H2>Die Moral in der Menschennatur
Das Gleisarbeiter-Dilemma
„Szenario 1: Ein Schienenwagen rast führerlos auf eine Gruppe von fünf Gleisbauarbeitern zu. Die Männer wären zu retten, stellte man eine Weiche um. Aber nur zum Preis eines anderen Lebens, denn auf dem anderen Gleis steht auch ein Gleisarbeiter. Nur ein einziger allerdings. Der Geister-Trolley wird ihn überfahren. Würden Sie die Weiche umstellen?“
„Szenario 2: Würden sie denn auch eigenhändig einen Mann von einer Brücke auf den Bahndamm schubsen, einen, dessen Körper groß und schwer genug ist, den Schienenwagen zu stoppen? Auch in diesem Fall wären die fünf Arbeiter gerettet.“
Die Probanden sollen so vor ein Problem gestellt werden, das aber eigentlich gar keines ist, weil seitens der Fall-Konstrukteure Fragen gestellt werden, deren Beantwortung durch die vorgestellte Konstruktion schon vorgegeben ist:
Zum ersten steht die Entscheidung beide Male unter der Voraussetzung, dass die Sache so oder so für jemanden tödlich ausgeht – die Katastrophe gehört zum nicht disputablen Rahmen der Entscheidung. Der Ausweg, sie gar nicht erst stattfinden zu lassen, kommt nicht in Betracht. Unter dieser Voraussetzung ist zum zweiten die Abwägung zwischen Rettung und Opfer von Menschenleben anzustellen. Informationen darüber, wer sich auf den Gleisen oder der Brücke tummelt – Freund oder Feind, der Herzallerliebste oder völlig Fremde, die Bundeskanzlerin oder die eigene Mutter – gehören explizit nicht zur Versuchsanordnung. Die ganze Konstruktion bewegt sich auf der abstrakten Ebene von Mensch. Da jeglicher Bezug auf die Interessen und Gefühle der Befragten fehlt, wird der von ihnen verlangten Abwägung nur ein einziger Unterscheidungsgrund an der Sache geboten: die Differenz der Anzahl der Opfer. Wenn man sich unter diesen Bedingungen entscheiden muss, steht der Inhalt der Entscheidung fest: fünf Tote sind schlimmer als einer. Insofern verlangt die Versuchsanordnung nichts als eine schlichte Kopfrechnung. Das gilt für beide Szenarien gleichermaßen.
So einfach wollen die Konstrukteure der Szenarien das aber nicht sehen. Schließlich soll ein „moralisches Dilemma“ vorstellig gemacht werden, und das ergibt sich nur dann, wenn die von der Fragestellung verlangte Entscheidung, wie viele Menschenleben man zu retten bereit sei, an einem Gedanken gemessen wird, der damit eigentlich gar nichts zu tun hat: Das Leben eines Menschen ist als absoluter Wert zu würdigen, der quantitativ nicht relativiert werden kann. Das in Szene gesetzte moralische Dilemma besteht dann darin, dass der Erhalt ebendieses Wertes sein Opfer notwendig macht. Derselbe absolute Wert schließt die quantitative Abwägung ebenso aus, wie er sie fordert.
Dass dennoch Szenario 2 für die Moralforschung nicht überflüssig ist, zeigt sich, wenn es an die Auswertung der Interviews geht. Von „normalen“ Befragten, so vermeldet die Wissenschaft und mit ihr der Spiegel, stellen 80 % die Weiche um, aber nur 15 % würden Hand an den dicken Mann legen. Das soll zeigen: ist die Situation „abstrakt“ setzt sich der Mensch über seine moralischen Skrupel zugunsten der „Kalkulation“ 1 gegen 5 mehrheitlich hinweg. Das in diesem Sinne Prekäre der Entscheidung zu bebildern, ist die Absicht von Szenario 2. Die Art und Weise des Tötens, dass also das entscheidende Subjekt dem notwendigen Opfer direkt zu Leibe rücken muss, soll die moralische Problematik der Abwägung vor Augen führen. Und dass die Mehrzahl der mit Szenario 2 Konfrontierten zögert, dies zu tun, dient als Beweis ihres gesunden Wertempfindens, auch wenn damit erst mal nur „bewiesen“ ist, dass es den meisten Menschen leichter fällt, einen anderen per Knopfdruck zum Tode zu befördern, als durch eigener Hände Arbeit.
Und nun? Ein Sieg der Moral? Vielleicht – bloß was für einer? Im Sinne des oben dargelegten Dilemmas kann der Proband bei der ihm abverlangten Entscheidung nichts richtig machen, weil er den Wert ja in jedem Fall verletzen muss. Haben sie jetzt, wegen des absoluten Wertes Leben, in Szenario 2 nicht getötet – oder haben sie gerade wegen dieses Wertes anstatt einem gleich 5 getötet? Gruselig? Die Interpretation im Spiegel sieht das anders. Der Mensch bringt nicht leichtfertig einen anderen um. Und wenn er das in einer als unabänderlich vorgestellten Zwangslage, doch tut, dann hat er solche Skrupel, dass er lieber fünf auf Distanz anstatt einen persönlich umbringt. Und das soll die Moral doch glatt als etwas Feines legitimieren!
