„Schluss mit der Integrationsverweigerung!“
1. Erst kürzlich hatten – angesichts nächtlicher Brände in französischen Vorstädten – deutsche Politiker beruhigend darauf hingewiesen, dass die „gesellschaftliche Realität bei uns anders“, mit derartigen Störungen der öffentlichen Ordnung also eher nicht zu rechnen sei. Da genügt ein „Brandbrief“ von Lehrern einer Berliner Hauptschule an ihre Schulbehörde, um in der Regierungskoalition ein gewaltiges Echo auszulösen. In ihm beklagen sie mangelnden Respekt vor den Lehrern, Desinteresse der Schüler und Eltern und Sachbeschädigungen sowie das Fehlen von „Mitarbeitern aus anderen Kulturkreisen, die uns bei Deeskalation und Krisenintervention helfen“. Nicht weniger als ein „nationaler Integrationsgipfel“ erscheint den „aufgescheuchten Politikern“ (FAZ) als die einzig angemessene Antwort auf die Störung der Schulordnung im Bezirk Neukölln. Hat sich die pädagogische Welt über Nacht gravierend verändert, oder wird sie nur anders interpretiert?
2. Bildungsanstalten wie die Rütli-Schule wegen der dort üblichen rauen Sitten zum „Symbol für eine gescheiterte Integrationspolitik“ zu ernennen erscheint, nüchtern gesehen, in einer Hinsicht alles andere als sachgerecht. Durchaus im Einklang mit den Fortschritten und Ansprüchen der deutschen Klassengesellschaft findet in diesem Teil des Bildungssystems der Teil der heranwachsenden Staatsbürger ordnungsgemäße Betreuung, für den schon vor Eintritt ins Berufsleben die „Perspektivlosigkeit“ hinsichtlich seiner marktwirtschaftlichen Benützung und damit die Perspektive auf ein Leben in garantierter Existenznot feststeht. Dass sich in diesem Teil der Überbevölkerung – ohne die ist ein erfolgreicher Kapitalismus nicht zu haben! – eine große Zahl Jugendlicher „mit Migrationshintergrund“ befindet, ist bekannt – und auch kein Zufall: Deutsche Unternehmer, zu ihrem tiefen Bedauern nur zur Schaffung der ihren Kalkulationen entsprechenden Anzahl von Lehrstellen in der Lage, wählen aus dem Überangebot von Lehrstellen-Bewerbern diejenigen mit den besten Abschlüssen und Noten aus. An beiden fehlt es öfter mal bei Bewerbern aus Einwandererfamilien, die wegen Sprachproblemen Schwierigkeiten mit der schnellen Aufnahmen des schulischen Lehrstoffs hatten, weil das deutsche Ausbildungssystem dies nicht mit besonderen Förderung, sondern mit dem Ausschluss von weiterer Bildung beantwortet. Darüber hinaus haben und nehmen sich deutsche Ausbildungsbetriebe die Freiheit, die Ausstattung einheimischer Bewerber mit nützlichen „Sekundärtugenden“ wie Fleiß und Gefügigkeit für vergleichsweise optimal zu halten, zu Ungunsten der ausländischen Bewerber – was nicht heißt, dass sie besonders begabte und willige ausländische Bewerber prinzipiell ausschließen. Nicht nur die Überbevölkerung, sondern auch ihre ethnische Zusammensetzung verdankt sich also den Selektionskriterien des Kapitals. Die Hauptschule ist das auf bescheidenem Niveau gehaltene Bildungsangebot für die von vornherein Ausgemusterten, die mit keinen Anforderungen an „Exzellenz“-Leistungen behelligt werden, weil für sie die Konkurrenz um irgendwie taugliche Zugangsberechtigungen zum Arbeitsleben bereits gelaufen ist. Umso wichtiger sind für sie Disziplin und eine „gefestigte Haltung“ (so die Familienministerin), die sich v. a. im Respekt vor der Schulordnung zu bewähren hat. So funktioniert dieser Schulzweig in der deutschen Klassengesellschaft – und jetzt werden die Kids frech!
