Das deutsche Sozialsystem ist krank. Mit dieser Diagnose trat das Studium generale im Wintersemester an und lud allerhand mehr oder weniger Prominente zum Vortrag über den rechten „Weg zur Gesundung“. Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker verbreitete sich über „Heilungschancen für das Gesundheitssystem“.
Der von ihm erhobene pathologische Befund des Sozialsystems im allgemeinen und des Gesundheitssystems im Besonderen lautet folgendermaßen: „Derzeit wird unser Sozialsystem finanziert durch Steuern und steuerähnliche Abgaben, d. h., es werden Abgaben erhoben deren Höhe nicht von der dafür erhaltenen Leistung sondern von der Höhe des zu Grunde liegenden Einkommen. abhängt. Wichtig dabei ist, dass niemand gerne Steuern bezahlt. … Eine Erhöhung der Abgabenquote führt deshalb zu Leistungsverweigerung oder Ausweichreaktionen wie Schwarzarbeit, Verstecken der Ersparnisse, Auswanderung bzw. Nichteinwanderung von Leistungseliten. … Wir arbeiten für Einkommen, und wenn dafür immer mehr weggesteuert wird, tun wir es nicht. Das Sozialprodukt geht also zurück in dem Maße wie die Abgabenquote steigt. Deshalb ist dies nicht sinnvoll sondern schädlich.“
Sehen wir einmal davon ab, dass die „Leistungsträger“, die Sozialabgaben leisten, als in der Regel „abhängig beschäftigte“ Arbeiter und Angestellte gar nicht entscheiden können , wie viel Leistung sie gerne erbringen würden. Sie haben ihre Arbeitskraft an einen Arbeitgeber verkauft und zu leisten, was an ihrem Arbeitsplatz verlangt wird. Wenn sie „schwarz“ arbeiten, dann nicht an Stelle der abgabenpflichtigen Lohnarbeit, sondern daneben am Wochenende und Feierabend. Und wenn sie Arbeitslosengeld durch schwarz bezahlte Hilfsdienste aufbessern, dann ist das kein frei gewähltes Steuersparmodell, sondern setzt voraus, dass sie einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz verloren oder nie einen gefunden haben. Unfreiwillig in aller Regel! Sehen wir also davon einmal ab, weil wir wissen, dass ein Professor der Nationalökonomie nicht so kleinlich realitätsnah, sondern mehr im großen Wurf denkt, dann bleibt die obige Diagnose doch immanent widersprüchlich. Zieht man jemandem, der ein Einkommen erzielen will, damit er davon leben kann, viel von diesem Einkommen ab, dann müsste er schließlich mehr „Leistung erbringen“, um mehr Einkommen zu erzielen, damit der verbliebene Rest noch zu Leben reicht. Kann umgekehrt jemand aus Ärger über die Höhe des abzugebenden Einkommensanteils aufhören zu arbeiten, dann lebt er offensichtlich nicht davon, sondern von Vermögen, das er schon hat, und von dessen Erträgen. Die Erträge erzielt das Vermögen natürlich nicht von alleine, sondern dadurch dass es direkt oder als Kredit irgendwo investiert ist, wo andere, nämlich die oben genannten Arbeiter und Angestellten, für seine Vermehrung arbeiten. Aber das wird nun schon wieder zu realitätsnah. Unterschiede zwischen „uns“ leistenden Wirtschaftsbürgern macht v. Weizsäcker allenfalls hinsichtlich der Einkommenshöhe – da haben manche mehr als andere – ,um sie in seinem Therapievorschlag für das Gesundheitssystem gleich wieder für hinfällig zu erklären. Sein Heilmittel für diesen sozialstaatlichen Sektor lautet „Gesundheitsprämie“. Das klingt zwar so, als würde man fürs Gesundbleiben Geld kriegen, bedeutet aber, dass man für die Krankenversorgung Abgaben zu leisten hat, und zwar jeder, unabhängig von der Einkommenshöhe, gleich viel. An 200 € pro Kopf ist da etwa gedacht, spätere Erhöhung nicht ausgeschlossen.
Das hat, wenn man dem Herrn Professor glauben will, nichts als Vorteile:
„Die Gesundheitsprämie hat in ihrem Kern Versicherungscharakter. Der Einzelne zahlt eine von der Leistungszusage bestimmte Versicherungsprämie …. Es handelt sich also um eine Leistung für eine äquivalente Gegenleistung.“
Das ist, nach Ansicht eines Volkswirtschaftlers, schon deswegen gut und nicht schlecht, weil es ja sonst in dieser besten aller Wirtschaftsweisen überall genauso ist. Jedes Ding hat seinen Preis, und der hängt nicht vom Bedarf und schon gar nicht von der Zahlungsfähigkeit der Bedürftigen ab, sondern von der Gewinnkalkulation des Herstellers. (Es falle bloß keiner auf den Quatsch mit der Preisregulation durch Angebot und Nachfrage herein: Da wo die Leute wirklich gar kein Geld haben, sagen wir mal Uganda oder Bangladesh, gibt es nicht etwa alles spottbillig, sondern das meiste gar nicht. Lohnt sich nicht, da etwas zu verkaufen!) Wer sich die Dinge leisten kann, der kriegt sie, und wer nicht genug Geld dafür hat, eben nicht. Soviel Freiheit steht in der Marktwirtschaft jedem zu. Im Gesundheitssystem befürwortet Herr v. Weizsäcker allerdings die Einschränkung dieser Freiheit. Er weiß nämlich sehr genau, dass das freie Spiel von Angebot und Nachfrage dazu führen würde, dass viel zu viele Marktteilnehmer diese Versicherung nicht nachfragen würden, weil sie sich die Prämie nicht leisten können. Im Krankheitsfall wären sie dann ohne medizinische Versorgung und das gilt in deutschen Landen – noch – als schlecht für ein standorttaugliches Niveau der Volksgesundheit. Staatlicher Zwang muss also her!
