Eine Lehrstunde über das hohe Gut der privaten Freiheit und ihre Schranken
Das politisch liberale Deutschland ist zufrieden: Das Bundesland NRW hatte ein Gesetz zu Online-Durchsuchungen gemacht, das ging vor das Bundesverfassungsgericht und dieses hatte im Februar dazu ein Grundsatzurteil getroffen und Änderung verlangt. Nach einmütiger Auffassung aller Freunde des liberalen Rechtsstaates haben die Verfassungsrichter für Online-Untersuchungen hohe rechtliche Hürden errichtet und damit die Bürger als Nutzer ihrer Computer vor dem Zugriff des Staates geschützt. Ein neues Grundrecht haben sie aus der Taufe gehoben, das „auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Die Verfassungsrichter behaupten mit ihrem Urteil glatt, der Bürger müsse in seiner Privatsphäre vor der Wissbegierde seiner Politiker geschützt werden. Auffallend ist bloß, dass dieser angebliche „Schlag gegen die Phalanx jener Innenminister in Bund und Ländern, in deren Amtsverständnis die Ordnung stets vor Freiheit und Gesetz rangiert“ (FR, 28.2.), nicht nur bei den erfolgreichen Klägern und ihren Anhängern Genugtuung ausgelöst hat. Auch die Riege der Politiker, die mit innovativen Techniken der Kontrolle und Ausspähung Deutschland immer sicherer machen wollen, sieht sich mit dem Urteil gut bedient, selbst wenn sie dafür ihre Entwürfe etwas umschreiben müssen.
Die „Schutzlücke“, die für deutsche Bürger geschlossen werden soll, haben die Richter aufgrund staatlicher Praktiken . Seit die Informationstechnologie in Beruf und Freizeit Einzug gehalten hat, interessiert sich nämlich eine Abteilung staatlicher Behörden für die Daten der Bürger. Die Innenministerien haben ihre verbeamteten Techniker angewiesen, mit dem allgemeinen technischen Fortschritt Schritt zu halten. Wie damals bei der Wohnung und beim Brief und später beim Telefon bleibt die Staatsmacht eben auch im Zeitalter der Informationssysteme auf der Höhe der Zeit und will sofort und überall dort nachschauen können, wo ihre Bürger Gedanken und Absichten ablegen und anderen mitteilen. Die herrschende Gewalt will ihren Untertanen am liebsten immer einen Schritt voraus sein, weil sie von vornherein mit einem der Herrschaft unliebsamen Gebrauch der Technik rechnet. Wache Sicherheitspolitiker und ihre Dienste warten deshalb auch nicht auf die rechtsförmliche Erlaubnis und Vorgaben von Verfassungshütern. Sie lassen immer umgehend Kontrollmaßnahmen für alle Fälle entwickeln. Vorausschauende Politiker exekutieren eben das oberste Grundrecht einer Herrschaft auf ihre Sicherheit und Kontrolle ihrer Bürger. Davon legen die zahlreichen polizeitechnischen Initiativen der letzten Zeit von der automatischen Erfassung von Autokennzeichen bis zur Ausspähen von PCs usw. ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Darüber hinaus – wie in NRW geschehen und anderswo geplant – besorgen sie sich und ihren Behörden von ihren Parlamenten auch die zugehörige rechtliche Grundlage, die den staatlichen Zugriff auf private Daten regelt. Schließlich beherrschen sie ihr Volk nicht willkürlich, sondern streng rechtsstaatlich gewaltengeteilt.
Irgendwas fehlt jedoch nach Ansicht der Karlsruher Richter, weswegen sie das NRW-Gesetz für nichtig erklären: So einfach, wie sich da Minister das Spionieren und Kontrollieren von ihren parlamentarischen Mehrheiten freihändig genehmigen, geht das nicht. Den roten Roben fehlt eine etwas grundsätzlichere Klarstellung über das Verhältnis Staat/Bürger in Sachen ‚Computer und Internet‘: Eine fundierte Zuständigkeitserklärung für die Untertanen, die einer bürgerlichen Staatsgewalt würdig ist, beginnt nicht erst beim Missbrauch von gesellschaftlichen Ressourcen, sondern beim stinknormalen, angepassten Gebrauch. Denn es ist laut BVG so, dass
„die Nutzung der Informationstechnik für die Persönlichkeit und die Entfaltung des Einzelnen eine früher nicht absehbare Bedeutung erlangt hat; […] dass die jüngere Entwicklung der Informationstechnik dazu geführt hat, dass informationstechnische Systeme allgegenwärtig sind und ihre Nutzung für die Lebensführung vieler Bürger von zentraler Bedeutung ist“ (BVG-Urteil).
