Alternative Sinnstiftung – fernöstlich
Der Dalai Lama besucht Deutschland und wird nicht nur von der Kanzlerin empfangen, sondern auch von der Bevölkerung gefeiert. Mit seinen Vorträgen füllt er Stadien und Hörsäle. In Umfragen ist er beliebter als der deutsche Papst. Der Spiegel (29/07) erläutert: „Viele Menschen im Westen suchen einen spirituellen Tröster.“ Sie nehmen diesen wandelnden „Ozean der Weisheit“ als Ratgeber bei der Bewältigung des rauen kapitalistischen Alltags. Manch gestresstem Großstädter „tut er total gut: Durch ihn komme ich auf andere Gedanken.“ Auf welche Gedanken man durch ihn dann kommt, stellt allerdings weder seiner Weisheit noch dem Geisteszustand derer ein gutes Zeugnis aus, denen er zum Wohlsein verhilft.
Erstens sind es überhaupt keine anderen Gedanken, deren man teilhaftig wird, wenn die 14. Wiedergeburt seiner Selbst die fernöstlichen Botschaften unters westliche Volk streut: „Finde dein innerstes Selbst! In der Ruhe liegt die Kraft! Der Weg ist das Ziel.“ Solche Weisheiten fassen so in etwa zusammen, was man in der Rubrik ‚Lebenshilfe‘ auch sonst überall geboten bekommt, womit aber auch der Deutsche Alpenverein fürs Bergsteigen Werbung macht.
Zweitens ist es sehr bedenklich, wenn einem Sinnsprüche dieses Kalibers auch noch ‚total gut tun‘. Lebenssinn heißt das in hohem Ansehen stehende Bedürfnis, von dessen Befriedigung auf diese Weise erfolgreich Vollzug gemeldet wird. Diese verbreitete Sitte, die hierzulande die geistige Kultur adelt, macht gar kein Hehl daraus, welch niederer Beweggrund da den Gedanken leitet: Wer Sinn für sein Leben sucht, den treibt das Bedürfnis, sich enttäuschungsfrei positiv zur Welt stellen zu können. Er wünscht sich einen Gesichtspunkt, der ihm letztinstanzlich Zufriedenheit mit allem besorgt, was er sein Lebtag lang durchmacht, also wider alle seine Erfahrungen Harmonie in der Welt der Gegensätze stiftet, in der er sich umtreibt. Ausdrücklich jenseits von allem, womit er sich zu seinem Missbehagen herumzuschlagen hat, will einer da wenigstens ideell auf seine Kosten kommen – und verschafft sich die verlangte Befriedigung durch die entsprechend sinnige Deutung seiner Welt und vor allem durch die unermüdliche Pflege seiner eigenen Stellung zu dieser: Im Wege des strikten Absehens von allen wirklichen Mächten, denen das eigene Tun unterworfen ist, imaginiert man sich als Subjekt, das sich zur Stiftung von Zufriedenheit hauptsächlich darum zu bekümmern hat, dass es im Einklang mit sich lebt. Also sucht man nach seinem ‚Selbst‘, hört in sich hinein und macht dann wohl auch seine einschlägigen metaphysischen Erfahrungen. Man verspürt die Kraft, die einem dadurch zuteil wird, dass man alles nicht mehr so wichtig nimmt und den Imperativ beherzigt, sich bloß über nichts aufzuregen. In der Weise pausenlos auf sich ein- bzw. sich dementsprechend gut zuzureden, darin besteht sie, die hohe Kunst des positiven Denkens: Wer sich nichts mehr vornimmt im Leben und seinen trostlosen Alltag als Weg zu sich selbst ‚begreift‘, kann auch nicht mehr enttäuscht werden. Darin besteht das prima Lebensgefühl, der ‚spirituelle Trost‘, den „seine Heiligkeit“ aus Tibet spendet: Das Ich ruht im Selbst, mit Ruhe wird aus einem Sandkorn eine Perle – wer daran glaubt, den kann die Welt am Arsch lecken, weil er sie komplett im Griff hat.
Der Irrationalismus, sich einen höheren und eigentlichen Lebenssinn vorzustellen, nimmt in den zivilisierten Gemeinwesen des Abendlands seinen festen Stammplatz ein. In einer Gesellschaft, in der die Einzelnen unvereinbare Interessen gegeneinander verfolgen müssen und dabei zugleich voneinander abhängig sind, ist das Scheitern immer inbegriffen. Kein Wunder, dass das Bedürfnis nach einem Glauben, trotz allem in einem gemeinsamen Höheren aufgehoben zu sein, ständig neue Nahrung erhält. Aufgeklärte Bürger geben das selber zu Protokoll, wenn sie den Bedarf nach Sinn mit der sedierenden Wirkung auf ihren Gemütszustand begründen: Manche brauchen den Herrn Jesus, manche eben den Herrn Lama, um das Leben leichter auszuhalten. Der wirkt quasi wie eine Schmerztablette, aber ohne Chemie. Religion ohne Fegefeuer; Psycho ohne Sektenverdacht; die Botschaft ‚Don’t worry, be happy!‘ von einem „Gott zum Anfassen“.