Die Hirnpatienten
Neurowissenschaftler haben sich nun die spannende Frage gestellt, ob ein derart moralisches Wertempfinden in dem Sinne „gesund“ ist, dass es einem gesunden Menschen naturgemäß innewohnt. Um das herauszufinden, haben sie das Gleisarbeiter-Dilemma einer Vergleichsgruppe vorgelegt, zusammengesetzt aus Menschen, die eine Hirnschädigung erlitten haben. Einer von ihnen, Elliott, wird exemplarisch vorgestellt. Elliott hat durch einen Tumor und die nachfolgende Operation Hirnareale verloren und wird seitdem als „gefühlsblind“ eingestuft: Intellekt und Gedächtnis seien, so die Beschreibung, vollkommen intakt, das Gefühl jedoch, insbesondere das für „Empfindungen der Mitmenschen“, sei verloren gegangen.
„Die jüngst im Fachblatt ‚Nature‘ vorgestellten Ergebnisse lassen den Normalsterblichen gruseln: Elliott und die anderen würden nicht zögern, den dicken Mann eigenhändig vor den Zug zu stoßen. […] Elliott und die anderen Hirnpatienten sahen nur den guten Zweck – nicht aber das schreckliche Mittel.“
Nun hat Elliott sich das „schreckliche Mittel“ ja wirklich nicht selber ausgesucht. Es gehört als einzige Möglichkeit, Menschen zu retten, zum Versuchsaufbau. Und ob er seine Schrecklichkeit gesehen hat oder nicht, lässt sich dem Umstand, dass er es eingesetzt hat, nicht entnehmen, schließlich war es ja das einzige Mittel, das ihm geboten wurde. Wenn hier also etwas gruselig ist, dann allenfalls der Inhalt der beiden vorgestellten Szenarien. Die naturwissenschaftliche Moralforschung sieht das aber anders. Sie wirft Elliott vor, dass er sich den Notwendigkeiten der Szenarien stellt, ohne dabei in ausreichendem Umfang Skrupel an den Tag zu legen. Wer auch dann, wenn beim Töten zum Zwecke der Lebensrettung Körperkontakt erforderlich ist, ohne zu „zögern“ die Berechnung anstellt, die die Fragestellungen verlangen, – stirbt einer, oder sterben fünf –, der zeigt damit, dass ihm der Sinn für das moralische Dilemma abgeht. Er trägt dem moralischen Gebot nicht Rechnung, dass Menschenleben nicht gegeneinander aufgerechnet werden dürfen. Dass die Befolgung dieses Gebots im Gleisarbeiter-Dilemma zum Tod von fünf Menschen führt, spricht nach Ansicht der Moralexperten keineswegs gegen dieses Gebot, und dass Elliott mit seiner Entscheidung fünf Menschen rettet, spricht nicht für ihn. Im Gegenteil! Das qualifiziert ihn, moralwissenschaftlich gesehen, als pathologischen Killer:
„Mittlerweile haben Forscher […] die Areale im Gehirn eingekreist, in denen ein Defekt dazu führen kann, dass sich solche Tötungsimpulse ungehindert durchsetzen.“
Dass man Elliott für seine Entscheidung, einen Menschen zu töten, einen nach der Voraussetzung respektablen Grund geliefert hat – immerhin stehen fünf Menschenleben auf dem Spiel –, wird nicht nur vergessen, das Ganze wird explizit ins Gegenteil verkehrt: Der Zweck, Menschen zu retten, den Elliot & Co. sich weisungsgemäß zu Eigen machen, wird verkehrt in ihr Bedürfnis, einen Menschen zu töten. Das ist sachlich absurd und bedarf der kühnen Erfindung eines Tötungsimpulses, der naturwüchsig im Menschen sitzt. Mit dem Tötungsimpuls tut man so, als habe man einen eigentlichen Grund fürs Töten gefunden. Der soll alle sachlichen Gründe, aus denen jemand einen anderen töten mag, zusammenfassen, indem er sie für irrelevant erklärt. All diese wie auch immer gearteten Gründe sollen nicht die Ursache dafür sein, sondern Äußerung einer Kraft, die dem menschlichen Hirn innewohnt und die aus nichts anderem abgeleitet wird als daraus, dass getötet wird. Die Anwendung dieser tautologischen Bestimmung auf die Elliotts, die mit ihrer Entscheidung ja nicht nur zeigen, dass sie nicht töten wollen, sondern auch, dass ihnen der Tod von Menschen nicht egal ist, entbehrt jeder sachlichen Logik, sie leistet aber eines: Das moralische Empfinden der „normalsterblichen“ Probanden, das man aus ihrer Hemmung beim Runterschubsen des Dicken zu Recht oder Unrecht abgeleitet hat, und das, wenn es denn wirklich der Grund für die Hemmung sein sollte, immerhin dafür sorgt, dass fünf Menschen zu Tode kommen, dieses moralische Empfinden wird so zur Gegenkraft erklärt, die die Durchsetzung des behaupteten Tötungsdrangs verhindert.
