Naturwissenschaftler

Naturwissenschaftler erarbeiten Wissen um Naturgesetze und erfinden Technologien, in denen es angewandt wird; sie dürfen sich als Säulen und Garanten einer „Wissensgesellschaft“ vorkommen, die erklärtermaßen in „high tech“ ihre Zukunft sieht. Dabei sind die Fähigkeiten der Naturwissenschaftler bloß den Interessen der staatlichen Instanzen und privatwirtschaftlichen Figuren zu Diensten, die in dieser Gesellschaft allein über Macht und Mittel dazu verfügen, das Wissen praktisch werden zu lassen. Sachverstand alleine ist nämlich weder Reichtum noch schafft er ihn. Von den Interessen der staatlichen und privatwirtschaftlichen Auftraggebern ist im modernen Lobpreis von „high tech“ und Erfindergeist gerade nicht die Rede An diesen Interessen liegt es aber, dass die Menschheit nicht nur mit tollen Taschencomputern, sondern auch mit Genfood und ABC-Waffen beglückt wird und die Entwicklung arbeitssparender Maschinerie dazu führt, dass Leute ihren Job verlieren.

Für die technologische Umsetzung der Naturwissenschaft im Dienste der herrschenden gesellschaftlichen Interessen sind

Ingenieure, Chemiker, Biologen, Informatiker…

zuständig. Bei der Konstruktion von Gebäuden und Maschinen, elektronischem Gerät und chemischen Kunststoffen, Arznei- und Lebensmitteln müssen diese Leute wissen, worauf es jeweils ankommt, was ohne Erkenntnisse über die Natur der benutzten Stoffe und Prozesse, Wirkungen und Ursachen nicht geht; sie müssen ihr technisches Personal mit den nötigen Berechnungen, Versuchen, Konstruktionen usw. beauftragen können oder auch die Ergebnisse überwachen, so dass das Produkt zweckmäßig funktionieren kann. Manchmal ist sogar Phantasie vonnöten, damit etwas Zweckdienliches herauskommt. Meistens reichen Sitzfleisch und Routine, damit die Sache läuft. Sehr solide das alles und im Grunde sehr ehrenwert, das macht aber noch längst nicht das aus, wofür sie eingekauft werden.

Der Ingenieur dient Leuten und Instanzen, Behörden und Firmen, indem er sich an deren praktischen technischen Problemen zu schaffen macht. In diesen Problemstellungen begegnen ihm nun allerdings ganz andere Interessen als solche an menschenfreundlichen Gebrauchswerten oder Verfahrensweisen. Ein Bauingenieur z. B. muss sich in den gerade gültigen Bauvorschriften genauso gut auskennen wie in Statik und Baustoffkunde; das „technische“ Problem, für dessen Lösung er bezahlt wird, besteht nämlich nicht zuletzt darin, diese Vorschriften möglichst billig zu erfüllen, weil der Bau eine Sache ist, die sich rentieren muss – eben deswegen ja die Vorschriften, die diesen „Sachzwang“ um gewisse Rücksichten allgemeiner Art ergänzen. Ein Ingenieur für Atomenergieanlagen, der sich auf die Rentabilitätsberechnungen seiner AKW-Betreiberfirma nicht versteht, wird sich nie ein funktionsgerechtes Abschaltsystem für Atommeiler ausdenken, weil ihm die wichtigsten Koordinaten für die Definition eines Störfalls fehlen. Maschinenbauingenieure haben ihre Aufgabe bestenfalls zur Hälfte gelöst, wenn sie einen Automaten hingekriegt haben, der menschliche Arbeit überflüssig macht; sie sollen nämlich nicht Arbeit, sondern deren Kosten verringern helfen, müssen sich also am Verhältnis zwischen dem Preis der Maschine und den gesparten Löhnen orientieren und vielleicht sogar ein bisschen an die Lohngruppen des noch benötigten Bedienungspersonals denken. Erfolgreich im Sinne ihres Auftraggebers war ihr Erfindungsgeist, wenn das Unternehmen die Stückkosten senken, die Konkurrenz auf dem Markt unterbieten, dabei trotzdem einen fetten Schnitt machen und noch dazu Marktanteile erobern kann.

Nützlich machen können Ingenieure sich auch noch an anderer Stelle für den Betrieb. Kostensenkung geht schließlich auch so, dass man sich dabei nach Möglichkeit alle Ausgaben spart, die bloß die Emission von Lärm und Gift etc. betreffen. Nach betriebswirtschaftlicher Logik sind Ausgaben für schonendere Produktionsverfahren nur dann geboten, wenn ergonomisch gebildete Ingenieure oder Arbeitsmediziner den Betrieb davon überzeugen können, dass er damit ein Mehr an Leistung von seinen Leuten erwarten könnte, das die Mehrausgaben locker wett macht.