Ein nützlicher Idiot antichinesischer Menschenrechtsdiplomatie
„Wir sind die Pandabären der internationalen Politik. Jeder mag uns, aber keiner tut was für uns.“ Was der Dalai Lama in einem Anfall ironischer Selbsterkenntnis sagt, trifft die zwiespältige Rolle, die er als oberster Tibeter in der Staatenwelt hat, auf seine Weise durchaus.
Ein Gottkönig im Exil …
Der 14. Dalai Lama ist politischer Herrscher und Glaubensführer, dem sein Staatsgebiet, seine Regierten und seine Heimatgemeinde abhanden gekommen sind. Das ist das Resultat des Anschlusses Tibets an die Volksrepublik China: 1950 kippt Peking die seit 1913 proklamierte einseitige Unabhängigkeit Lhasas. Die Armee besetzt das Hochgebirgsland, der Dalai Lama als „oberster weltlicher und geistiger Führer des Volkes“ wird entmachtet und auf sein Kirchenamt reduziert, Tibet ist seitdem autonome Provinz Chinas und sukzessive von ethnischen Chinesen besiedelt worden. Nach dem Aufstandsversuch des Dalai Lama und seiner Getreuen wird er 1959 verjagt. Indien schenkt ihm eine Mini-Enklave, von dort aus und seitdem agiert Nr. 14 als „Vorsitzender der Exilregierung Tibets“, die bis heute allerdings kein Staat der Welt anerkennt.
An all dem möchte der Mann gerne etwas ändern. Er ist Staatsmann und Patriot genug, um den Verlust seiner politischen und religiösen Macht mit den Leiden seines Volks bzw. seiner Gemeinde gleichzusetzen und in deren Namen den Verlust des bekannten Grundnahrungsmittels „kulturelle Identität“ zu beklagen, das armen Reisbauern, Sherpas und Mönchen am meisten fehlt. Er weiß aber auch, dass er als Herrscher ohne jede materielle Basis – null Waffen, null Öl, keine dienstbare Nationalökonomie und keine Staatsbürger in Uniform – auf mächtige Paten in der ausländischen Staatenwelt verwiesen ist, die ihm zur Rückkehr und Tibet zur Unabhängigkeit oder wenigstens zur Autonomie verhelfen. Und tatsächlich finden die Regierungen reicher und mächtiger Nationen eine gewisse Verwendung für diesen Freiheitskampf, allerdings nicht genau die, die sich der Dalai Lama gewünscht hätte
… sucht Anerkennung für seine Ansprüche auf weltliche Herrschaft
Für die Staaten des Freien Westens war und ist die Unabhängigkeit Tibets kein politisches Ziel. Sei es, dass man sich auf die Insel Taiwan als Speerspitze gegen die weltpolitischen Ansprüche der VR China verlegte, sei es, dass ein Priesterkönig ohne Land & Volk kein übermäßiger Stachel im Fleisch des ehemaligen Hauptfeinds Nr. 2 ist: Ein weltmächtiges Interesse, das sich ernsthaft für eine Staatsgründung Tibets stark gemacht hätte, hat sich jedenfalls bis heute nicht gefunden. Aber eine diplomatisch berechnende Zuneigung erfährt der bedrohte Tibetpanda im Westen schon. Dafür wird seinen Ambitionen ihr politischer Charakter ab- und ausschließlich spirituelle Qualität zugesprochen. Sein Einsatz für „kulturelle und religiöse Autonomie“ sei, so referiert der deutsche Regierungssprecher den Dalai Lama, von „friedlicher und gewaltfreier Natur“, was „ein Streben nach Unabhängigkeit Tibets von der Volksrepublik China ausdrücklich ausschließe“. Die Unterdrückung derart harmloser kultureller Bedürfnisse findet dann Eingang in die lange Liste der „Menschenrechtsverletzungen“, die die Gastgeber des tibetischen Exilregenten Chinas Führung vorrechnen, wann und wofür es ihnen ins Kalkül passt.