Und nicht nur das: Aus dem Vergleich von gesunden Probanden und solchen mit Hirnschaden, wird ein angeborenes Moralinstinktgefühl abgeleitet: Die Hirnpatienten werden ja eingeführt als welche, denen wegen eines organischen Hirndefekts das „Gefühl“ fehlt. Wenn die sich also hinsichtlich des vorgestellten „Dilemmas“ anders entscheiden, als der hirngesunde Durchschnitt, und dessen Unbehagen beim Gedanken an eigenhändiges Runterschubsen des menschlichen Stoppers als Moral eingestuft wird, dann soll damit nachgewiesen sein, dass beim gesunden Menschen die „angeborene Urmoral“ da naturwüchsig im Hirn sitzt, wo den Hirnpatienten etwas fehlt. Und wenn die Moral fehlt, dann fallen alle Hemmungen und das muss ja zu Unheil führen.
Die Moral
Zusammengefasst: Wenn sich die hirngeschädigten Probanden auf die Vorgaben der Befragung einlassen und ein Menschenleben opfern, um fünf andere zu retten, dann handeln sie unmoralisch; wenn die „Normalen“ es problematisch finden, ein Leben anzutasten, um andere zu retten, dann ist das moralisch. Mit der Moral, wie es sie gibt und Menschen sie haben, hat das Ganze nichts zu tun. Schließlich ist das „Dilemma“ ja eine Konstruktion, die bewusst gerade das alles ausschließt, worauf sich Moral bezieht: die Interessen der Individuen, die sie selber vom Standpunkt höherer Gebote – darf man, soll man, muss man?! –, also moralisch beurteilen. Und dennoch haben die Wissenschaftler sie mit ihrer falschen Abstraktion im Visier. Dafür haben sie sich ihren Elliott geradezu als Inkarnation des abstrakt Bösen („lassen den Normalsterblichen gruseln“) zurechtkonstruiert: Dass er die Kalkulation, die die Fragestellung der Szenarien verlangt, zum einzigen Grund für seine Entscheidung macht, wird als mörderisch bezeichnet, nur deswegen weil er Berechnung zum Grund für seine Entscheidung macht und wegen der Rettung von fünf Leben ein moralisches Tabu einfach ignoriert! Nur aus eigener Berechnung zu handeln, den eigenen Willen nicht an höheren Ge- und Verboten zu relativieren und alle anderen Kalkulationen dem unterzuordnen, das verbietet die Moral. Und das kriegt der Elliott angeblich auch in diesem falsch abstrakten „Dilemma“ nicht hin. Moral verlangt das Befolgen höherer Gebote, deren Wurzel die Neurowissenschaft nun im menschlichen Gefühl als Naturkonstante verortet haben will:
„Wenn dieses Areal [das im Hirn der Elliotts fehlt, d. Verf.] funktioniert […], entstehen darin Empfindungen wie Mitgefühl, Scham und Schuld, die maßgeblich sind für unser soziales Verhalten.“
Dass der Mensch ein funktionierendes Gehirn braucht, um moralische Empfindungen zu produzieren, ist nicht zu bestreiten, schließlich braucht er das für jeden Gedanken, den er hat, und jedes Gefühl, das er an den Tag legt. Die Naturwüchsigkeit solcher Empfindungen ist damit aber nicht bewiesen und erst recht nicht ihre „Maßgeblichkeit“ fürs menschliche Miteinander. Die Überzeugung davon hat der Forscher schon vorausgesetzt, um sie aus „Studien“ wie dem Gleisarbeiter-Experiment ableiten zu können. Und dazu muss er sogar die wirkliche Moral, wie sie jeder zur Kenntnis nehmen kann, ignorieren. Unbekannt ist es nämlich nicht, dass vom Ehrgefühl des Individuums über den mangelnden Respekt vor dem Recht der eigenen Nation oder Gott bis zur Weigerung die höchsten, nämlich die „westlichen“, Werte anzuerkennen, lauter respektable moralische Gründe für Mord und Totschlag im Schwange sind!
Für den, der sich moralische Gebote zu Eigen gemacht hat, hat dieses Sollen dann den Charakter allgemeiner Verbindlichkeit. Dem Willen der andern, sich diesen Geboten ebenfalls zu unterwerfen, wird da nichts überlassen, von ihnen wird die Befolgung moralischer Gebote verlangt. Mitgefühl muss nicht nur verdient, es kann auch eingefordert werden, Ehrabschneidung seitens der lieben Mitbürger muss man sich nicht gefallen lassen und gegen deren Schamlosigkeit ist einzuschreiten. Schuld entdeckt der moralische Mensch eben nicht nur bei sich, sondern vor allem bei anderen, und das nicht nur dann, wenn die sich nicht an gültige Rechtsvorschriften halten, sondern gerade auch dann, wenn sie die eigenen Moralvorstellungen verletzen. Zu dem Gedanken, dass Mitmenschen den Tod verdienen, sind nur moralische Menschen fähig.
[(Alle Zitate aus SPIEGEL 31/2007)]