3. Der Skandal, den die entnervten Lehrer mit ihrem Brandbrief auslösen, liegt selbstverständlich nicht in der Funktion der Schule*) für ein Wirtschaftssystem, das einem Teil der Jugend den Einstieg ins „Arbeitsleben“ von vornherein und ziemlich endgültig verwehrt. Er liegt in der Störung des Schulfriedens, mit der dessen Hüter nicht mehr fertig werden; und damit ist schon alles klar: Die sichere Aussicht auf ein Leben „am Rand der Gesellschaft“ wird als gegebene Lage vorausgesetzt – „So ist es eben!“ Tiefer schürfende Analysen, die der Sache „auf den Grund“ gehen, vertiefen genau diesen „Befund“:
„Diese Schüler sind zweifach stigmatisiert. Sie wissen, dass sie als Hauptschüler überhaupt keine Chancen auf eine Lehrstelle haben. Und in der Gesellschaft sind sie stigmatisiert als Ausländer.“ Wenn das der Grund des Elends ist: Sollte man dann das „Stigmatisieren“ nicht einfach mal lassen? Kein einziger Gedanke bewegt sich in diese Richtung. Hauptschüler „mit Migrationshintergrund“ haben ihren doppelten Makel weg, da ist nichts zu machen; das ist schlicht und ergreifend ihre Lebenssituation. Mit der haben sie es alles andere als einfach, das leugnet niemand. Daraus folgt aber bestenfalls das eine: In dieser ihrer Lebenslage muss man ihnen helfen!
„Ganz wichtig ist deshalb, wie man innerhalb der Schule mit diesen Strukturen [!] umgeht.“
Damit nicht am Ende zum Entsetzen aller ordnungsliebenden Bürger die „Polizei an der Schule!“ deren gestörten Frieden reparieren muss.
4. Eine passgenaue Schulpädagogik ist umso wichtiger, als bei den Problemfällen, die von den Rütli-Lehrern angezeigt worden sind, auf die Erziehungsanstalt Nr. 1 der bürgerlichen Gesellschaft, die Familie, überhaupt kein Verlass ist. Im Gegenteil, sie ist selber Teil des Problems, wenn nicht überhaupt dessen Ursache, jedenfalls ist sie in ihrer türkisch/arabischen Variante eine einzige ungute „Struktur“:
„Die Jungen bekommen als ‚junge Prinzen’ ihre Wünsche fast vollständig erfüllt … Jeder vierte türkische Junge erlebt, dass der Vater die Mutter prügelt … So erklärt sich die hohe Akzeptanz solcher Macho-Normen bei türkischen Jugendlichen …“ (Ahmet Toprak, aus Kurdistan stammender Referent für Gewaltprävention in SZ Ostern 06) Und wer meint, solch fundamentalen Entgleisungen wäre mit Erziehungsberatung oder gar mit ein bisschen Vernunft beizukommen, der täuscht sich total:
„Im Grunde müsste die Gewaltprävention schon in der Schwangerschaft anfangen.“ (Die an einer „sozialen Brennpunktschule“ wirkende türkische Pädagogin Sevinç Yada.)
Nach der Seite hin ist also keinerlei Abhilfe in Sicht. Das Problem, leibhaftig oder bereits in der 3. Generation aus Asien zugereiste Jugendliche in hoffnungsloser Lebenslage zu einer „lebensbejahenden Einstellung und angepasster Lebensführung“ zu erziehen, bleibt an der Schule hängen. Die ist damit aber, das weiß man jetzt, eindeutig überfordert. Denn es geht gar nicht bloß um das Fehlverhalten Einzelner. Das dokumentiert nach dem Urteil der politisch Zuständigen vielmehr das ganz grundsätzliche Fehlverhalten einer ganzen Bevölkerungsschicht, die ihre „Stigmatisierung“ mit der Organisation einer „Parallelgesellschaft“ beantworte.
5. So gesehen ist es nur angemessen, wenn als Reaktion auf Prügeleien an der Rütli-Schule ein Ruck durch die deutsche Ausländerpolitik geht. Vorfälle wie diese – so die politische Entscheidung – sind ein Frontabschnitt der Auseinandersetzung mit den „Parallelkulturen“. Die haben sich als Folge von „Migration“ mitten in den Nationen des Abendlands entwickelt und bedrohen – so der Konsens der europäischen Regierungen seit der Ermordung des niederländischen Filmemachers van Gogh – die innere Sicherheit des Gemeinwesens. Angesichts dieser Gefahrenlage wird bedingungslose Anpassung, leitkulturell ausgedrückt: die Integration der „anderen“ ohne Wenn und Aber, zur nationalen Aufgabe. Wie das am effektivsten zu bewerkstelligen ist, welche bisherigen Fehler dringlich abzustellen sind, kurz: über die Methoden der Integration darf wie immer kontrovers diskutiert werden, solange klar ist: Was sich zu ändern hat, ist nicht im geringsten der deutsche Kapitalismus mit den beschissenen Lebensbedingungen, die er in- wie ausländischen Bewohnern des Standorts zumutet, sondern allein und ein bisschen plötzlich die Einstellung der Migranten.
