Seit der internationale Finanzmarkt sich selbst zerlegt hat und sich infolgedessen die sonstigen Märkte in einer satten Weltwirtschaftskrise befinden, hat das Dogma vom freien Markt, der alles dann am besten regelt, wenn nicht in ihn „eingegriffen“ wird, etwas an Popularität eingebüßt – praktisch und theoretisch. Während sich staatliche Rettungspakete, Schutzschirme und Konjunkturprogramme darum bemühen, marktwirtschaftlicher Geschäftstätigkeit zum Erfolg zu verhelfen, während Kurzarbeitsregelungen Massenentlassungen verzögern und Sicherungsklauseln in der Rentenformel die Altersarmut regeln sollen, während die Politik also kräftig am Regeln ist, zerbrechen sich die ökonomischen Sachverständigen öffentlich den Kopf darüber, ob sie das – marktwirtschaftstheoretisch betrachtet – soll, muss oder darf.
Darf sie, so teilt uns ein Herr Strobl im Feuilleton der FAZ mit, und soll sie sogar, damit „der Markt wirklich sozial wird“.
Was der Markt (nicht) leistet
Dabei beruft er sich auf den „Erfinder“ der „Sozialen Marktwirtschaft“. Der hieß Alfred Müller-Armack und verfasste 1946 ein Werk mit dem Titel „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, in dem er die Marktwirtschaft als das jeder wirtschaftlichen Planung unbedingt vorzuziehende Wirtschaftssystem propagierte – wegen ihrer hohen ökonomischen „Leistungsfähigkeit“ und der Freiheit des Individuums. Der Markt sorge, so referiert die FAZ, „besser als jedes andere System“ für Produktivität und Reichtum, führe allerdings „mitunter“ zu „gesellschaftlich unerwünschten Einkommens- und Vermögensverteilungen“. Dass der produzierte Reichtum gar nicht mitunter, sondern mit schöner Regelmäßigkeit dort landet, wo sich im Ausgangspunkt schon Geld bzw. Kapital befindet, ist in einer Gesellschaft, die marktwirtschaftlich wirtschaftet, selbstverständlich nicht „unerwünscht“. Kapitalvermehrung ist schließlich der Zweck der ganzen Veranstaltung. Dass die Mehrheit der Bevölkerung allerdings ebenso regelmäßig in aller Freiheit von einem Einkommen leben muss, das für das Lebensnotwendige nicht reicht, wenn man seine Höhe von der Leistungsfähigkeit der Marktgesetze bestimmen lässt, und dass sie deshalb ihre Funktion als Arbeitnehmer und/oder Staatsbürger nur eingeschränkt oder gar nicht erfüllen kann, stört die Macher dieser Gesellschaft schon – mitunter jedenfalls. Müller-Armack weiß, was da zu tun bzw. zu unterlassen ist.
In gar keinem Fall darf der „Marktmechanismus“ beeinträchtigt werden. Das wäre dann der Fall, wenn die Politik Preise anordnete, zu denen die armen Teufel sich das Zeug, das sie brauchen, leisten könnten, oder wenn sie ihnen ein ausreichendes Einkommen garantierte. Preis‑, Miet- und Lohnbindungen lehnt der „geistige Vater“ der Sozialen Marktwirtschaft entschieden ab. Derartige Maßnahmen wären nämlich ganz schlecht für die Effektivität des Marktes, auf dem das „freie Spiel von Angebot und Nachfrage“ zu Preisen führt, die „die zentrale Rolle bei der Anzeige von Knappheitsverhältnissen“ spielen.
