Ohne Werte – keine Werte. Vom Fanatismus, Werte zu begründen

Vom Bier zum Vaterland

Seit Jahren hört das nun nicht mehr auf: Werte brauchen die Menschen – und zwar viel mehr als bisher. Die ökonomischen Werte und die darauf lautenden Wertpapiere, von denen mancher mehr brauchen könnte, waren damit nie gemeint; vielmehr die höheren: Grundwerte, Grund die alten Werte – alle die antimaterialistischen Tugenden des Verzichts eben, die als menschliche Werte geschätzt und so ihres negativen Gehalts entkleidet werden sollen.

Ein schwieriges Unternehmen freilich, dem sich die Wissenschaft da stellt. Wie soll man begründen, dass die Menschen sich unbegründeten und letzten, daher auch unbegründbaren Werten verschreiben sollen, die ihnen erklärtermaßen nicht nützen, ja die geradezu als Ersatz- und Gegenmotive zu Nutzen und Materialismus angeboten werden? Die vulgären Werte-Philosophien sehen entsprechend aus. Ihre Begründungen bestehen im frechen Bekenntnis zu dem Widerspruch, für den sie sich stark machen. Entweder sie “beweisen”, dass es dem Glück des Menschen äußerst nützlich ist, den Gesichtspunkt des Nutzens aufzugeben, und dass es das Leben bereichert, das Materielle gering zu achten, oder diese Philosophien “beweisen” den Menschen, die sich Werten unterstellen sollen, dass sie es sowieso schon tun; dass die Werte, für die sie werben, sowieso unausweichlich sind. Dass stets noch die Form des Beweises (also durchaus auch falsches Denken) dem geforderten Inhalt widerspricht, dass mit der Notwendigkeit von Werthierarchien die Freiheit des selbstbewussten Verzichts und mit dem Nutzen desselben der Verzicht dementiert wird, stört die Werte-Theoretiker wenig. Sie konstruieren fleißig ganze Theoriegebäude aus diesen Widersprüchen. Hier das eine.

Ohne Werte geht gar nichts – nicht einmal das sinnlose Saufen!

Der Beweis, dass Werte schlechterdings notwendig sind, damit der Mensch sich überhaupt entscheiden, seinem Willen einen Inhalt geben kann, will natürlich an einem Material abgezogen werden, das die “hohen Werte” nicht schon voraussetzt. Dass ohne den Wert Treue, Ehre, Leben und Vaterland niemand Treue, Ehre, Leben und Vaterland einen Wert zuerkennen würde, ist wahrlich kein Beweis für eine derartige Notwendigkeit, vielmehr eine Tautologie, deren logischer Mangel gleich auf die Frage verweist, ob man die Treue denn zu Recht für etwas Tolles halten solle oder nicht. Der Notwendigkeitsbeweis der Werte braucht also ein unbedenkliches, über alle Fragen erhabenes Material: Dass man ohne Werte sich nicht einmal zu einem Glas Bier soll entscheiden können, lässt da aufhorchen. Da sind wir doch gleich lieber für die Werte, schon um der Sauferei willen. Dass der herrliche Beweis nun aber auf einem Feld geführt wird, um das es zugleich nicht geht, dass mit dem Bierwert über die Notwendigkeit von hohen Idealen, Lebens- und Sterbenswertem nichts ausgemacht ist, das darf uns ebenso wenig stören wie der Umstand, dass das Hauptargument der Beweisführung „Nur ein Beispiel…” heißt.

Wie kommt der Philosoph zum Bier?

“Handeln heißt Ziele setzen und Maßnahmen ergreifen. Die Wahl und Beurteilung von Zielen und Maßnahmen richten sich nach bestimmten Werten.” (H. Härle, Der Erziehungsauftrag der Schule …, in: Blätter zur Erziehungsauftrag Lehrerfortbildung 1984)
“Wir leben ständig in Wertbeziehungen. Wir wählen ständig zwischen Werten.” (Manfred Hättich, Leben ohne Grundwerte?, München 1984, S. 9)
“Wir nehmen nun an, ich hätte Durst und es stünden mir Mineralwasser und Bier zur Verfügung. Wenn ich nach dem Bier greife, weil es mir besser schmeckt, dann hat das Bier für mich bereits einen doppelten Wert.” (ebd.)

Die Entscheidung zum Bier, die “Wahl der Ziele” wäre ohne Wert nicht möglich; die Wahl des Bieres nicht ohne den doppelten Bier- Wert (Durstlöscher, der zweitens schmeckt). Durch den Bierwert kann der Biertrinker sich zum Biertrinken entscheiden. Damit ist das ganze Bild von Entscheidung, das hier gezeichnet werden soll, allerdings hinfällig: Wenn einer Bier mag und Sprudel nicht, dann entscheidet er sich überhaupt nicht. Die “Wahl” fällt ihm leicht, sie findet nämlich gar nicht statt!

