Ein „besonders wertvolles“ Machwerk über die Verführbarkeit einer orientierungslosen Jugend
Die Lehrer dürfen ins Kino gehen, mit ihren Schulklassen. Im Angebot ein „besonders wertvoller“ Lehrfilm – die Verfilmung eines so nie stattgefundenen Experiments über Demokratie, Diktatur, Macht und Verführung in bunten Bildern. Dabei hat Gansels Drehbuch ein ähnliches Experiment, das vor ca. 40 Jahren in den USA tatsächlich gelaufen ist, in etlichen Punkten entscheidend abgeändert und lässt es auch anders ausgehen. Überzeugen kann die neue Version nur, wenn man Gansels falsches Urteil teilt, dass Faschismus auf inhaltsleeren „Mechanismen diktatorischer Macht“ beruhe, die das Denken der Menschen so in den Bann schlagen, dass sie kein einziges faschistisches Urteil zur Kenntnis zu nehmen und für richtig zu halten brauchen, um Faschisten zu werden. (Alle Zitate im Folgenden aus dem Film bzw. den Materialien für den Unterricht, die der Verleih den Schulen zur Verfügung stellt.)
Erste Lektion: „Die Jugend hat kein Ideal, keinen Sinn für wahre Werte“(Wolfgang Ambros)
Der Film beginnt mit einer Art Bestandsaufnahme der deutschen Jugend: „Ein normales Gymnasium, eine normale Klasse, hier und heute.“ Die ersten Kameraeinstellungen zeigen gelangweilte Jugendliche, die auf einer öden Party herumhängen; eine Theaterprobe löst sich im Chaos auf, weil jeder macht, was er will; ein Wasserballspiel geht verloren, weil jeder für sich spielt; wenn sich die Schüler für irgendetwas interessieren, dann sind es Markenklamotten oder der dicke Schlitten in Papis Garage; Engagement für etwas Vernünftiges, Gemeinsames, gar für Werte wie Demokratie oder Menschenrechte – Fehlanzeige. Ein Jugendlicher sinniert alkoholisiert vor sich hin: „Was unserer Generation fehlt, ist ein Ziel.“ – Und Schuld haben daran der moderne Kapitalismus, der den Jugendlichen keine Werte, sondern nur noch Konsumbedürfnisse vermittelt, und falsch verstandene Liberalität von Erziehern, die den Kindern keine Orientierung mehr vorgeben. Kurz: Ein einziges Bild des Egoismus, der Disziplin- und Orientierungslosigkeit. So ist die Jugend von heute, lautet die Warnung und Mahnung des Films.
Zweite Lektion: „Was ist Autokratie?“ – ein Grundkurs über Demokratie und Diktatur
An diesem „normalen Gymnasium“ findet eine Projektwoche zum Thema „Autokratie“ statt. Der beliebte, junge Lehrer Rainer Wenger mit linker Hausbesetzer-Vergangenheit ist zwar sauer, dass ihm sein Wunschthema Anarchie weggeschnappt worden ist, aber was soll’s? Nun eben „Autokratie“. Er beginnt seine Projektwoche mit einer Art Theoriestunde. „Autokratie. Was ist das?“ steht an der Tafel. Und dieses Thema ist mit Bedacht gewählt – es soll nicht bloß um einen Aufguss von „Nationalsozialismus-darf-nie-wieder-passieren“ gehen, Thema sind Diktaturen überhaupt, Herrschaften, an denen „wir“ heute viel auszusetzen haben, weil sie „Demokratie und Menschenrechte mit Füßen treten“. Projektleiter und -gruppe arbeiten die Frage halt so ab, wie es landauf landab an „normalen Gymnasien“ passiert: Die einen kalauern herum, einige arbeiten konstruktiv mit, so dass ungefähr Folgendes zusammenkommt: „Autokratie ist, wenn ein Einzelner oder eine Gruppe über die Masse herrscht… Genau. Autokratie leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet Selbstherrschaft. Ein Einzelner hat so viel Macht, dass er die Gesetze ändern kann, wie er’s will.“ Und was sind die Grundvoraussetzungen für ein „autokratisches System“? – Antwort: „Eine Ideologie, Kontrolle, …“ Was noch? „… eine zentrale Leitfigur, ein Führer!“ Und: „Inflation, Arbeitslosigkeit, extremer Nationalismus begünstigen eine Diktatur.“