Außerdem sollen die Ingenieure fürs Unternehmen neue Produkte entwickeln. Die sind dann gelungen, wenn es den Betrieben damit gelungen ist, Kaufkraft auf sich zu lenken. Ob die Menschheit dabei auf Kühlschränke, mit denen man gleichzeitig ins Internet gehen kann, o. ä. gewartet hat oder nicht, sei dahin gestellt; alles ist tauglich, wenn es dazu dient, die Leute dazu zu bringen, das Zeug zu kaufen. Damit das Unternehmen auch kleine und kleinste Geldbeutel für sich öffnen kann, bekommen Ingenieure außerdem den Auftrag, Produkte zu entwickeln, die nach mehr aussehen, als diese Käuferschichten sich gemeinhin leisten können, aber billigst herzustellen sind, mit fließendem Übergang zum Fake. Der Autoingenieur z.B. hat dann das ungemein naturwissenschaftliche Problem zu lösen, „wieviel Auto“ man zu einem gegebenen Preis anbieten kann; unter der Prämisse geht das Konstruieren los und die Suche nach Werkstoffen, die das unerlässliche Minimum an Tauglichkeit zu den billigsten Kosten bieten.

Bei einem Anwendungsgebiet allerdings tritt der Kostengesichtspunkt auch wieder sehr zurück, weil es nur auf die Leistung ankommt, zu denen das Produkt fähig sein soll – und die es in sich haben. Da lautet etwa der Auftrag: Panzer bauen, die kein gutes Ziel bieten und die schärfsten Granaten aushalten; dazu Kanonen und Munition, die das bestgeschützte Ziel auslöschen. Noch mehr Naturerkenntnis und technologische Phantasie steckt in Ingenieurwerken wie Röntgenlasern oder „intelligenten Bomben“, die nicht bloß durch die Luft torkeln, sondern bis ins Ziel „mitdenken“, von der Herausforderung eines Raketenabwehrschirms ganz zu schweigen.

In anderen Zusammenhängen wiederum muss die technische Optimierung gewisser Gerätschaften aus reinen Kostengesichtspunkten in die entgegengesetzte Richtung gehen: Für Elendsgebiete auf dem Globus sind arbeitsintensive Bewässerungsanlagen, Krankenversorgungsmodelle ohne mitteleuropäische Hygienestandards und ähnliches zu entwickeln. Auch das kann dann eine reizvolle technologische Aufgabe sein.

So ist die moderne Welt angefüllt mit Errungenschaften, die ohne den massierten Einsatz von Ingenieurskunst und Sachverstand nie zustande gekommen wären: unsicheren Autos und AKWs, todsicheren Raketen und Giftgasen, potthässlichen Stadtbildern, schmierigen Weltmeeren und perfekt tiefgefrorenen Schweinebergen voller Hormone und Antibiotika. Aus all dem ist dem Berufsstand der Technologen allerdings kein moralischer Vorwurf zu machen, genauso wenig wie den Autofahrern oder Stromkunden, den Soldaten oder den Bauern. Wenn sie stattdessen lieber pauschal für die sinnreichen Plug-in-Hybridmotoren neuester Elektroautos gepriesen werden wollen oder für die Entwicklung nie stinkender Funktionshemden – sei’s drum. Seltsam ist nur eine Eigentümlichkeit ihres Berufsbildes: Immerzu haben sie sich in die Bedürfnisse ihrer Auftraggeber höchst intim und solidarisch hineinzudenken, weil sie nur so das Problem richtig mitkriegen, das sie lösen sollen. Die Beurteilung dieses Problems und des Zwecks, aus dem es sich ergibt, soll aber gar nicht ihre Sache sein – allenfalls ihre Privatsache, die sie mit sich und ihrem Gewissen abmachen mögen, aber nie und nimmer in Form von Kritik mit ihrem Auftraggeber. Kritik dürfen sie an ihrem Auftrag üben, wenn sie sich die Absichten, die da bedient sein wollen, besser klargemacht haben als ihr Auftraggeber selbst, so dass sie dem lösungsbedürftigen Problem eine weniger bornierte Fassung geben können: Tunnel statt Brücke, elektronische Feindabwehr statt dickerer Panzerung usw. Es ist also keineswegs so, dass von den Ingenieuren in ihrem Beruf nicht Eigeninitiative und selbständiges Denken verlangt würde. Gerade im Unterschied zu den Technikern, Facharbeitern oder noch niedrigeren Rängen der industriellen Berufshierarchie kommt es beim Ingenieur ganz wesentlich darauf an, dass er sich die materiellen Anliegen seines Auftraggebers voll zu eigen macht, um den dafür zweckmäßigsten Lösungsweg entdecken zu können. Genau das hat aber gefälligst ohne jede Stellungnahme zu dem theoretisch übernommenen praktischen Standpunkt zu geschehen, also unter Abstraktion von der eigenen Urteilsfähigkeit und erst recht von jedem Interesse, das sich mit dem zu bedienenden Anliegen beißen könnte – und wenn es das eigene wäre. „Dem Inscheniör ist nichts zu schwör!“, lautet das einschlägige Berufsethos – davon, dass ein Problem ihm zu abwegig, zu blöd oder zu menschenfeindlich sein könnte, ist im Berufsbild nichts vermerkt.