Das behauptet jedenfalls Müller-Armack (und mit ihm die VWL bis heute): Ein hoher Preis hat seinen Grund darin, dass ein Gut „knapp“ ist. Deshalb kriegen es nur ein paar Wohlhabende, die diesen Preis bezahlen können. Ein hoher Preis führt aber auch zu einem steigenden Angebot an diesem Gut, das dann nicht mehr knapp ist, weshalb sein Preis runter geht und weniger Wohlhabende es sich auch leisten können. So will es in der wirtschaftswissenschaftlichen Modellwelt das „Gesetz von Angebot und Nachfrage“ – und so ist es auf dem realen Markt keineswegs.
Momentan sind beispielsweise Autos alles andere als knapp. Massenweise können produzierte Neuwagen nicht abgesetzt werden, weil sie für viele Leute, die durchaus ein neues Auto brauchen könnten, zu teuer sind. Trotzdem sinken die hohen Preise nicht, jedenfalls nicht so weit, dass sie zur Zahlungsfähigkeit dieser Nachfrager passen würden. Um die Befriedigung von Nachfrage geht es nämlich immer nur als Mittel der Gewinnerzielung, und so sind auch die Marktpreise kalkuliert: Mit dem Verkauf soll ein Überschuss über die Produktionskosten erzielt werden. Wenn diese Preiskalkulation nicht aufgeht, die Waren zu diesem Preis nicht verkauft werden können, unterbleibt ihr Verkauf. Damit stellt sich ihre Produktion, die ja sachlich ein Erfolg war – schließlich hat sie eine Menge gebrauchsfähiger Güter erzeugt – als marktwirtschaftlicher Misserfolg heraus. Für den Konsum stehen diese Güter deshalb nicht zur Verfügung. Ressourcen und Arbeit, die für ihre Herstellung nötig waren, waren vergeblich aufgewendet, nicht, weil niemand diese Güter konsumieren wollte, sondern weil die Preiskalkulation ihrer Hersteller nicht aufging. Was nicht gewinnbringend verkauft werden kann, ist in der Marktwirtschaft schlicht wert- und nutzlos. Von Knappheit an Gütern, die der Preis „anzeigen“ müsste also keine Spur! „Knapp“ ist nur das Geld der Armen, die der Preis der Waren am Konsum hindert. Überproduktion von Waren, die auf dem Markt nicht abzusetzen sind, neben einer Vielzahl von Armen, denen es an diesen Produkten fehlt, das ist die „hohe Leistungsfähigkeit“, für die die Liebhaber der Marktwirtschaft dieses System so gerne loben.
Die behaupten nun, dass dieses Missverhältnis ein zwar unschönes, aber notwendiges Zwischenergebnis im „Spiel von Angebot und Nachfrage“ sei, das „der Markt“ selbst korrigiere. Findige Anbieter würden ihre Kalkulation nämlich der Geldknappheit bei den Nachfragern anpassen und Billigprodukte auf den Markt werfen, die diese sich leisten können, und schon sind Angebot und Nachfrage wieder auf bestem Weg zum Gleichgewicht. Bloß: Welche Anbieter nun „findig“ genug waren, stellt sich wiederum ex post und in bekannt „effizienter“ Weise nach erfolgter Produktion auf dem Markt heraus. Der ist, wie immer, so auch in diesem Fall, bevölkert von Geschäftsleuten, die alle bestrebt sind, ihre Produktionskosten so weit zu senken (die Kosten wohlgemerkt, nicht etwa, wie die VWL gerne glauben machen möchte, den Ressourcenverbrauch), dass sie die Konkurrenten preislich unterbieten und aus dem Markt drängen können. Anbieter, die da unterliegen, können einpacken. Ihre Produkte bleiben liegen, ihre Produktionsanlagen sind als unrentabel auszumustern und Leute, die da gearbeitet haben, verlieren deshalb ihre Existenzgrundlage.
Sachlich zeichnet sich die Marktwirtschaft also durch eine grandiose Verschwendung von materiellem Reichtum bei gleichzeitiger massenhafter Verarmung aus. Beides effizient für die Erwirtschaftung von Profit, aber eben auch nur dafür.
