Nach Aussage seiner Anhänger und Parteigänger handelt es sich beim Rechtsstaat um die größte Errungenschaft demokratischer Zustände, die jeden Einspruch gegen die Staatsgewalt hinfällig machen soll. Gelobt wird, dass der Rechtsstaat den Bürgern ihre Freiheit gewährt und garantiert: dass jedermann im Kanon der Rechte und Pflichten sein Interesse aufgehoben und gegen Angriffe gesichert weiß, zugleich aber auch zum notwendigen Respekt vor allen anderen angehalten wird. Gepriesen wird die Selbstbeschränkung, die sich der Staat mit seiner rechtstaatlichen Verfasstheit auferlegt: dass er nicht mehr als unbedingt nötig in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreift und sich selbst auf ein Vorgehen verpflichtet, das jeder herrschaftlichen Willkür entsagt, jederzeit rechtlich überprüfbar und anfechtbar ist. Weil er seinen Bürgern lauter „Abwehr-Rechte“ gegen Übergriffe seiner Gewalt zugesteht, deswegen soll der hoheitliche Zugriff prinzipiell in Ordnung gehen. Die rechtliche Verfassung soll man sich wie eine allen politischen Interessen, ja dem Staat selber vorausgehende Einrichtung des Gemeinwesens nach höheren Grundsätzen vorstellen, die Herrschaft selber wie ein bloßes Ausführungsorgan allgemeingültiger, eben (menschen, grund)rechtlicher Prinzipien, mit denen ein Urbedürfnis nach gesellschaftlicher Ordnung bedient wird. Auf diese Weise – so die demokratisch gepflegte Grundüberzeugung – herrscht nicht Gewalt, sondern an ihrer Stelle das Recht. Weil sie durch rechtsstaatliche Regeln begrenzt und legitimiert wird, soll die Gewalt gleich gar keine mehr sein.
Die Wahrheit über den Rechtsstaat ist das alles nicht. Dass es sich nicht um die Abwesenheit, sondern um eine Organisationsweise der Gewalt handelt, das weiß jeder Bürger. Das denkt er beim Lob des Rechtsstaats immerzu mit, wenn er ihn an der Vorstellung misst, der Staat könnte ja noch ganz anders gewaltsam in Leben und Eigentum, Handeln und Meinen seiner Bürger eingreifen. Und das merkt man unschwer daran, dass zur Rechtsordnung Justiz und Polizei, Gefängnisse und Strafen, also lauter staatliche Gewalt gegen Person und Eigentum dazugehören.
Die staatlich erlaubte Existenz …
Mit dem Erlass allgemeingültiger Rechtsregeln und ihrer Durchsetzung sichert sich der Staat das Gewaltmonopol: Der Rechtsstaat etabliert die staatliche Hoheit in Form einer über allen gesellschaftlichen Interessen stehenden Gewalt, die verbindlich und gegebenenfalls mit dem Einsatz von Zwangsmitteln feststellt, was wem zusteht. Seine Instanzen allein sind zur Ausübung von Gewalt berechtigt, die Bürger sind ihr verbindlich unterworfen und haben sich ihrer strikt zu enthalten.
Alles, was den Bürgern an Freiheit eröffnet wird, ist Ergebnis rechtsstaatlicher Gewährung. Das Recht erlaubt ihnen ihren gesellschaftlichen Umgang, es schreibt ihnen dabei aber auch die „Spielregeln“, also die Schranken vor. Ihre Interessen, die sie bei Geschäft, Arbeit und Genuss verfolgen, gelten nur soweit, wie es die Rechtsgrundsätze genehmigen. Ihre Geltung ist davon abhängig, ob sie durch „Anspruchsgrundlagen“ im Gesetz gestützt werden. Nur so und nur dann wird aus Bedürfnissen ein Recht; dann haben sie aber auch gegen widerstreitende Ansprüche die Gewalt des Staates auf ihrer Seite. Damit sind alle Beziehungen – auch in ihrer „privatesten“ Gestalt – keine Sache mehr, die die Mitglieder der Gesellschaft unter sich ausmachen, sondern alles, was sie wollen und tun, ist bezogen auf die und eingerichtet nach den funktionalen Grundsätzen der obersten Gewalt. Was der freie Bürger treibt, ist ihr Werk und dient ihrem Bestand. Nur so, von höchster Stelle legitimiert, finden Bedürfnisse und Interessen Anerkennung; dann sind sie aber auch durch Anrufung der Staatsgewalt erzwingbar, und das macht die Auseinandersetzungen zwischen den lieben Mitmenschen so unversöhnlich.