Aber ist denn dagegen nicht wenigstens die Sphäre frei von schnöden weltlichen Interessen wo die Naturwissenschaft ganz bei sich ist und

Naturforscher

an bestens ausgestatteten Instituten sich über schwarze Löcher und Quarks hermachen? Schließlich schreibt der Staat, der ihre Forschung hauptsächlich finanziert, ihnen keineswegs vor, wohin ihr Forschungsgeist sich zu wenden hat. In aller Freiheit der Wissenschaft wird sich da daran gemacht, noch die hinterletzten Winkel des Weltalls und die Welt der allerkleinsten Neutrinos auszuleuchten; sogar die Erdgeschichte dürfen sie aufschreiben. Damit entlässt der Staat die Wissenschaft allerdings nicht in die Sphäre des zweckfreien Sich selbst Genügens, das ist vielmehr genau die Weise, wie ihre Unterordnung unter die herrschenden Interessen von Staat und auch Kapital funktioniert: Bei der Erarbeitung von Wissen aller Art über Naturgesetze will und kann er gar nicht mitreden; da soll die Wissenschaft sich selbst überlassen sein und so für die Fortschritte sorgen, zu denen sie imstande ist. Die Entscheidung über ihre Verwendung ist davon aber ganz getrennt; da können sich die Instanzen, die über die Mittel dazu verfügen – Staat und Kapital – dann heraussuchen, was sie für ihre Zwecke für brauchbar erachten und die technologischen und betriebsnahen Forschungsabteilungen mit der Entwicklung entsprechender Technologien beauftragen. Atombomben und Raketenabwehr zeugen von der Produktivität dieser Trennung von Produktion und Verwendung des Wissens.

Was die Unternehmen betrifft, ist diese Trennung auch noch aus einem anderen Grund sehr sachgerecht: Ihnen geht’s ums Geschäft; die Erforschung der Natur ist aber selbst kein Geschäft, auch wenn die technischen Mittel ihres Konkurrenzkampfs auf den Fortschritten der Wissenschaft beruhen. Wie viel sie für Forschung ausgeben, entscheidet sich nach ihren betriebswirtschaftlichen Rechnungen, und in deren Licht hat die Erarbeitung von Wissen einen entscheidenden Mangel, der ausgerechnet an der quasi „kommunistischen“ Eigenschaft des Wissens liegt: Wissen ist – auch wenn in dieser Gesellschaft dafür gesorgt ist, dass nicht jeder Zugang zu Bildung erhält – im Prinzip, von der eigenen Qualität her, allgemein, jedem verfügbar; jeder kann in die Bibliothek gehen oder sich es sich herunterladen. Und sein Gebrauch nutzt es, im Unterschied zu allen sonstigen Gebrauchsgegenständen, nicht ab. Gerade diese schöne Eigenschaft des Wissens macht im Kapitalismus das Ärgernis aus: Da geht’s ja gerade um die Produktion von Eigentum, über das man exklusiv verfügt, und das dadurch zur Reichtumsquelle wird, dass man andere dazu erpressen kann, für den Zugang dazu eine rentierliche Geldsumme hinzulegen. Wissenschaft und Technologie interessieren Kapitalisten nur, wenn sie für sie exklusiv nutzbar sind. Deshalb nimmt der Staat die Produktion von Wissen unter seine Fittiche, befreit die naturwissenschaftliche und technologische Forschung von Kosten-Gewinn-Rechnungen, und sorgt so dafür, dass deren Ergebnisse für den Fortschritt des ganzen nationalen Geschäfts und seiner Gewalt bereitstehen.

