Ein Lehrstück in Sachen Demonstrationsrecht
Da trafen sich die mächtigsten Staatsführer der Welt im Hochsicherheitstrakt von Heiligendamm, um ihre Konkurrenzhändel im Geiste der Zusammenarbeit auszutragen und ihre Verantwortung für die Welt zu demonstrieren, und einige Tausend Menschen nahmen sich glatt heraus, Protestdemonstrationen anzumelden, um den Mächtigen ins Gewissen zu demonstrieren, oder sie gar zu delegitimieren. Daraus machte die deutsche Politik ihrerseits eine durchschlagende Demonstration in Sachen reibungsloser Ablauf ihrer Veranstaltung samt dazugehöriger Erledigung des Protestes.
Schon im Vorfeld des Gipfels wurde die Stimmung kräftig angeheizt: Mit dem Terrorismusverdacht stellte man die Demo-Organisatoren unter den denkbar höchsten Straftatverdacht. Immer wieder wurde vor Chaoten gewarnt, Wohnungen wurden durchsucht, Schnüffelproben von potenziellen Gewalttätern gesammelt und Post ausgespäht, scharfe Grenzkontrollen wurden durchgeführt und international koordiniert. Sogar dem Münchner Polizeipsychologen Georg Sieber fiel auf, wie martialisch sich die Staatsgewalt des Protestes annahm:
„Eine Eskalation bestand ja bereits, lange bevor das richtig anfing dort in Rostock. Was jeder sehen konnte, dass Polizeibeamte doch in sehr ungewöhnlicher Ausrüstung antraten, die konnte man glatt mit Marines im Irak verwechseln auf den ersten Blick“. (Sieber in dradio.de)
So wurde der Protest nicht nur theoretisch, sondern dann auch sehr praktisch der Gewaltfrage untergeordnet – natürlich nur, „um die Demonstrationsfreiheit zu schützen“.
Das Recht zu demonstrieren …
hat alles einschlägig geregelt. Dank der grundgesetzlichen Erlaubnis, sich „friedlich und ohne Waffen“, mit ausdrücklicher Erlaubnis der Behörden und unter polizeilicher Aufsicht zu versammeln, ist die öffentliche Kundgabe des politischen Willens nicht
selbstverständlich. Auch wenn Bürger sich gar nicht mit Waffen, sondern mit Transparenten versammeln wollen, stellt die Demokratie das grundsätzlich unter den Verdacht, sie könnten ihre Einsprüche gegen die Politik womöglich selbst praktisch umsetzen wollen und den Übergang vom Spazierentragen ihrer Meinung zum Aufruhr im Sinn haben. Dem setzt sie ihre Gewalt entgegen. Ihren Bürgern gesteht sie, außer Wählen, Zeitung lesen, Stammtischdebatten oder Parteimitgliedschaft, das gemeinschaftliche Vorzeigen einer Meinung zu, als garantiert unmaßgebliche und – v. a. – ohne alle praktische Konsequenz.
Wer demonstriert, erreicht damit bestenfalls eine Meldung in der Öffentlichkeit und berechnende politische Anerkennung oder Zurückweisung – je nachdem, ob sein Anliegen in die Absichten der Verantwortlichen und die zugehörigen Interpretationen der Pressemacher einzuordnen ist, oder diesen zuwiderläuft.
Politiker lassen sich in ihren Vorhaben durch die freie Meinungsäußerung nicht beirren. Das Recht garantiert vielmehr die Folgenlosigkeit demonstrativ vorgetragener Einwendungen. Mit der Wahl sind demokratische Politiker nämlich zur Ausübung der Herrschaft über das Volk ermächtigt und mit dem Gewaltmonopol versehen. Sie exekutieren die Staatsnotwendigkeiten und sind darin nur ihrem Gewissen, also der
Staatsräson, verpflichtet. Sich beim Regieren vom Protest der Regierten gegen die ihnen aufgehalsten Unannehmlichkeiten beeinflussen zu lassen, wäre ein Verstoß gegen das demokratische Prinzip, die Politik nicht partikularen Interessen unterzuordnen. Den lassen sich demokratische Machthaber nicht zuschulden kommen. Wo auch nur der Anschein wirklicher oder exemplarischer Behinderung staatlicher Unternehmungen aufkommt, gilt das als „Nötigung“ von Verfassungs- und anderen Organen – mit entsprechenden Folgen. Dem Druck der Straße gibt ein verantwortungsvoller Politiker nicht nach, sondern Zunder.