Eigentlich könnte der engagierte Pädagoge mit dem inhaltlichen Ertrag ganz zufrieden sein. So geht hierzulande Systemvergleich in der politischen Bildung: Lehrer und Schüler heften den sog. „Autokratien“ ein paar negativ besetzte Etiketten wie Willkür, Führer, Kontrolle oder Ideologie an und legen sie alle in dieselbe theoretische Schublade: Autokratien dulden keine Grundrechte, veranstalten keine ordentlichen Wahlen, sie regieren totalitär, wollen totale Kontrolle und produzieren Ideologie – kurz: Sie weichen von den hierzulande gültigen Herrschaftsprinzipien und -methoden ab, sind also „un-demokratisch“. Demokraten erschrecken in ihrer Analyse so sehr vor ihrem Konstrukt von Herrschaft, dass sie gleich unter den Tisch fallen lassen, was „Autokraten“ mit ihrer Herrschaft eigentlich anstellen wollen, wozu sie ihre Macht gebrauchen könnten: Auto-kratische Führer wie Hitler denken bei ihrer Herrschaft angeblich immer nur an sich selber und ihre Machtvollkommenheit; ihnen geht es um „schiere Macht“ und dafür unterdrücken sie ihr Volk und andere gleich mit. Irgendein Grund für ihre Herrschaft und irgendein Ziel ist nicht zu erkennen. Es geht in dieser demokratischen Lehrstunde also um eine schlichte Botschaft: Diktaturen, Autokratien usw. sind böse – Demo-kratien gut. Fragen der Art, wieso auch Demokraten von ihren Politikern immer straffe Führung verlangen, was den Hype um die „Leitfigur“ Barack Obama überhaupt vom autokratischen Führerkult unterscheidet oder wann das stinknormale „Nationalgefühl“ eigentlichzum „extremen“
Nationalismus wird, kommen gar nicht erst auf, weil der Systemvergleich schon entschieden ist, bevor er überhaupt losgeht.
Diese Demokraten jedes Bildungsgrades selbstverständliche parteiliche Quintessenz des Systemvergleichs präpariert Lehrer Wenger im seinem Unterricht wieder einmal heraus. Wenn dem Zuschauer daran etwas aufstoßen soll, dann ist es die Art und Weise, wie die Jugendlichen sich daran beteiligen. Kaum fällt das Stichwort „Drittes Reich“ im Unterricht, fällt den meisten die Klappe herunter: „Och nee, nicht schon wieder… So was passiert hier doch eh nicht mehr… Auf keinen Fall. Dafür sind wir viel zu aufgeklärt… Wir können uns doch nicht ewig für etwas schuldig fühlen, was wir nicht getan haben… usw. usf.“ Die Schüler haben das Thema satt, für sie ist das Lernziel längst erfüllt: „Klar, Nazideutschland war scheiße. Langsam hab ich’s auch kapiert“, mault einer. Viele winken ab; jegliches Engagement für Werte wie Demokratie und Menschenrechte fehlt also, soll man als Zuschauer mit Lehrer Wenger gemeinsam feststellen. Der fragt weniger seine Schüler als sich selbst: „Ihr meint also, eine Diktatur wäre heute bei uns nicht mehr möglich, ja?“ – und fasst für sich einen Beschluss: Er will diesen arroganten Jugendlichen eine Lektion erteilen, die dem Kinozuschauer eine Warnung sein soll: Diese abgeklärten, aber an politischen Werten desinteressierten jungen Deutschen sind von jedem dahergelaufenen Führer verführbar und manipulierbar.
Mit dieser Beweisabsicht ist im Film die alles entscheidende Verdrehung passiert: Wer nämlich Verführbarkeit beweisen will, sucht gar nicht mehr in den politischen Verhältnissen und Vorhaben eines Gemeinwesens die Gründe der Gefolgschaft der Untertanen; genauso wenig wie er in deren politischen Überzeugungen die Zustimmung zu ihrer nationalen Führung ausfindig machen will. Dass da Führer und Geführte im Nationalismus einig werden und sich das Volk – wie in den gelobten Demokratien auch – deshalb von seinen Oberen deren nationale Vorhaben und seine daraus folgenden Rechte und Pflichten vorbuchstabieren lässt, das alles ist mit der moralischen Verurteilung, die der Systemvergleich anstrebt, ein für alle Mal erledigt. Damit tut sich Verführbarkeitstheoretikern ein neues und ganz und gar verkehrtes Rätsel auf: Wieso machen ganz normale Menschen in solch bösen Systemen überhaupt mit? ‚Wie konnte es dazu kommen?‘, lautet z. B. die einschlägige Frage bzgl. des Nationalsozialismus. An offensichtlich bösen Inhalten der politischen Programme kann es nicht liegen, dann würden die guten Völker ja nicht mitmachen. Also muss es etwas anderes geben, so etwas wie „Mechanismen der Macht“, denen die Menschen folgen, ob sie wollen oder nicht. Sie werden nicht nur geführt, sondern eben verführt. Etwas in dieser Art inszeniert der Film:ein sozialpsychologisches Verfahren, das den Zuschauern demonstrieren will: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das Böse kroch.