Und einmal mehr ist jetzt wieder endgültig klar: Hier kann die Hauptgesellschaft nicht länger abwarten, bis die Parallelgesellschaft sich mal selber ändert. Der Staat hat gefälligst dafür zu sorgen, dass den Migranten keine andere Wahl bleibt als Anpassung bis zur Unkenntlichkeit: Er hat doch die Mittel – notfalls das Universalheilmittel „Raus!“
Politikersprüchen folgender Art
„Es geht! Wir können erreichen, dass dort (in den Ausländerghettos) unser Wertekanon herrscht und man (!) sich wie in Westeuropa fühlt!“ (H. Buschkowsky, Bürgermeister in Berlin-Neukölln, SPD)
haben Taten zu folgen: Kampf der Integrationsverweigerung! Nicht nur an der Rütli-Schule – aber eine Hauptfront bleibt die Schule schon. Natürlich denkt da keiner an Sonderprogramme, um den Jugendlichen das beizubringen, was ihnen die Selektionsinstanz Schule nicht beibringen wollte, sondern an die schulspezifischen pädagogischen Zuchtmittel: Ausschluss aus der Klassengemeinschaft, Arrest, Internat bzw. Heim – und für die ganz resistenten Integrationsverweigerer bleibt als überzeugendste pädagogische Perspektive immer noch die Abschiebung.
6. Die ganze schöne Aufregung wäre freilich halb verschenkt, wenn die Mehrheitsgesellschaft nicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffe, auch mit sich, mit ihrem Versagen ins Gericht zu gehen: Nein, sie wirft sich nicht vor, die Kinder und Jugendlichen aus dem Immigrantenmilieu einer Konkurrenz zuerst an der Schule, dann auf dem Lehrstellen- und Arbeitsmarkt ausgesetzt zu haben, den diese auf Grund ihrer Bildungsvoraussetzungen verlieren mussten. Sie wirft ihren Erziehungsbeauftragten vielmehr vor, vor lauter „Multikulti“ zu wenig hart gewesen zu sein, so dass sie es versäumt hätten, den Migrantenabkömmlingen die richtige Einstellung beizubiegen: Diese und ihre Eltern haben es ihrer mangelnden Integrationsbereitschaft zuzuschreiben, dass sie in der Bildungskonkurrenz ganz unten gelandet sind und deswegen zu Recht „keine Perspektiven“ auf dem Arbeitmarkt haben. Abrechnung ist daher angesagt mit aller Unsittlichkeit, mit der die Ordnungsfanatiker der Republik schon seit Jahrzehnten abrechnen: Weg mit diesen „multikulturellen Illusionen“, mit dem vergifteten „Erbe von ’68“, mit Relativismus und Vaterlandsvergessenheit!
„Wer soll auch einen Staat und dessen Repräsentanten achten, wenn diese vorrangig Selbstzweifel und Selbstaufgabe verkörpern? Gerade jungen Muslimen, deren agile (!) Religion sich ausbreitet, kann nicht entgehen, wie sehr die christlich-abendländische Kultur in Deutschland in die Ecke gedrängt worden ist.“ (B. Kohle, FAZ, 6.4.)
Die Deutschen müssen sich am Riemen reißen. Ihren christlich-abendländischen Pflichtenkanon aus der Ecke hervorholen. Dem „agilen“ Fremdkörperwesen der Migranten die eigene dogmatische Überzeugungstreue, den eigenen sittlichen Fundamentalismus entgegensetzen. Damit am Ende auch die doppelt „stigmatisierte“ jugendliche Überfluss-Bevölkerung des Kapitalstandorts Deutschland mal richtig merkt, dass sie weder in Sachen Gewalttätigkeit noch in Sachen „agil“-aktiver Borniertheit ihrer „Gastgesellschaft“ das Wasser reichen kann.
*) Zur Funktion der Schule im und für das herrschende Wirtschaftssystem: Freerk Huisken: Weder für die Schule noch fürs Leben. Vom unbestreitbaren Nutzen unserer Lehranstalten. Kritik der Erziehung Bd. 2 (1992), 2. Auflage u. d. T.: Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten, (VSA) ISBN 3-87975-722-4