Und die Meinungsmacher von der „vierten Gewalt“, von der engagierte Demokraten sich irgendwie Druck auf die Politik versprechen, bestimmen in Abhängigkeit von der Anzahl der Teilnehmer und der Art der Meinungsbekundung, vor allem aber von deren Anliegen, ob und wie sie überhaupt von ihr berichten.
So ist das in einer lebendigen Demokratie: Beim Entscheiden hat der Bürger nichts zu bestellen. Wo er gefragt ist, darf er den vorgeschlagenen Politfiguren sein Wahlkreuz schenken, und wenn er sich ungefragt zu Wort melden will, muss er durch massenhaftes Herumlatschen um öffentliche Aufmerksamkeit für seine werte Meinung nachsuchen. Daran ändert sich auch nichts, wenn Demonstranten ihrer Unzufriedenheit durch spektakuläre Aktionen oder symbolischen Widerstand und Auseinandersetzungen mit der Polizei Nachdruck verleihen wollen. Auch davon lassen sich regierende und meinungsbildende Kreise nie und nimmer beeindrucken. Die Form eines solchen öffentlichen Auftritts kritischer Menschen geht dann in Ordnung, wenn es sich um einen Appell an die Politik oder die Unterstützung ihrer Ziele handelt. Andernfalls gehört sie sich einfach nicht.
… stellt den Protest unter die Gewaltfrage
In Heiligendamm wurde mit dem Demonstrationsrecht samt Vermummungsverbot richtig ernst gemacht. Eine Sonnenbrille samt Halstuch reichte der Polizei schon als Beweis für ein Vergehen, gegen das „im geschlossenen Einsatzverband“ vorgegangen wurde. Parallel dazu betonten die Politiker, die Kanzlerin vorneweg, wie wichtig ihnen der Protest sei. „Wir nehmen den Protest sehr ernst“, verkündete Frau Merkel und meinte damit nicht das draußen stattfindende Niedermachen von Demonstranten, sondern die politische Würdigung dessen, was Politiker für anständiges Protestieren halten wollen. Wer die Politik der G 8-Staaten als Bemühung um die Lösung der Weltprobleme betrachtet, von den Mächtigen entschlossenes Handeln fordert und an sie appelliert, sie sollen ihre Beschlüsse doch bitte konsequenter durchsetzen, der liegt nach Ansicht der Mächtigen richtig. „Wir alle“ – zumindest „wir Deutsche“, hinsichtlich der Amerikaner sind Zweifel erlaubt und erwünscht – bemühen uns um die Rettung der Welt; so sollen gerade auch diejenigen, die die verheerenden Folgen der Weltpolitik der Gipfelteilnehmer kritisieren die Lage begreifen. Dafür kriegt der „ernst zu nehmende Teil“ des Protests Anerkennung. Dass Politiker sich hier einen Protestinhalt zurechtfingieren ist leicht erkenntlich, denn eines fehlt an dieser Deutung allemal, auch wenn ATTACler und andere sich dieser Anforderung schon ziemlich angenähert haben, nämlich der Protest!
Auch der bravste Demonstrant hegt einen Zweifel an der richtigen Wahrnehmung der Verantwortung durch die Mächtigen. Und deshalb gerät selbst der harmloseste Protest schnell unter Verdacht, weil die Politik auf der Gleichung besteht, Macht und Verantwortung fielen in eins. Die andere Seite der Deutung des Protestes durch die Politiker ist deshalb der Anspruch an die Demonstranten, mit welcher Sorte Kritik man heutzutage allenfalls noch auf die Straße zu gehen hat. Wer mit dem Ruch der Gegnerschaft zur Politik der Staatslenker dieser inzwischen weltweit mit Demokratie und Marktwirtschaft gesegneten Welt demonstriert, begeht eine zu bekämpfende Ungehörigkeit.
