gegeben:
In der Tat, die Frau Professor zählte es im Anschluss auf, spricht die „Erklärung der Menschenrechte“ und der sie ergänzende „Internationale Pakt über wirtschaftlichen, soziale und kulturelle Zusammenarbeit“ dem Menschen Rechte zu, die einem aus dem Sozialkundeunterricht nicht als klassische Menschenrechte bekannt sind: das „Recht auf Arbeit“ und „befriedigende Entlohnung“ beispielsweise, den „Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und sozialer Fürsorge gewährleistet“, das „Recht auf Bildung“, das die „allmähliche Einführung derUnentgeltlichkeit des Hochschulunterrichts“ beinhaltet, usw.
Die „liberalen Staaten“, so nennt Frau Däubler-Gmelin die kapitalistischen Demokratien, wollten diese Dinge zunächst keinesfalls als Rechtsansprüche ihrer Bürger gegen sich gelten lassen. So nämlich lautete zur Zeit des Kalten Krieges die realsozialistische Lesart dieser Sorte Menschenrechte: staatliche Garantie der Existenz und des Lebensunterhalts der werktätigen Massen. Der freie Westen hat diese materielle Existenzsicherung als Unterdrückung der persönlichen Freiheit gebrandmarkt, zu deren elementarem Bestandteil er die Konkurrenz freier Wirtschaftssubjekte und das damit einhergehende kapitalistische Lebensrisiko erklärte. Der Streit um die richtige Auslegung der Menschenrechtserklärung und um die Gewichtung ihrer „westlichen“ und „östlichen“ Bestandteile dauerte so lange an, wie die Sowjetunion existierte. Nach ihrem Abtreten und dem daraus resultierenden „Ende des Kalten Krieges“ hält Däubler-Gmelin ihn nun für versenkenswert. Allerdings, so macht sie vorstellig, nicht nur deshalb, weil es nun die eine Streitpartei nicht mehr gibt, sondern weil er schon immer dem „gesunden Menschenverstand“ widersprochen habe.
… bei uns erstklassig verwirklicht!
Dass dieser „gesunde Menschenverstand“ erst nach dem Ende der Sowjetunion erwacht ist, braucht nicht zu erstaunen. Von da an gilt eben nur noch die kapitalistische Lesart dieser Rechte. Die alten Real-Sozialisten waren davon überzeugt, dass die Abhängigkeit der Existenz der „Volksmassen“ von Lohnarbeit den Staat dazu verpflichte, ihnen Bildung, Wohnung, Ernährung, Gesundheitsfürsorge und das, was er für einen auskömmlichen Lohn hielt, als Recht zuzuerkennen. Die sozialen Rechte, die marktwirtschaftliche Demokratien ihren Bürgern erteilen, berechtigen diese hingegen dazu, sich mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, darum zu bemühen, diese Dinge zu erwerben. Darauf, dass sie das müssen, verpflichtet sie der Staat. Die Voraussetzungen dafür, dass sie das können, will er ihnen verschaffen. Wie viel sie aber tatsächlich erhalten, ist nicht durch ihn festgelegt. Das ist Resultat ihres Erfolges in der wirtschaftlichen Konkurrenz.
Das „Menschenrecht auf Arbeit“, so behauptet nun Frau Däubler-Gmelin, sei eigentlich und schon immer so gemeint, wie es „bei uns“ existiert:
Wenn die Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe fordert,
dann meint sie damit als nicht, dass es hierzulande noch irgendwelche Menschenrechte fehlen. In der Bundesrepublik war und ist, so führt sie aus, menschenrechtsmäßig alles in Ordnung. Hier sind die sozialen Menschenrechte nämlich seit der Ratifizierung des „Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ „individuell einklagbar“.Das ist folgendermaßen gemeint:
Beurteilungen dieser Tragweite liegen dabei ,,natürlich“ in den Händen höchster Staatsorgane und nicht etwa in denen der Kläger:
Wobei der bisherigen Rechtsprechung eine gewisse Kontinuität nicht abzusprechen ist:
Man darf sich also in einem Staat, der einem großzügigerweise das Recht auf „menschenwürdige Existenz“ erteilt, bei dessen Recht sprechender Instanz erkundigen, ob sie die miesen Lebensumstände, die einem dieser Staat bzw. dessen „freie Marktwirtschaft“ beschert, als den rechtlichen Bestimmungen entsprechend beurteilt. Das wiederum ist einfach zu haben: Schließlich garantiert ein solcher Staat nicht ein gutes Leben, sondern dass er niemanden von der Konkurrenz um Arbeitsplätze ausschließt. Ihr muss sich jeder wenigstens stellen können – und dafür braucht er ein paar sachliche Mittel und rechtliche Voraussetzungen. Allzu üppig müssen, ja dürfen diese jedoch nicht bemessen sein, damit sie einen nicht unter der Hand vom Zwang zur Teilnahme an der Konkurrenz befreien. Folglich geht es bei der Frage nach der ,,menschenwürdigen Existenz“ in der Praxis immer um Minimalbestimmungen und Mindestsätze.