Dritte Lektion: Ein Experiment beweist: Der Mensch und auch unsere Jugend sind verführbar
Lehrer Wenger funktioniert seine Schülergruppe also um, ohne ihr das auf die Nase zu binden, und erfindet als gewiefter Pädagoge ein Rollenspiel, das ganz ernst genommen werden soll: eine Art Führerbewegung, „die Welle“. Er hat durchschlagenden Erfolg. Alle bis auf wenige Ausnahmen machen widerstandslos mit. Der erste Tag steht unter dem Motto
„Macht durch Disziplin“
Der Lehrer lässt sich zum Führer der Projektgruppe wählen. Ab sofort müssen ihn die Schüler wieder laut und deutlich mit Nachnamen anreden: „Guten Morgen, Herr Wenger! Danke, Herr Wenger!“; die in ihren Stühlen lümmelnden Schüler müssen Haltung annehmen, sich aufrecht hinsetzen und ordentlich durchatmen; ein, zwei protestieren, aber die Klasse sitzt schließlich aufrecht diszipliniert da, und was das Beste ist: Sie bestätigt dem Lehrer, dass sie jetzt viel besser und freier atmen können! Also, so die Botschaft: Es funktioniert, man sieht doch: Die „Macht“ wirkt.
Zweiter Tag:
„Macht durch Gemeinschaft“
steht an der Tafel. Wenger lässt die Gruppe antreten und im Klassenzimmer im Gleichschritt marschieren, dass der Putz von der Decke fällt. Die Schüler haben sichtliches Vergnügen daran, die anderen Gruppen im Haus zu stören – was für ein Gemeinschaftsgefühl! Dann setzt der Lehrer alle Schüler um, immer einen guten neben einen schlechten; es geht, erfährt man, darum, „das Konkurrenzdenken zu eliminieren und den Egoismus zu unterwandern“, so dass am Ende jeder etwas davon hat: „In der Gemeinschaft ist man stärker.“ Die Schüler finden’s klasse. Jetzt braucht man nur noch alles, was der Bewegung ein Gesicht gibt: einen Namen, „die Welle“ eben, ein Gemeinschaftslogo, und die Gruppe beschließt, sich zu uniformieren: Alle ziehen ab sofort ein weißes Hemd oder T-Shirt an. Schon ist man, man sieht es doch, eine gemeinschaftliche „Bewegung“, so dass nun „die Welle“ ihre
„Macht durch Handeln“
beweisen kann. Die Mitglieder praktizieren Solidarität untereinander: Dem Außenseiter, der immer gemobbt worden ist, wird geholfen, als er von anderen angepöbelt wird; in der chaotischen Theatergruppe übernimmt einer das Kommando, plötzlich klappt alles wie am Schnürchen; und die erfolglose Wasserballtruppe Wengers spielt jetzt zusammen und – gewinnt. Auch Lehrer Wenger, der alte Hausbesetzer, spürt die Verführungskraft, die von seiner Macht ausgeht und hat ein „verdammt gutes Gefühl“, dass die Schüler so gut parieren. Jetzt gibt’s die „Welle“, jetzt braucht sie ein Ziel. Also schwärmen die Mitglieder aus, um „die Stadt aufzumischen“ – kein Mensch weiß zwar wofür, aber egal. Hauptsache „die Welle“ lebt: Aufkleber mit dem Logo der Bewegung werden geklebt, Wände und Häuser beschmiert. Das Experiment „entgleist“: Die Bewegung führt einen Erkennungsgruß ein, Nicht-Mitglieder werden ausgegrenzt, andere Gruppen vermöbelt, eine „Widerständlerin“ in der Art Sophie Scholls wird angefeindet. Die Katastrophe am Ende unterstreicht den „faschistoiden“ Charakter der „Welle“: Als der Lehrer das Experiment beendet, schießt der unterwürfigste Mitläufer einen Mitschüler an und bringt sich um.