Obwohl Fachmann Sieber die Polizeiaktionen beim G 8-Gipfel als „einsatztechnische Dummheit“ kritisiert, hat er doch eine offenherzige Ahnung, worum es dabei geht:
„In Rostock ging es dem Bundesminister des Inneren vor allem darum, die ‚Deutungshoheit‘ über den G 8-Gipfel gegen ATTAC und andere zu verteidigen. Dazu hatte man die Teilnehmer bereits im Vorfeld unter Generalverdacht gestellt und als zumindest unterwandert von gewaltbereiten Gruppen dargestellt. Und so wurde die Demonstration dann auch begleitet. Die Bilder aus Rostock liefern Anschauungsunterricht, wie so etwas zu machen ist.
Frage: Also kein Versagen, sondern Kalkül? (Interviewer junge Welt.)
Weder noch. Die multimedial angekündigte angebliche Gefahrenlage war ja vom normalen TV-Zuschauer und Zeitungsleser in den Rostocker Ereignissen klar wiederzuerkennen. Die Rostocker Veranstalter und Teilnehmer stehen heute de facto in der unmittelbaren Nähe von Schlägern und Chaoten. Sie haben an Glaubwürdigkeit ganz erheblich eingebüßt. Damit wurde der Anspruch auf die Deutungshoheit sehr erfolgreich verteidigt. Der dramatische Zaun um Heiligendamm, die Warnungen vor Chaoten, die bundesweiten Razzien Anfang Mai, die Schnüffelproben, die Kontrollen – all das erscheint nun gerechtfertigt. Das war vielleicht nicht das Kalkül, aber ganz sicher auch kein Versagen.“(Sieber in: „junge Welt“ vom 6.6.07)
Wenn man im Vorfeld der Demonstrationen alles am Protest, was die Gegnerschaft zur Politik nicht aufgibt, kriminalisiert, dann kommt es darauf an, in der Durchführung der Veranstaltung „die Deutungshoheit“ zu behalten. Das geht einfach dadurch, dass die polizeiliche Behandlung der Demonstration die Sache ins richtige Bild setzt: statt politischer Anliegen Chaos und Gewalt, statt friedlicher Demonstranten, die brav ihre Bitten an die Politik abliefern, gewalttätige Verbrecher. Diese „Deutung“ wurde von den Medien kapiert und kolportiert: Der Protest, so berichten sie, sei ein einziger Kampf der Polizei gegen Gewalttäter, und das sei doch schließlich der schlagende Beweis, dass er alle staatlichen Gewaltmaßnahmen, die ihm zuteil werden auch verdient habe.
Ganz nebenbei wurde dafür auch noch das Lieblingsprojekt der Fanatiker für „innere Sicherheit“ praktisch eingeführt: der Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Das Thema ist noch ein wenig umstritten, schließlich haben die „Väter des Grundgesetzes“ in berechnender Abgrenzung zum Vorgänger-Staat den Einsatz des Militärs für den Verteidigungsfall reserviert. Aber schon seit einiger Zeit sind deutsche Innenpolitiker der Meinung, dass der nicht nur am Hindukusch, sondern auch mal im Inland für fällig erachtet werden kann. So durften sich Demonstranten der Beobachtung durch Bundeswehrspürpanzer und der Drangsalierung durch Tornado-Kampfflugzeuge im Tiefstflug erfreuen. Alles natürlich nicht grundgesetzwidrig, sondern streng rechtsstaatlich „im Rahmen der Amtshilfe“.