Wenn sich einer aber nicht so sicher ist, was ihm wohl lieber sein wird, dann wird er wohl Vor- und Nachteile seiner Alternativen am gleichen Maßstab abwägen müssen – nur daran kann er sie überhaupt vergleichen – und nicht dank getrennt vom Entscheider vorliegenden Bierwert eine Entscheidung zwischen seiner Zuneigung zum Alkohol und seiner Abneigung gegen Mineralwasser suchen können.

Der wissenschaftliche Wert dieses Bildes von Willensbildung ist gleich Null. Das mindert aber nicht ihren moralischen Wert, im Gegenteil: Wenn man sich zum Bier nur entschließen kann durch den Bierwert, den man schon intus hat, dann besteht die wirkliche Entscheidung, die verständige Zweckbestimmung, in einem Treueverhältnis gegen einen vorgängig und prinzipiell eingenommenen Standpunkt. Der Wille kommt nun dadurch zu einem Inhalt, dass er ihn schon voraussetzt.

Auch dass es sich hier offensichtlich um einen Zirkel handelt, tut der guten moralischen Absicht keinen Abbruch. Setzt die Entscheidung für ein Bier im Einzelnen schon die Entscheidung fürs Bier im Allgemeinen voraus, so fragt sich, wie sich der Bierfan denn nun dazu hat entscheiden können. Für das Bier soll man sich nicht so einfach entscheiden können, sondern nur vermittelst des Bierwerts, aber für den Bierwert? Auch dieser Zirkel ist notwendig und führt den moralischen Denker weiter: Mag es für das Bier an seinen Eigenschaften und dem Geschmack, den sie bedingen, an den Umständen, unter denen ein Drink ansteht, noch so etwas wie Entscheidungsgründe geben, so ist dies endgültig vorbei, wenn es sich um das Bierprinzip handelt: Für dieses muss man einfach „Standnehmen” oder eben nicht. Die grundlose Wahl als Grund der begründeten Wahl, das will der Wertehänger deduzieren! Nicht der Gehalt des Gewählten, also nicht das Bier mit seinen Eigenschaften, macht es zum wertvollen Getränk, sondern das Wählen macht das Gewählte zum Wert. Genannter Volkserzieher Hättich schafft das übergangslos. Hieß es auf Seite 9 noch: „Wir wählen ständig zwischen Werten”, und sollte der Leser bei „Werten” an Dinge denken, die nützliche Eigenschaften haben, weshalb man sie wählt, so liest sich das Verhältnis auf Seite 20 genau umgekehrt:

„Die Werthaftigkeit der Dinge hat also etwas zu tun mit der Bedeutung, die der Mensch ihnen zumisst, Die Dinge kommen durch einen Prozess, durch einen Vorgang zu ihrem Wert, weil der Mensch sie wertet.”

Jetzt soll sich das Wählen nicht mehr am Wert orientieren, sondern der Wert an der Wahl: Was immer ein Mensch wählt: Weil er es sich erwählt, ist es für ihn etwas wert! Wenn dieser Idealismus der Wahl nicht die radikalste denkbare Moralbotschaft ist!

Aber gemach! Erst noch eine Frage: Warum wertet der Mensch denn überhaupt, wenn das Werten schon so ein tautologischer Prozess ist? Weil das Bier sonst für ihn nichts wert wäre? Und ihm der Sprudel genauso recht sein könnte? Nun, wenn er den Biervorteil nur durch die Wahlhandlung erhält, könnte er ja auch ganz gut auf den Unterschied zur Limonade verzichten und um die Getränke einfach würfeln. Auf eines müsste er dann freilich verzichten; auf das Bewusstsein, es sich schwer herausgesucht zu haben und im Biertrinken seinen eigenen freien Willen zu betätigen. So schmeckt dem Philosophen jetzt nicht mehr das Bier, sondern das Selbstbewusstsein; beziehungsweise ihm schmeckt das Bier, weil er darin das Gefühl seines Subjektseins schlürft, weil er sich zum Bierfan nun einmal entschlossen und dadurch das Gesöff trinkbar gemacht hat.

So kommt der Mensch zum Sinn

In der Interpretation der Philosophen sind die Menschen die moralischen Prinzipienreiter, die sie durch die ganze Darlegung erst werden sollen. Darin liegt schon das Gegenteil: Sie sind es natürlich auch wieder nicht. Der Kampf für die Notwendigkeit der Werte wurde auf einem Gebiet geführt, auf dem es um Werte nun einmal nicht geht. Die guten Menschen, die um ihren Bierwert angeblich nicht herumkommen, machen einen Wertehänger ja doch nicht glücklich! Schenken wir ihm also seinen Bierwert und fragen, was damit überhaupt bewiesen sein soll. Natürlich die hohen Werte, Sinn und Orientierung! – nach dem argumentativen Muster: “Natürlich sind unsere Beispiele austauschbar” und der Wert unseres Bieres nichts anderes als der Wert des Lebens:

“… wenn der Mensch über sein Leben nachdenkt und danach fragt, was für ihn eigentlich wichtig ist und was ihm weniger wichtig ist”,
“Wenn der Mensch seinem Leben in irgendeiner weise einen Sinn gegeben hat, dann ist ihm alles wertvoll, was der Verwirklichung dieses Sinnes dient.“ (ebd., S.18)