„Wir(?) können es den Leuten nicht überlassen, ob sie sich freiwillig versichern wollen. Wenn sie es nicht tun, wäre wieder der Staat zuständig. Es muss also eine Pflichtversicherung sein. Wer die Prämie nicht aufbringen kann, erhält eine Beihilfe vom Staat aus Steuermitteln.“
Für den ärmeren Teil Bevölkerung sinkt die „Abgabenquote“ nämlich keineswegs, wenn ihnen (und dem bisher beitragsfrei mitversicherten Ehepartner ebenfalls) eine Kopfprämie abverlangt wird. Für Niedriglöhner und sonstige Geringverdiener ist das ein ganz netter Batzen, der vom Einkommen abgeht , und das Zurechtkommen mit dem kläglichen Rest gestaltet sich schwierig. Der jahrzehntelang gepriesene Sozialstaat, von dessen Gängelung deutschen Bürger jetzt zunehmend befreit werden, hat zur Grundlage, dass es hierzulande jede Menge Arbeitnehmer und aus der Arbeitswelt Ausgemusterte gibt, die sich ganz normale Lebensregungen – wohnen, Kinder großziehen, Schulbesuch, Krankenhausaufenthalt …- nur mit staatlicher Unterstützung leisten können. Vom erzielten Einkommen lassen sich nicht alle Lebensnotwendigkeiten finanzieren. Der deutsche Staat gewährt dafür finanzielle Zuschüsse, weil er seine Bevölkerung als reale und potentielle Arbeitskräfte für Investoren am Standort Deutschland bereit halten will. Und die Befreiung der abgabengeknechteten AOK-Mitglieder durch eine einkommensunabhängige Zwangsabgabe wird solch staatlichen Zuschuss nötig machen. Das gilt den Erfindern und Propagandisten dieses Modells einerseits als Inbegriff „sozialer Gerechtigkeit“, weil der Zuschuss aus Steuermitteln erfolgt und Reiche mehr Steuern zahlen als Arme, was den Zuschuss zu einer „Umverteilung von Reichtum“ macht. Andererseits stehen sie damit sofort vor dem nächsten Problem. Die Zuschüsse dürfen nicht zu hoch ausfallen, am Ende machen – siehe oben – die „Leistungse- liten“ ihre Gewinne sonst anderswo. Da greift man besser den Leuten in die Tasche, die an knappen Lebensunterhalt gewöhnt sind und ihre Einkommensquelle mangels Reisegeld nicht verlagern können. Wenn man etwas nachhilft machen Kleinverdiener auch einen ganz netten Haufen Steuermist, und mit diesen schönen Steuereinnahmen lässt sich allemal Wichtigeres zu erledigen, als das Arbeitsvolk heilzubehandeln. Da dessen Einkommen nicht wachsen, sondern, weil Kostenfaktor für Unternehmer, sinken soll, müssen die Leistungen, die der Kopfpauschale „äquivalent“ sind begrenzt werden. Eine „Grundversorgung“ kriegt man für die „Gesundheits“prämie, und alles was die Gesundheit sonst noch so ausmacht ist als „Extra“ zu bezahlen oder zu versichern. Wie das aussieht, zeigt ein Blick in die Schweiz, die Prof. Dr. v. Weizsäcker als leuchtendes Bespiel eines „gesunden“ Gesundheitssystems pries.
„In der Schweiz wurde bereits vor acht Jahre das … Kopfpauschalen-Modell mit Kassenbeiträgen unabhängig vom Einkommen eingeführt. … die Schweizer zahlen umgerechnet 230 Euro. … Hinzu kommen hohe Selbstbeteiligungen von mindestens 1000 Franken pro Jahr. … Alle Schweizer Bürger müssen in die Basisversicherung einbezahlen. Wer bessere Leistungen wünscht ( z. B. Zahnersatz oder medizinische Behandlung von Unfallfolgen) kann private Zusatzleistungen versichern.“ (DZW, Die Zahnarztwoche, 3/05)
„In der Schweiz können immer mehr Menschen ihre Prämie für die Krankenversicherung nicht mehr zahlen. Jeder Bürger muss eine obligatorische Grundversicherung abschließen. Die Kosten dafür sind in den vergangenen drei Jahren stark gestiegen.“ (www.klinikheute.de)
„Man sieht: Das Prämiensystem ist in seiner Leistung, die Menschen gesund zu halten recht erfolgreich“ ( Prof. Dr. von Weizsäcker)
Gesundheit muss man sich halt leisten können.