Die „Welle“, welche die „Mechanismen“ von Gefolgschaft und Führung illustrieren soll, ist so absurd wie konstruiert. Mit realen politischen Bewegungen, die es gibt, weil sie ein wie auch immer geartetes Anliegen verfolgen, hat sie nichts zu tun. Ausweislich ist sie eine Gemeinschaft, in der „es gar keine definierten Ziele gibt.“ Ein gespielter Führer, Lehrer Wenger, der alles mit seiner schulischen Autorität als eine Art besonders „lebendigen Unterricht“ inszeniert, beschließt, eine grund- und zwecklose Bewegung auszuheben; er mag irgendwelche Absichten damit verfolgen, aber er sagt sie nicht. Jetzt gibt es die „Welle“, und die Schüler machen mit, weil es sie gibt: Die Gemeinschaft ist abstrakt zusammengeschweißt, und der Führerkann „schiere Macht“ über die Mitglieder ausüben: Der Führer, hier der Lehrer, führt, damit er führt, und seine Macht besteht überhaupt nur aus deren Symbolen, die sich in der Stadt ausbreiten müssen, damit man überhaupt bemerkt, dass es diese Bewegung gibt. Ihr Daseinszweck fällt damit zusammen, dass sie als Bewegung Mitglieder eingesammelt hat.
Und warum leisten die Schüler ihrerseits in dieser Bewegung Gehorsam? Dafür inszeniert der Film das zu diesem Machtkonstrukt komplementäre absurde Motiv: Die „Welle“ bietet den Mitgliedern Gelegenheit, den ihnen vom Drehbuch verordneten abstrakten Sinn nach „Gemeinschaft“ zu befriedigen: Wir wissen zwar nicht, was die „Welle“ will, aber Dabeisein ist spitze! Als Individuen wird ihnen ein Urbedürfnis nach Führung, Disziplin und solidarischem Handeln zugeschrieben, weil sie als Individuen nur durch Einordnung in eine Gemeinschaft, welcher Art auch immer, auf ihre Kosten kommen: Sie machen in der Bewegung mit, damit sie dort als Individuen aufgehen und nicht vereinzelt sind. Diese tautologische Gruppenattraktivität inszeniert der Film in bunten Bildern, in denen alles auf dem Kopf steht: Hier wollen die Mitglieder nicht ein gelungenes Theaterstück aufführen und schließen sich deshalb zusammen; sie wollen nicht einfach gut Wasserball spielen und agieren deshalb als Mannschaft. Die Erfolge in Theater und Spiel, die gute Laune auf der „Welle“-Party drücken nur aus, dass die „Welle“ ein abstraktes Eingliederungsbedürfnis bedient und dass diese Art von Einordnung sich lohnt.
In dieses leere sozialpsychologische Bild von Individuum und Gemeinschaft übersetzt das Filmexperiment reale politische Gemeinwesen aller Arten. Allen Ernstes soll es das schulische „Experiment“ ja vorführen, wieso sogar „Autokratien“ usw. funktionieren: Ob am Ende Demokratie oder Faschismus herauskommt, entscheidet sich in der Ausgestaltung dieses prekären Verhältnisses zwischen Mensch und Sozialverband; gute Führer relativieren ihre Macht zugunsten der Ansprüche der Mitglieder auf Individualität, böse autokratische Führer sind machtgeil und genießen ihre verabsolutierte Macht; verantwortungsbereite Untertanen behaupten ihre Ansprüche auf Individualität, Mitläufer geben sie aus Bequemlichkeit auf und gehen in der Gemeinschaft auf. Also oben wie unten alles – ohne politischen Inhalt – bloß eine Frage des gefestigten, gegen Verführung gefeiten Charakters.