…verpflichtet die Bürger auf gegenseitige Schädigung, …
Und Auseinandersetzungen gibt es mehr als genug. Denn die Beseitigung jeder persönlichen Abhängigkeit, die das Recht stiftet, legt jedes Mitglied der Gesellschaft auf die Grundsätze von Privateigentum und Freiheit der Person fest: Jeder ist darauf verwiesen, seinen Lebensunterhalt als Privatperson selbst und mit den Mitteln zu bestreiten, die ihm als Eigentum ausschließlich – andere ausschließend, aber auch von allem anderen ausgeschlossen – zur Verfügung stehen. Je nachdem, ob überhaupt und wie viel Eigentum einem zur Verfügung steht, gestaltet sich die Freiheit zur Betätigung der Person recht unterschiedlich: Die einen, Besitzer von Geld und sachlichen Mitteln, sind auf die Vergrößerung ihres Privatbesitzes aus und konkurrieren darum; die anderen stellen sich mit ihrer Arbeitskraft für die Mehrung fremden Reichtums zur Verfügung, um zu leben, weil sie von den Mitteln der Reichtumsproduktion ausgeschlossen sind. Diese Gegensätze innerhalb der kapitalistischen Geschäftswelt, zwischen Käufern und Verkäufern, zwischen Fabrikbesitzern und Arbeitskräften sind also keine dem Staat vorausgehende, naturgegebene Gesellschaftsverfassung, der er mit seinem Recht dient. Im Recht kodifiziert er diese Gesellschaftsordnung als alleroberstes Staatsinteresse.
…während die Rechtsordnung nicht beschädigt werden darf.
Kein Wunder, dass das Recht Kollisionen nicht verhindert. Es macht Streitigkeiten umgekehrt notwendig, unterwirft aber ihre Austragung seiner Kontrolle und dringt auf die Einhaltung der Gesetze. Weil diese alle Interessen mit ihrer Zulassung zugleich beschränken, wenn sie sie auf die auf den erlaubten Weg verpflichten und alle alternativen Strategien der Interessensverfolgung verbieten, gehört zum Recht der Rechtsbruch. Das überrascht den Staat überhaupt nicht, er rechnet im Gegenteil damit und legt genauestens fest, was gelten soll, wenn gegen die Geltung der Gesetze verstoßen wird. Er unterwirft also alles Treiben seiner Aufsichtsmacht, misst es am Gebotenen und Verbotenen und setzt seinem Urteil entsprechend laufend das Recht durch: Bei Verstößen stellt er die von ihm gemeinte Ordnung dadurch wieder her, dass er die einschlägigen Taten als Angriff auf seine Rechtsordnung wertet und ahndet. In seinen Strafgesetzen definiert er penibel, was er als Vergehen ansehen will, was noch erlaubt, was schon verboten ist; er legt fest, wo sich die Bürger gegenüber seiner staatlichen Autorität zuviel herausnehmen und damit die Ordnung untergraben, listet alles als „Tatbestände“ säuberlich auf, versieht sie mit einem „Strafmaß“ als „Rechtsfolge“ und hält Richter und Polizei an, das Gesetz entsprechend zu vollstrecken. Er stellt also laufend das verletzte Recht wieder her, wie es sich für eine Gewalt gehört: indem er Person und Eigentum des Übeltäters angreift. So erhält er trotz aller geschädigten Interessen die seiner Hoheit dienliche gesellschaftliche Ordnung aufrecht.