Um der nachgehen zu können, braucht der Mensch auch ein paar Fertigkeiten und eine halbwegs intakte Gesundheit. Deshalb erhält er von seinem Staat seine „sozialen Rechte“ auf Bildung und medizinische Versorgung passenderweise in Form von Zwangsmaßnahmen: Einige Jahre Schulbesuch sind Pflicht und das Einzahlen in eine Krankenkasse, die die „medizinisch ausreichende“ Versorgung bezahlt, die man sich selber nicht leisten könnte, ebenfalls. Der Inhalt dieser Wohltaten, die einem die „sozialen Menschenrechte“ zusprechen, besteht also in dem, was der jeweilige Staat für die Herstellung der kapitalistischen Brauchbarkeit seines Volkes für wichtig hält und sich leisten will:
Solche politischen Auseinandersetzungsfragen entscheidet in der Demokratie ganz souverän die Politik nach ihren „Prioritäten“ und serviert das Resultat dieser Entscheidung dem Volk als sein (soziales Menschen‑)Recht. Dabei soll es jedem einleuchten, dass nur das finanziert werden kann, was „das Bruttosozialprodukt hergibt“. Bloß: Den als Bruttosozialprodukt gemessenen Geldreichtum der Gesellschaft muss die Masse derer, die Frau Däubler-Gmelin mit sozialen Rechten beglücken will, erst mal erarbeiten. Für ihre Arbeit verdienen sie nur so viel, dass die sich für die Geldbesitzer, die sie beschäftigen, lohnt. Tut sie das nicht, werden sie nicht beschäftigt und haben damit gar keinen Lohn. In aller Freiheit sind sie deshalb auf lauter staatliche Sozialleistungen angewiesen. Bei der Finanzierung ihrer „sozialen Menschenrechte“ trifft der Staat wieder Prioritätenentscheidungen: Wie viel ist von den Gewinnern der Konkurrenz an Steuern einzukassieren, damit denjenigen, die deren Reichtum schaffen, das Notwendigste an staatlicher „Daseinsvorsorge“ oder ein „Existenzminimum“ spendiert werden kann? Diese „Umverteilung von oben nach unten“ hat in einer Marktwirtschaft ihre Grenzen: Leute, die Geld zum Investieren haben, sollen schließlich ihr Kapital vermehren und so das Wirtschaftswachstum voranbringen. Zum Verschenken an die Armen ist es daher zu schade.
Und wenn der Staat seinen Bürgern neben diesen Wohltaten auch noch einen „Bildungssektor“ einrichtet. widersprechen Studiengebühren dem Recht auf Bildung dann nicht, wenn die Politik befindet, dass diese für eine effiziente Ausbildung am Wirtschaftsstandort BRD nützlich sind.
So gehören „Klassische Freiheitsrechte und soziale Menschenrechte“ zusammen: Minimalausstattung zur und Verpflichtung auf die Konkurrenz ist der ökonomische Inhalt der „Freiheit“, mit der die Bürger an der Gesellschaft „mitwirken“. Die einleitende Frage von Däubler-Gmelin – „Junge Leute, die keine Bildung bekommen, wie sollen die politische Mitwirkung an der Gestaltung ihrer Gemeinschaft überhaupt nur erleben können?“ – hat sich im Kapitalismus erledigt. So viel „Bildung“, dass er die BILD-Zeitung lesen und ein Wahlkreuz machen kann, kriegt da (fast) jeder.