Die Figuren des Films repräsentieren nichts als ge- oder misslungene Varianten dieses gruppenpsychologischen Mitmachens: Die Widerständlerin Karo, die sich dem verabsolutierten Gruppenzwang verweigert, der fanatische Mitläufer Tim, der nur durch und für die „Welle“ lebt usw. usf. Die „Welle“ selbstsymbolisiert ein absolut leeres Gefolgschaftssystem, das von einem verantwortungslosen Führer für einen bösen politischen Inhalt verfügbar gemacht ist, andererseits aber wie auf Knopfdruck zu beenden ist: Am Ende des Films lässt der Führer die Katze aus dem Sack: Lehrer Wenger hält eine Art nationalistische Rede à la NPD, er gibt der „Welle“ einen Inhalt und ein Ziel, von dem er im gesamten „Welle“-Experiment bis zu diesem Moment noch kein Sterbenswörtchen verraten hatte. Im Gegenteil – am ersten Tag der Projektwoche waren sich Lehrer und Schüler noch einig: „… extremer Nationalismus begünstigt eine Diktatur.“ Jetzt dagegen klatscht die Vollversammlung der „Welle“-Bewegten ihrem Führer frenetisch Beifall. Dass zur Übernahme von Gedanken, die man bisher noch nicht teilte, so etwas wie Überzeugungsarbeit und intellektuelle Einsicht nötig ist, vor allem, wenn die Schüler eine Woche später genau das gut finden sollen, was sie vorher zusammen mit ihrem Projektwochenleiter abgelehnt hatten, das unterschlägt die Filmregie. Sie lässt die jungen Schauspieler nach ein paar Tagen „Welle“-Spielen der nationalistischen Tirade ihres Lehrers völlig unmotiviert applaudieren und legt den Zuschauern den Fehlschluss nahe, diese plötzliche Sinnesänderung sei die notwendige Frucht des mehrtägigen Experiments: Die Mitglieder der „Welle“ müssten dem nationalistischen Ziel jetzt folgen, nicht, weil sie von ihm mit Argumenten überzeugt worden wären, sondern weil nicht mehr anders könnten: Sie seien verführt von angeblich unwiderstehlichen „Mechanismen der Macht. Auf einen Nenner gebracht: Im Welle-Projekt blühen Unterordnung, Ungleichheit und Unmenschlichkeit. Am Schluss bleibt ein Scherbenhaufen, ganz wie im richtigen Faschismus.“
Und im nächsten Moment wird diese Gemeinschaft mit „faschistoiden Zügen“ vom Lehrer abgesagt, weil er zu weit gegangen sei, und die Schüler schleichen wieder ohne irgend-ein Argument dafür gehört zu haben, warum sie mit ihrer nationalistischen Begeisterung schief gelegen seien, „verwirrt“ und peinlich berührt von dannen: „ganz wie im richtigen Faschismus“?
Vierte Lektion: Unsere Jugend braucht Werteerziehung
Mit dem kritischen Befund über unsere Jugend, die – so sehen das eben professionelle Sachwalter gelungener Erziehung – nie so recht gelernt hat, was „ihre Ziele“ sind, etwa so kostbare Werte wie Demokratie und Menschenrechte, liegt die Gefahr auf der Hand: Sie ist besonders leicht und von jedem dahergelaufenen Führer zu weiß Gott was zu verführen. Nicht dass das die pädagogischen Filmmacher wirklich befürchteten. Aber auf ihre Art wollen sie eine Art Erziehungsauftrag loswerden: Wir, die mit Persönlichkeitsbildung Beauftragten, müssen die Jugend eben bis unter den Scheitel anfüllen, und zwar mit den richtigen Werten, damit sie ihr ganz normales Bedürfnis nach Disziplin, Führung, Gemeinschaft usw. in den guten Bahnen auslebt.
Wissen müssen die Jugendlichen von heute dafür nichts, weder über den wirklichen Faschismus noch über die real existierende Demokratie mit ihren von der Staatsmacht gültig gemachten ‚Sachzwängen‘ von Wirtschaft und Politik. Sie müssen nur ein bisschen Dankbarkeit gegenüber ihrem demokratischen Staat aus dem Film mit nach Hause nehmen – dafür, dass er ihnen im alltäglichen Gehorsam gegenüber den Instanzen, die Macht über sie haben (Schule, Ausbilder, Vorgesetzte, Staatsorgane …), ihren ganz persönlichen Charakter lässt. Ein wenig Anhänglichkeit zu stiften unter Jugendlichen gegenüber dem System, das ihnen ihre freiheitliche Individualität lässt, solange sie sich dem demokratischen Gemeinwesen unterordnen, das ist doch ein lohnendes Erziehungsziel.
[(überarb. Fassung aus GegenStandpunkt 2-08) u]
Was die Macher des Films „Die Welle“ nicht interessiert – Was ist der Faschismus? Wovon haben sich die meisten Deutschen von 1933–45 von Hitler überzeugen lassen? Warum sind Demokraten für den Faschismus „anfällig“? Warum können Demokraten Faschisten nicht kritisieren? – ist Thema des Buches:
Konrad Hecker
Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, München (GegenStandpunkt Verlag) 1996, 354 S., € 20 (ISBN: 978-3-929211-02-3)