Mit der Rechtsordnung beherrscht der Rechtsstaat die Gesellschaft
Indem die politische Gewalt alles in Rechtsverhältnisse verwandelt, sichert sie sich also ihren selbstverständlichen, umfassenden und automatischen Durchgriff auf sämtliche Verhältnisse. Alles ist Staatsangelegenheit und dem im Gesetz verobjektivierten Staatswillen verpflichtet, nichts dem Belieben und der Willkür überlassen. Wenn beim Staat Unzufriedenheit mit der Ausgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung aufkommt, dann erfolgt die vorzunehmende Änderung als eine Änderung der Rechtsgrundsätze durch die dafür zuständigen staatlichen Instanzen. Die Politiker, und nur sie, genießen die Freiheit als Gesetzgeber, das Recht laufend aus- und umzugestalten. Und die nehmen sie ausgiebig wahr, weil ihr Korrekturbedarf sich dauernd regt. Jede Leistung, die die Gesellschaft nicht erbringt, alle Kollisionen, die den erwünschten Gang der staatlichen Dinge stören, werden staatlicherseits als Mängel am Recht verbucht. Das eine Mal klappt es mit der Aufsicht nicht wie gewünscht; das andere Mal mit den Erträgen, die der Staat als seinen Nationalreichtum verbucht. Jedes Mal übersetzt sich das für eine Staatsgewalt, die das Recht als Instrument für ihren Erfolg schätzt und handhabt, in ein Rechtsproblem, das es zu lösen gilt. Sie verschafft ihren Interessen Geltung, indem sie immer wieder neue, aber dann eben auch immer wieder allgemein gültige und für jeden verbindliche Rechtsvorschriften erlässt, an die sich jeder zu halten hat. Auch und gerade die Staatsinstanzen selber sind davon nicht ausgenommen. Dort, wo Macht ausgeübt wird, da soll es nach allgemeingültigen Grundsätzen sein. Deshalb ist von den Kompetenzen der verschiedenen Staatsorgane über die Verfahrensweisen beim Rechtsetzen und Regieren bis zur Bestellung des Personals und zur Überwachung seiner Amtsführung alles rechtlich geregelt, also staatlicher Selbstkontrolle unterworfen. Von einer Beschränkung oder gar Zurücknahme der Gewalt kann allerdings schon deshalb keine Rede sein, weil Kontrolleure und Kontrollierte Instanzen derselben Sache, nämlich der souveränen Staatsgewalt sind. Die etabliert alle Beziehungen als Rechtsverhältnisse – die zwischen den Staatsorganen, die der Behörden zu den Untertanten, die zwischen den Bürgern, und alles noch einmal gesondert unter dem Gesichtspunkt des strafbaren Verstoßes gegen das jeweils geltende Recht. Damit unterwirft sie die gesamte Gesellschaft ihren Willen und den Maßgaben die sie setzt. Nicht das Recht herrscht also mit Hilfe der staatlichen Gewalt, sondern der Staat herrscht der kapitalistischen Gesellschaft mit seinen rechtsstaatlichen Methoden die passenden Regeln auf und organisiert seine Hoheit über diese Verhältnisse.
