Der Nichtwähler

Im März war Landtagswahl in Baden-Württemberg – mit „historisch niedriger Wahlbeteiligung“ (FAZ). Nur 54% des landeseigenen Wahlvolks begab sich an die Urnen.

Praktisch macht das erst mal gar nichts. Das, worum es bei einer jeden Wahl geht, kommt nämlich bei jeder Wahlbeteiligung zustande: die Bestallung einer Regierung, die ihren Landeskindern für die nächsten Jahre verbindlich vorschreibt, was zu tun und auszuhalten ist. Wenn diese Regierung, wie in Ba-Wü geschehen, auch noch die deutliche Mehrzahl der abgelieferten Stimmzettel erhält, dann ist erst recht alles in Ordnung, die „Regierungsmehrheit stabil“ und das Volk „regierbar“. Soweit alles prima! Dennoch gibt die wachsende Zahl der Nichtwähler Anlass zu allerlei mehr oder weniger besorgten Überlegungen seitens politischer Beobachter über die Gründe derart zahlreicher staatsbürgerlicher Pflichtvergessenheit. Gefunden wird alles mögliche: das schlechte Wetter, die allgemeine „Politikverdrossenheit“, der sowieso sichere Wahlsieg Oettingers, die Unzufriedenheit mit dem (sozial)politischen Konzept sämtlicher Parteien oder die Zeitumstellung … .

Diese völlig disparate Vielfalt der vermuteten Motive hat ihren Grund in der Inhaltsleere der zu „erklärenden“ Aktion. Der Nichtwähler ist das negative Abziehbild des Wählers: er verweigert das Kreuzchen, das dieser aufmalt. Und genauso wenig wie es beim Wählen auf die Gründe für das Wahlkreuz ankommt, kann das Nichtwählen irgendwelche Inhalte zum Ausdruck bringen. Der Witz am „Wählerauftrag“, auf den sich jede demokratische Regierung beruft, ist nämlich gerade seine Einsilbigkeit. Den Inhalt dessen, wozu sich die Regierung beauftragt sieht, legt nicht die Vielzahl der Stimmzettel fest – wie denn auch, wo da bloß sachlich so Bedeutsames wie Kreuzchen oder Stanzlöcher drauf ist – , sondern die Regierung selbst – nach der Wahl. Vor der Wahl unterbreiten die Regierungsanwärter dem Wahlvolk Angebote, die dieses selber nicht in Auftrag gegeben hat. Jeder Wähler kann sich die nach eigenem Gutdünken als für seine Stimmabgabe ausschlaggebend zurechtüberlegen, ja er muss sie für eine erfolgreiche Stimmabgabe noch nicht einmal kennen. Die geheime Wahlstimme macht keinen sachlichen Unterschied hinsichtlich der Motivation und des Informationsstands des Stimmberechtigten. Das Wählervotum besteht in einer Anzahl von Wahlkreuzen, und die Partei, die die Wahl gewonnen hat, besitzt damit auch die Kompetenz, darüber zu befinden, was der Wähler mit der Annahme ihres Angebots „eigentlich“ gemeint hat. Das ist der demokratische Regierungsauftrag: frei zu entscheiden, worauf der erteilte Auftrag lautet.

Ein Wahlkreuz nicht zu malen ist genauso wenig eine sachliche Aussage wie die Abgabe einer Wahlstimme. Ob damit grundsätzliche Zustimmung, Gleichgültigkeit oder Protest „ausgedrückt“ wird, sieht man dem fehlenden Wahlkreuz so wenig an wie dem abgegebenen. Gerade deshalb kommt auch bei der miesesten Wahlbeteiligung immer eine auszählbare Mehrheit für eine der Regierungsalternativen zustande. Was die Nichtwähler motiviert hat, braucht die Gewählten nicht weiter zu interessieren. Wenn sie und ihre publizistischen Sprachrohre sich bemühen die massenhaften Stimmenverweigerung interpretatorisch mit Inhalt zu erfüllen, dann immer vom Standpunkt aus, dass irgendetwas schief gelaufen sein muss, weil sich wählen prinzipiell gehört.

Eines nämlich unterscheidet den Nichtwähler grundsätzlich vom Wähler. Letzterer gibt bei aller Inhaltsleere einfach nur dadurch, dass er zur Wahl geht, im Grundsatz seine Zustimmung dazu, dass eine der zur Wahl stehenden Parteien an die Macht kommt. Diese formelle Zustimmung zum regiert Werden liefert der Nichtwähler nicht ab, auch wenn er bloß deshalb nicht wählt, weil ihm Stimmlage, Geschlecht oder Krawattenfarbe der Regierungskandidaten nicht passen. Und (nur) darin macht sich die demokratische Herrschaft von den von ihr Regierten „abhängig“: nicht in dem, was sie tut, aber in der Legitimation, auf die sie sich beruft. Dass die Gewalt über das Volk im Auftrag des Volkes ausgeübt werde und deshalb gar keine Gewalt sei, diese Grundsatzideologie der Demokratie kriegt kleine Kratzer, wenn das Volk nicht zur Auftragserteilung antritt. Dann muss es sich darauf hinweisen lassen, dass das Recht zur Wahl eigentlich als Pflicht gemeint ist.

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