Dem Staat sind Naturwissenschaftler noch in ganz anderer, direkter Weise zu Diensten, nämlich als Orakel. Der Staat will alles Mögliche in und außerhalb seiner Gesellschaft vorhersehen und Zukünftiges einschätzen können, nicht nur das nächste Erdbeben, sondern insbesondere die voraussichtlichen Wirkungen, welche die rücksichtslose markt- und gewinnorientierten Produktionsweise auf Land und Leute als Quelle auch zukünftigen Wachstums und staatlicher Macht hat. Da lassen sich gestandene Naturwissenschaftler zu Prognosen herbei, auch in Angelegenheiten, die sich redlich gar nicht prognostizieren lassen, weil da viele Sachen mit reinspielen, die man gar nicht wissen kann, insbesondere wenn es sich um künftige Entscheidungen der vielen „Marktteilnehmer“ handelt. Das Wissen um Naturgesetze ist eben etwas anderes als eine Prognose, wie die Welt in 30 Jahren aussieht. So kommt es auch bei Naturwissenschaftlern zu einem beachtlichen Pluralismus an Meinungen; und zu einer Öffentlichkeit, die sich daran gewöhnt hat und skeptisch-abgeklärt meint, so ginge Wissenschaft halt.

Auch als politische Ratgeber sind Naturwissenschaftler gefragt, wenn es darum geht festzulegen, welches Maß an Gift, Strahlung etc. den Leuten in und außerhalb der Betriebe zugemutet werden soll, weil den Betrieben auf keinen Fall zugemutet werden „kann“, die Kosten für die Vermeidung der schädlichen Emissionen zu tragen. Um Land und Leute dennoch brauchbar zu halten für nachhaltige kapitalistische Nutzung gilt es z.B., MAK-Werte auszurechnen: für jedes bei lohnender Industrieproduktion anfallende Gift diejenige Menge in der Betriebsatmosphäre, bei der die staatliche Aufsichtsbehörde sich über die Volksgesundheit keine größeren Sorgen zu machen braucht, weil sie mit bestem Gewissen die „Prognose“ vertreten kann, dass „ein Guter es aushält“, oder zumindest der statistisch einwandfrei konstruierte Durchschnittsmensch. Aus der Statistik der Krebsraten bei unterschiedlichen Arten und Graden ionisierender Bestrahlung der Menschheit sollen Experten ermitteln – und sie tun es ohne Wimperzucken –, bei welcher Dosis ihnen eine Korrelation nicht mehr signifikant vorkommt, so dass die allgemeine Einsicht „Keine Dosis ist unschädlich“ sich mit einer akzeptablen Becquerel-Zahl pro Kubikmeter Atemluft, Quadratmeter Liegewiese und Kilo Haselnussnougat vertragen lernt. Spätestens hier wird die Wissenschaft korrupt – nicht erst wenn sie sich dabei (was sie selbstredend auch tut) nach dem jeweiligen nationalen Fähnchen richtet (so dass in Deutschland z.B. ein Vielfaches an atomarer Strahlung sein wissenschaftliches Unbedenklichkeitsgütesiegel bekommt im Vergleich zu Japan), sondern schon indem sie sich überhaupt zur Empfehlung solcher Grenzwerte für bekannt schädliche Substanzen herbeilässt.

Man soll aber nicht sagen, Naturwissenschaft hätte nur was für Staat und Kapital zu bieten. Zur Unterhaltung und Erbauung des Volks haben etliche Naturwissenschaftler zu guter Letzt auch noch ihr Scherflein beizutragen. Da lassen gestandene Wissenschaftler in kindischster Manier und mit gestenreicher Mimik das „Abenteuer Forschung“ miterleben, wobei die Unterhaltung die Erklärung weitgehend ersetzt – dass dem Publikum die Voraussetzungen dafür fehlen, die Fortschritte der Wissenschaft nachzuvollziehen, davon kann man ja getrost ausgehen. Viel schöner ist da doch das Aaah und Oooh, das verzückte Staunen über soo viel Informationen auf soo einem kleinem Chromosom; über die überaus intelligenten „Überlebensstrategien“ mancher Spezies – als ob die Subjekte wären; über die ganzen „Wunder der Natur“ – als ob das deren Eigenschaft wäre, dass wir uns über sie wundern. Aufklärer haben vor ein paar Jahrhunderten noch darauf beharrt, dass Wissenschaft dazu da wäre, das Staunen und Wundern durch Wissen zu ersetzen. Verstehen kann das ungebildete Publikum dagegen sicher die moralischen Botschaften, die mitverschickt werden: vom kleinen Stäubchen, das der Mensch im riesigen Weltall nur darstellt oder vom großen Verantwortungsträger für diese wunderbare Schöpfung, der auch der Unbedeutendste von uns ist. Das Wort zum Sonntag kommt eben heute wochentags auf arte, 3sat und Co. zu scheinbar wissenschaftlicher Ehre.

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