In Deutschland, den USA oder Kanada: immer ist der Empfang des Dalai Lama ein diplomatisch ausgeklügeltes Protokoll westlicher Chinapolitik, das Chinas KP eine Mischung aus Kampfansage und Partnerschaftsansprüchen übermittelt. Der fromme Gast aus Tibet wird von den Regierungschefs in ihrem jeweiligen Amtssitz, also im Kanzleramt, im Weißen Haus und im Büro des kanadischen Premierministers empfangen, aber nicht als Staatsmann, sondern als religiöser Führer. Die „Begegnungen“ finden durchaus öffentlich und unter Anteilnahme der Weltpresse statt, protokollarisch wird aber darauf geachtet, diese Treffen als „privat“ zu deklarieren. Den netten „pazifistischen buddhistischen Mönch“ (der kanadische Staatsekretär Kenney) im Verlangen nach „kultureller Unabhängigkeit seines Volkes“ unterstützen zu wollen, das betonen sowohl Harper als auch Bush und Merkel. Das sei aber, so betonen sie ebenfalls „keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas“ (Bushs Sprecher Tony Fratto). Das stimmt aber nicht so ganz. Nicht unterstützt wird tibetischer Separatismus – mehr Raum für „nationale Identität“ sollte aber schon sein. Nicht angezweifelt wird die völkerrechtliche Legitimität der chinesischen Landnahme, „religiöse und kulturelle Autonomie“ Tibets wird aber gefordert. Volksvertreibung oder Beschneidung des Rechts auf Heimat wird China nicht vorgehalten, beklagt wird aber die „Not des tibetischen Volkes“, die in der Beschneidung seiner Religionsfreiheit wurzeln soll. Auf diese Weise wird im Namen der Tibeter ein grundsätzlicher Einwand gegen die chinesische Souveränität auf den Weg gebracht, aus dem man momentan keine praktischen politischen Konsequenzen ziehen will, der Tibet aber als offene Frage und stets abzurufenden Anlass für Einmischung in chinesische Souveränitätsfragen am Leben erhält.
Ein Besuch des Dalai Lama eignet sich für diese Strategie, Chinas inneren Angelegenheiten den inneren Charakter zu bestreiten, ohne daraus konkrete politische Ansprüche abzuleiten. Der Mann ist nämlich dem eigenen Anspruch nach religiöses und politisches Oberhaupt Tibets in Personalunion. Die beiden Seiten werden diplomatisch auseinandergenommen: Als religiöses Oberhaupt wird er mit Respekt und Beifall überschüttet, aber nicht als Staatsmann geladen oder gesponsert. Man trennt ihn von der politischen Mission, für die er steht und verweigert ihm damit die Anerkennung als weltliches Oberhaupt, ohne dass diese Funktion damit völlig getilgt wäre: Sie besteht als Anspruch im Selbstverständnis des Dalai Lama und sie ist Bestandteil der „kulturellen Identität“, deren Freisetzung man von China so vehement fordert. Diese „Kultur“ kennt die Trennung zwischen Staat und Religion nämlich gerade nicht, also auch keinen Dalai Lama, der bloß buddhistischer Ober-Mönch ohne weltliche Funktion ist. Gerade deshalb greifen die westlichen Führer, die bei islamischen Führern unerbittlich auf einem expliziten Bekenntnis zur Trennung von Religion und Staat bestehen, sehr wohl eine „innere Angelegenheit“ des aufstrebenden wirtschaftlichen und weltpolitischen Konkurrenten China an, wenn man „bloß“ religiös-kulturelle Autonomie Tibets fordert. Denn China will wie die modernen westlichen Staaten seine Herrschaft nicht mit einem Geistlichen teilen, der aus seinem religiösen Amt einen Anspruch auf weltliche (Mit)Regierung ableitet.
Das ärgert China
China versteht die Botschaft und reagiert verärgert auf die Empfänge und die damit verbundenen Ehrungen. Es sieht das Verhältnis von politischem und göttlichem Auftrag des Dalai Lama nämlich eher umgekehrt: „Der Dalai Lama betreibe separatistische Aktivitäten unter dem Deckmantel der Religion, kritisierte das (chinesische) Außenministerium.“ (dw-world.de) Natürlich ist den Staatschefs der westlichen Nationen durchaus bekannt, dass China das so sieht; deshalb haben sie den frommen Mönch schließlich wie einen Staatsmann empfangen – aber eben bloß wie und nicht als. Wenn die chinesische Regierung „wütend“ wird über diese „Einmischung in innere Angelegenheiten“, dann war das einerseits durchaus beabsichtigt und dient nur als Beweis dafür, wie berechtigt die Gegnerschaft gegen ein Unterdrückerregime ist, das tibetischen Gläubigen die religiöse Entfaltung versagt. Andererseits wird der chinesischen Aufregung entgegengehalten, dass sie künstlich und völlig überflüssig sei. Die Einladung eines Religionsführers könne doch wohl die guten wirtschaftlichen Beziehungen zu China nicht beeinträchtigen. Man will China nämlich für die eigenen wirtschaftlichen und politischen Ambitionen benutzen und gleichzeitig seine wachsende Macht beschränken. Dafür ist der Dalai Lama ein passender diplomatischer Einspruchstitel.