…und verpflichtet ihn zur Demonstration der Untertänigkeit
Der Einsatz der Staatsgewalt wird so zu einem Lehrstück für die Demonstranten ausgestaltet, in dem sie mit Bravheit zu beweisen haben, ob ihr Anliegen etwas taugt oder nicht. Wenn Sieber sich zur Polizeitaktik äußert, will er zwar nicht sagen, dass deshalb Krawalle provoziert wurden, aber:
„Man müsste sagen: vorbereitet. Im Einsatzbefehl hieß das wahrscheinlich: Kräfte zeigen. Die Demonstranten wurden von dem gedrängten Polizeiaufgebot in Kampfmontur nicht nur psychisch eingeengt. Würde man etwa eine Fronleichnamsprozession in der gleichen Weise begleiten, käme es ganz sicher zu den gleichen Widerständen, Spannungen und Reibungen.“(Sieber in: „junge Welt“)
Diese „Taktik“ wirkt einerseits einschüchternd, andererseits beleidigt sie das Rechtsbewusstsein manch eines Teilnehmer und sorgt für Empörung. Richtig herausgefordert sehen sich jetzt diejenigen, die ihrerseits die Gelegenheit benützen wollen, es der Polizei einmal zu zeigen. Also geht die Veranstaltung nicht ohne Verletzte ab, was schließlich von beiden Seiten beabsichtigt ist. Die Klarstellungen in Sachen, wer demonstriert hier was und wem, gehen jetzt ihren Gang:
Erstens ist die öffentliche Besprechung des Protests jetzt da, wo sie für die Hüter der Staatsräson hingehört: Es findet eine lebhafte Debatte statt unter der Vorgabe: „So etwas darf nicht passieren!“ Deren Leistung besteht darin, sich ausschließlich mit Art und Ausmaß der Gewalt zu beschäftigen, wobei natürlich auf die notwendigen Unterscheidungen geachtet wird: Der Polizei werden „Übergriffe“ und „überflüssige Provokationen“ vorgehalten, verbunden mit viel Verständnis für die „überforderten“ Freunde und Helfer, um auf die Frage zuzusteuern: „Wie ist noch gewaltfreies Demonstrieren möglich?“ Die Antwort, die da lautet: ‚Indem wir den Demonstranten in ihrem eigenen Interesse heimleuchten!‘, kommt zustande mit dem Hinweis, dass dies rechtlich geboten sei. Die Republik unterhält sich über Fragen der Polizeitaktik und des Demonstrationsrechts, und zwar nach Maßgabe der reichlich anspruchsvollen Forderung, dass „Gewalttätigkeiten“ mit aller Gewalt und so viel Erfolg unterbunden werden müssen, dass sie erst gar nicht zustande kommen.
Zweitens bekommt damit der friedliche Protestler Gelegenheit, zu beweisen, dass er wirklich kein Gegner sondern ein tätiger Freund und Helfer der Staatsgewalt ist. Da hat nicht nur der Inhalt seines Einspruchs gegen die Politik, den er mit der Demo einlegen will, sein grundsätzliches Ja zu den besten Absichten der Staatsgewalt zu zeigen; es genügt auch nicht, dass er selbst für dieses Anliegen friedlich demonstriert. Entscheidend ist, wie er sich zu den „Verbrechern“ stellt, die immer dabei sind. Das Anliegen ist nämlich desavouiert, „wenn Gewaltbereite sich hinter Friedlichen verstecken können“ und Demonstranten dazu sagen „dass wir unseren Protest nicht spalten lassen“. (Der bayerische Innenminister Beckstein bei Christiansen, 10.6.07.)
Der Protest hat nämlich „die Bringschuld, für einen friedlichen Ablauf zu sorgen„. (Beckstein ebenda.) Auf den Einwurf, „die große Mehrheit hat doch friedlich demonstriert“, fällt diesem professionellen Schützer des Demonstrationsrechts ein:
„Wenn die große Mehrheit in keiner Weise eine Anzeige macht, wenn über 400 Leute verletzt werden und es gibt keine einzige Anzeige: ‚Ich habe gesehen oder bin bereit, Zeuge zu machen gegen jemanden, der aus meiner Nachbarschaft unbedingt Steine geworfen hat‘, mit dem er vielleicht im Camp nachts übernachtet hat…“ (Beckstein ebenda – das Gestammel ist O-Ton und nicht etwa böswillig verzerrt)
… dann ist der gesamte Protest nicht zulässig.
Das also verlangt man heute von Leuten, denen die Demonstrationsfreiheit zugestanden wird: Als willige Denunzianten haben sie vor Ort zu zeigen, dass sie selbst beim Protestieren praktisch nur das Anliegen der Staatsgewalt bedienen. Dafür wird den Demonstranten mit weitreichenden Übergängen die Gewaltfrage staatlicherseits gestellt und beantwortet: Die Staatsgewalt spaltet dann selbst den Protest, indem sie die einen kriminalisiert und die anderen dazu nötigt, den Generalverdacht zu entkräften, dass sie mit ihrem Protest die Alleinzuständigkeit der Politik in Frage stellen wollen. Lippenbekenntnisse genügen der dafür nicht. Sie müssen schon gegen jeden in den eigenen Reihen, der Anlass für diesen Verdacht gibt, selbst vorgehen. Selbst beim Protest gegen die Obrigkeit soll vor allem eines demonstriert werden: der unbedingte Respekt vor ihr!