Die falsch vorgestellte Entscheidung zwischen zwei Mitteln des Genusses ist ungefähr dasselbe, wie das ganze Leben als Mittel einer höheren Aufgabe oder Zielsetzung zu betrachten. Dass einmal das Bier dem Menschen “dient”, das andere Mal der Mensch sich als Diener an seinem höheren Auftrag auffasst, tut nichts zur Sache, wo es um die Logik des Wertens geht, nach der jedes Besäufnis ein Dienst am eigenen Bierwert genauso ist wie jeder Dienst Freiheit und Selbstverwirklichung. Alles ist ihm wertvoll, wenn der Mensch es nur in seinen selbstgewählten Sinn hineinrechnen kann. Und das Glück kann wahrhaftig jeder haben. Er muss sich halt seinen Sinn machen, indem er als Wert heiligt, was er sowieso tut und tun muss:

“Sein Leben erhält nur zielgerichteten Sinn, wenn er sich immer wieder auf seine Wert-hierarchien besinnt, sich also darüber klar Werthierarchien Wert wird, welche Werte für ihn die wichtigsten sein sollen. wird, ”

Klar, nicht auf die Qualität der gewählten Aufgaben und Lebensläufe, sondern auf den Akt des Wählens kommt es entscheidend an, weil er ganz offen die Umwertung der Scheiße leisten soll, in der “der Mensch” steckt:

“Je mehr Werterfahrung der Mensch macht, desto sinnvoller erscheint ihm sein Leben. So lange er anhaltend positive Werterlebnisse hat, fühlt er sich allerdings auch weniger veranlasst, ausdrücklich nach dem Sinn seines Lebens zu Fragen. Hat sich nun jemand daran gewöhnt, nur solche Erlebnisse als wertvoll zu betrachten, die ihm unmittelbar ein Bedürfnis befriedigen, ihn in den Zustand der Zufriedenheit oder des Glücks versetzen, dann erscheint ihm sein Leben nur insoweit sinnvoll, als es ihm solche Befriedigung beschert. Hat er hingegen gelernt, auch in anderen Situationen, etwa im Bewältigen von Schwierigkeiten, im Durchstehen von Leid oder in der Hilfe für andere einen Wert zu sehen, dann sind auch diese Situationen für ihn sinnhaft. Für den letzteren kann sich das Leben also aus mehr sinnhaften Situationen aufbauen als beim ersteren.”

Fein ist derjenige raus, der auch das Schlechte gut findet – der erlebt nur noch Gutes! Na also Freunde, ein bisschen Bereitschaft zum Selbstbetrug, ein bisschen so tun, als ob alles, was mit einem gemacht wird, selbst herausgesucht wäre – und schon habt ihr die geistige Reife für alles, was da kommen wird und was man ohne solche Reife womöglich gar nicht billigen könnte.

Dass der Selbstbetrug irgendetwas leichter macht, hat übrigens niemand behauptet!

Der Sinn des Wertegefasels

Spätestens seit der Kohlregierung, seit Millionenarbeitslosigkeit, seit Lohnsenkungen und „Du-bist-Deutschland“-Kampagne heißt die Parole: Mehr und freudigeres JA zu den Pflichten; JA zum Dienen und nicht aufs Verdienen geschaut. Niemand täuscht sich groß darüber, dass dies der politische Inhalt der Wertekampagne ist, und versprochen wird dem Werte-Haber nur dies: Wenn ihm die Tugenden als menschliche Größe etwas wert sind, dann braucht er mit Armut und Dienst nicht unzufrieden sein und hat allen Grund, Optimismus an den Tag zu legen.

Die eindeutige Botschaft in Sachen Volkserziehung ist auf fruchtbaren Boden gefallen – kein Wunder! Hat die Bundesregierung diesen Boden doch selbst bereitet. Der Aufruf zu mehr Werte-Bewusstsein war ja nicht in den luftleeren Raum gesetzt, sondern nichts anderes als ein Interpretationsangebot für die Lage, in die die Regierung die Bürger gebracht hatte. Wie kann man ein freier, sich selbst verwirklichender und nur sich selbst verantwortlicher Bürger bleiben trotz Armut, Arbeitslosigkeit und Kriegsgefahr? Indem man so tut, als habe man den erzwungenen Verzicht selbst gewählt und eben die anständige Bescheidenheit, die man dank beschränkter Mittel zeigen muss, als hohes Menschentum aus freien Stücken ergriffen.

Die Welt der Wissenschaft sieht bei solcher geistig-moralischer Erneuerung ihre verantwortungsvolle Aufgabe nicht etwa darin, zu sagen, was gespielt wird, wenn derlei hohes Menschentum ausgelobt wird. Nein, die Wissenschaft versteht ihren Auftrag ganz richtig, wenn sie sich auch bei dieser von oben verlangten Haltung um den Schein einer Begründung bemüht.

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