Wie seine Leistungen zu „korrigieren“ sind
Auf diese „ökonomischen Leistungen“ der Marktwirtschaft will Müller-Armack nichts kommen lassen. Die „Automatik des Marktes“ sei, so beteuert er, ein „überaus zweckmäßiges Organisationsmittel“. Das Resultat allerdings, das sie hervorbringt, hält er für korrekturbedürftig: „Es war ein folgenschwerer Fehler des wirtschaftlichen Liberalismus, die marktwirtschaftliche Verteilung schon schlechthin als sozial und politisch befriedigend anzusehen“, zitiert ihn dieFAZ.
Eigentlich liegt ja nun der Gedanke nahe, dass an den Zwecken der Markwirtschaft etwas faul sein muss, wenn sie, zweckmäßig betrieben, zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Die „marktwirtschaftliche Verteilung“ führt nicht ausnahmsweise, sondern beständig zu Reichtum auf der einen und Ausschluss von vorhandenem Reichtum auf der anderen Seite, weil Anbieter und Nachfrager als Privateigentümer den Markt schon mit dieser Voraussetzung betreten, wenn die einen Kapital und damit Produktionsmittel besitzen und die anderen nicht. Diese müssen, weil sie damit von deren Nutzung ausgeschlossen sind, den Besitzenden ihre Arbeitskraft anbieten, die von denen nur nachgefragt wird, wenn sie so billig ist, dass ihre Käufer mit ihrer Anwendung einen Profit erzielen.
In der Markttheorie von Angebot und Nachfrage kommt das alles so nicht vor. Da agieren „Leistungsbringer“ mit unterschiedlichen „Qualitäten“ – der eine hat kräftige Oberarme, ein anderer kann gut rechnen und ein Dritter hat eben viel Geld. Das führt, so die Theorie weiter, zu einer „Einkommensverteilung“, die Alt- und/oder Neoliberalen als schwer in Ordnung, weil irgendwie leistungsgerecht, propagieren. Andere Markttheoretiker sehen das mit der unterschiedlichen Leistung im Prinzip genauso, stehen aber dem Ausmaß der so erzeugten Armut kritisch gegenüber.
Zu denen gehört Müller-Armack. Er erteilt der Politik den Auftrag, für die „notwendige Rücksichtnahme auf sozialethische Prinzipien“ zu sorgen und die „marktwirtschaftliche Einkommensverteilung“ zu korrigieren, ohne aber dabei in den „Marktmechanismus“ einzugreifen, der diese Verteilung hervorbringt.
Das geht korrekterweise so: „Wenn auf dem Weg der Besteuerung die höheren Einkommen gekürzt und die einlaufenden Beträge etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen, Mietzuschüssen, Wohnungsbauzuschüssen weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktwirtschaftlichen Eingriffs vor.“
Wenn die Marktwirtschaft also dafür sorgt, dass viele Marktteilnehmer von einem Einkommen leben müssen, das für Wohnen und das Großziehen von Kindern nicht ausreicht, dann ist ihr das einerseits nicht vorzuwerfen, es entspricht aber andererseits nicht den „Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens“, die Müller-Armack verwirklicht sehen möchte. Zu denen gehört es, dass auch Niedriglohnempfänger ausgeschlafen und gewaschen am Arbeitsplatz erscheinen und den „gesellschaftlich erwünschten“ Nachwuchs produzieren können. Sozialethisch betrachtet darf ihre Armut nur so groß sein, dass sie ihnen die Erfüllung dieser sozialen Aufgaben nicht verunmöglicht. So viel „Wohlstand für alle“ muss sein und deshalb muss der Staat eine nachträgliche „Vermögensumverteilung“ vornehmen, indem er die Reichen besteuert und die Armen bezuschusst. Dieser Fall von „marktwirtschaftlichem Eingriff“ ist