Der berechtigte Bürger
Dabei dringt die Gewalt, die sich als Rechtsstaat organisiert, darauf, dass sie sich in allen, den entscheidendsten wie den alltäglichsten Lebensbedingungen ihrer Bürger mit ihren rechtlichen Regelungen auf Zustimmung, Einsicht in deren Notwendigkeit, also willentliche Unterwerfung stützt. Jeder soll quasi automatisch, gewohnheitsmäßig das Recht anerkennen und der Gewalt seinen Tribut zollen, indem er nur so vorgeht, wie das Recht es befiehlt bzw. gestattet. Dieses Verlangen wird vom Bürger im Prinzip positiv beschieden. Die rechtsstaatliche Gewalt kann sich erstens der unausgesprochenen Zustimmung sicher sein. Schließlich treten den Mitgliedern der Gesellschaft die durch das Recht kodifizierten Verhältnisse als feste, unverrückbare Ordnung gegenüber, in der sie nach den Grundsätzen von Person und Eigentum selbständig ihr Glück suchen müssen, aber auch dürfen. Hineingestellt in den Zwang der rechtlich geregelten Lebensbedingungen, beziehen sich die Konkurrenzsubjekte auf sie als Ansammlung von Chancen, um die Herausforderungen zu meistern, die das private und gesellschaftliche Leben eines Geschäfts- oder Arbeitsmannes so mit sich bringt. Insofern kommen sie sich zweitens überhaupt nicht unterdrückt vor, sondern betrachten das Recht als ihre Sache: Sie haben ja „ihre“ Rechte, brauchen sich längst nicht alles bieten zu lassen und können im Streitfall sogar die Gerichte anrufen; dort erfahren sie dann, ob ihr Begehren vor dem Gesetz zählt oder nicht. Das tut der Anerkennung beim Bürger normalerweise keinen Abbruch. Wenn sie sich mit dem wirklichen Recht konfrontiert sehen, nehmen sie von diesem Standpunkt keineswegs Abstand, sondern betrachten das geltende Recht drittens ideell als Angelegenheit in ihrem Sinne und im Dienste ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen. Jede Begegnung mit den wirklich geltenden Gesetzen beflügelt nur den Vergleich ihrer eigenen Rechtsvorstellungen, ihres „subjektiven Rechtsempfindens“ mit den staatlichen, den „objektiven Rechtsgrundsätzen“. Als rechtschaffener, moralisch urteilender Mensch fasst er diese Regelungen wie die mehr oder weniger gelungene Verwirklichung der sittlichen Gebote auf, denen er sich verpflichtet weiß, auf die er sich bei der Anmeldung seiner Interessen beruft, an denen er sie aber auch relativiert. Als deren Ausführungsorgan begreift er Recht und Rechtsstaat.
Dieser Parteinahme für gerechte Zustände in der Welt verleiht das gültige Recht nicht nur beständig Material und Denkanstöße; als immerzu in Erlaubnissen und Geboten, Rechten und Pflichten denkende Subjekte werden die dem Recht Unterworfenen auch im Recht selber berücksichtigt. Der Bürger wird als ideeller Repräsentant der staatlich erlassenen Gesetze behandelt: Er ist als Rechtssubjekt anerkannt, das das Recht als solches will, also seine Ansprüche nach Maßgabe der „Rechtslage“ sortiert und auferlegte Pflichten erfüllt. Umgekehrt heißt das, dass bei jeder Rechtsverletzung der Wille zur unrechten Tat geprüft, die Schuld festgestellt und entsprechend geahndet wird, weshalb die Strafe für Diebstahl sich nicht nach dem Wert der geklauten Ware, sondern nach dem „Unrechtgehalt“ der Tat und der „kriminellen Energie“ des Täters richtet. Im so definierten Willen zum Recht besitzen die Rechtsinstanzen ein allgemeingültiges Prüfkriterium, wo der Delinquent auf der breiten Skala zwischen Rechtstreue und feindschaft einzusortieren ist. Indem sie dem Beschuldigten nach bestimmten Verfahrensregeln Gelegenheit geben, Argumente und Beweise für seine Unschuld vorzulegen, sorgen sie dafür, dass die Richtigen im richtigen Maß bestraft werden, und sichern sich zugleich die prinzipielle Zustimmung einer Gesellschaft, die laufend unters Recht gebeugt wird. Unzufriedenheit und Kritik äußert sich als verletztes Gerechtigkeitsgefühl, die geschädigten Interessen wissen sich auf den Rechtsweg verwiesen, wo beschieden wird, ob ihre Schädigung dem geltenden Maßstab entspricht, also im Interesse des Rechtsstaats liegt.
(Auszug aus: GegenStandpunkt 2-95:Die Reform des Rechtsstaats)