für Müller-Armack deshalb „ideal“, weil er zu seinem Marktmodell passt: Wenn sich die so Bezuschussten auf den Markt begeben und nachfragen, dann wird die freie Preisfindung nicht beeinträchtigt. Und ohne die merkte ja keiner, dass irgendetwas knapp ist, und alles wäre per definitionem ganz ineffektiv. Mit freier Preisfindung ist hingegen wirtschaftstheoretisch alles in Ordnung: „Selbst eine hohe Besteuerung zugunsten eines sozial- und staatswirtschaftlichen Konsums ist bei der Wahl richtiger Steuermittel eine marktwirtschaftlich durchaus neutrale Tatsache, welche die Nachfragedaten zwar entscheidend verändert, deren Berücksichtigung aber die marktwirtschaftlichen Regeln nicht verletzt.“
Die „Regeln“, die die Markttheorie aufgestellt hat, würden tatsächlich nicht verletzt, wenn die Politik den Reichen ihr Geld wegnähme, um es den Armen zu geben. Wer da als Nachfrager auftritt und was der dann nachfragt, ist schließlich völlig egal für das „freie Spiel“ von Nachfrage und Angebot, für das die Wirtschaftswissenschaft die Grundregel aufgestellt hat, dass beide sich immer einander anpassen und damit alles ins Lot bzw. Gleichgewicht kommt. Insofern gibt es also keinerlei Marktproblem bei der Vermögensumverteilung.
In der realen Sozialen Marktwirtschaft geht es aber nicht um die Anzeige von Knappheit, den Einklang von Angebot und Nachfrage und ähnlichen Unsinn. Da geht es um Kapitalwachstum, also um Geld, das einzig und allein deshalb in die Produktion investiert wird, um es zu vermehren. Und dafür ist es von entscheidender Bedeutung, dass ein Großteil der Bevölkerung über kein Vermögen und kein Einkommen verfügt und deshalb kostengünstig als Produktionsfaktor zu haben ist. Dass diese Leute „Anbieter“ besonderer Art sind, wird deutlich, wenn Müller-Armack den Mindestlohn thematisiert: „Es ist marktwirtschaftlich durchaus unproblematisch, als sogenannte Ordnungstaxe eine staatliche Mindesthöhe zu normieren, die sich im Wesentlichen in der Höhe des Gleichgewichtslohns hält, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden.“
Wieso aber ist eine staatlich festgelegte Lohnuntergrenze „marktwirtschaftlich durchaus unproblematisch“, wenn Preisbindungen generell ein Vergehen gegen die marktwirtschaftliche Effizienz darstellen? Aus der Markttheorie ergibt sich das nicht! Es ergibt sich daraus, dass auf dem Arbeitsmarkt Preise erzielt bzw. gezahlt werden, deren geringe Höhe mit den „sozialethischen Prinzipien“ eines Wirtschaftsfachmannes schon mal schwer vereinbar sein kann. Gegenüber stehen sich da nämlich die Anbieter von Arbeitskraft, die wegen ihrer Besitzlosigkeit auf jeden Lohn angewiesen sind, und die Nachfrager nach Arbeit, die dafür nur so viel zahlen, dass ihre Gewinnkalkulation aufgeht. Es handelt sich da in aller Freiheit um ein materielles Erpressungsverhältnis, in dem die eine Seite ihr Angebot nur um den Preis des Existenzverlustes zurückziehen kann, weswegen die andere bei der Erzielung eines günstigen Kostpreises leichtes Spiel hat. Weil es auf den Geschäftserfolg dieser Seite aber ankommt, muss die Politik bei ihren sozialethischen Maßnahmen schwer aufpassen. Am besten geht das, wenn sie die Unternehmen auf die Sozial- und Lohnkosten festlegt, die das durchschnittliche Unternehmen sowieso bezahlt. Dieses Armutsniveau ist in jedem Fall „marktkonform“.
Alle Zitate aus: FAZ, 11. April, S. 31