Daher ist es höchste Zeit – so die Richter – dass der deutsche Staat sein Verhältnis zu den „informationstechnischen Systemen“ auf angemessene Weise ausdrückt. Eine vollendete rechtsstaatliche Ordnung, mit der anspruchsvolle Bürger und gar Verfassungsrichter zufrieden sein können, geht nämlich nicht mit dem in Polizeigesetze gefassten staatlichen Verdacht gegen die Bürger los. Die beginnt mit einer ausdrücklichen Vertrauenserklärung des Staates in das systemkonforme Tun der Bürger, also mit einer Art von allgemeiner Lizenz zum IT-Gebrauch. Der deutsche Staat hat also das digitale Klicken und Surfen seinen Bürgern erst einmal als Rechtsgut der privaten Freiheit zu schenken – er hat es neben der „Unverletzlichkeit der Wohnung“ und dem „Post- und Fernsprechgeheimnis“ als eigenständigen „Kernbestand“ des „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ Art. 2 GG, also als elementares Grundrecht „zu gewährleisten.“ Und wenn es das gibt, dann können Gesetze „das Nähere regeln“, wie es so schön im Grundgesetz heißt, in denen alle soeben gewährten Freiheiten eingeschränkt werden, damit Polizei und Verfassungsschutz ihre Kontrollen ausüben können. Diese Klarstellung von den Verfassungshöhen herab ist mit dem Urteil passiert, und ab jetzt „achtet“ die deutsche Staatsgewalt das „grundrechtlich erhebliche Schutzbedürfnis“ (BVG-Urteil) ihrer Bürger, wenn diese vor dem PC sitzen.
Das ist also nicht mehr und nicht weniger als eine generelle Erlaubnis. Die Menschen computern, und die staatliche Gewalt stellt in einem hoheitlichen Akt klar, dass sie das – von ihr aus – auch dürfen. Das neu geschaffene Grundrecht auf private Vertraulichkeit des eigenen PCs zeugt also nicht von einer Art Desinteresse der staatlichen Gewalt gegenüber dem bunten Treiben der Menschen, im Gegenteil. Private Freiheit herrscht im bürgerlichen Staat nicht dann, wenn die Leute mehr oder weniger sich selbst überlassen ihren Interessen, in diesem Fall vor dem PC, nachgehen. Freiheit herrscht erst dann, wenn die monopolistisch über allen thronende Gewalt klarstellt, wie sehr sie das Ganze etwas angeht: Sie dekretiert von oben herab, dass jeder Bürger ausschließlich von ihren Gnaden computert. Nun surft, speichert und löscht dieser nicht mehr einfach nur, sondern er genießt ein hohes staatliches Rechtsgut: Er darf es, weil der Staat es will. Und er darf es privat, weil und solange der Staat das Computern als Beitrag zur „Entfaltung der Persönlichkeit“ würdigt.
Selbstverständlich ist in diesem Grundrecht der Widerruf der darin enthaltenen Ermächtigung der Bürger, sich mittels ihrer Festplatten zu Persönlichkeiten zu entfalten, eingeschlossen:
„Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist nicht schrankenlos. Eingriffe können sowohl zu präventiven Zwecken als auch zur Strafverfolgung gerechtfertigt sein.“ (BVG-Urteil)
Was auch sonst. Natürlich widerspricht im Zweifelsfall die Erlaubnis auf „Vertraulichkeit“ der Daten dem Interesse des staatlichen Lizenzgebers. Ab jetzt darf die Exekutive in Bund und Ländern nur so, wie es die Richter nun aufgeschrieben haben, auf dieser und jener Festplatte nachschauen. Nämlich dann, wenn
„bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen, selbst wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr schon in näherer Zukunft eintritt.“ (BVG-Urteil)
Vielleicht etwas kompliziert formuliert, aber klar im Auftrag: Die viel gerühmte „Bremse“ aus Karlsruhe für wild gewordene Sicherheitsfanatiker verpflichtet Sicherheitspolitiker auf nichts weniger als deren eigenes Sicherheits- und Ordnungsinteresse: Juristisch einwandfrei ist die Online-Untersuchung nur dann, wenn eine „konkrete Gefahr“ für den Staat vorliegt; sonst nicht! – Einfach so „auf Vorrat“ ausspähen, das geht nicht. Mit harmlosen Privatangelegenheiten auf den Festplatten haben sich die Ermittler gefälligst nicht zu befassen – das bleibt das heilige Reich der freien Persönlichkeit! Es geht allein um die Staatssicherheit vor Verbrechern und Feinden, spioniert wird also nur dann, wenn es von Staats wegen wirklich nötig ist.
Ob das der Fall ist, will freilich herausgefunden sein, und so findet der staatliche Zugriff auf private Daten als Abwägungvon konkurrierenden Rechtsgütern statt: Persönlichkeitsrecht vs. Staatssicherheit. Gehört der gespeicherte Liebesbrief an die Freundin zu den „schriftlichen Verkörperungen des höchstpersönlichen Erlebens“,welche „unverzüglich nach der Durchsicht zu löschen sind“ (BVG-Urteil)? Oder ist er ein Hinweis auf mögliche Komplizen? – Irgendwie werden sich Richter und Ermittler über die Bewältigung dieser „hohen Hürden“ schon einig werden, schließlich bekommen sie die staatlich erwünschten Grundrechtseingriffe bei „Unverletzlichkeit der Wohnung“ und dem „Post- und Fernsprechgeheimnis“ auch hin. Ergebnisoffen und elastisch genug sind sie ja, die abzuwägenden Rechtsgüter, um den aktuellen Sicherheitsbedürfnissen jeweils zu genügen. Und im Zweifelsfall wird der betreffende Computer halt mal untersucht, um juristisch einwandfrei entscheiden zu können, ob man ihn wirklich untersuchen darf …
Die Restriktionen und Umständlichkeiten beim Ermitteln sind also nichts anderes als die rechtliche Qualitätskontrolle des staatlichen Gewalteinsatzes auf seine Nützlichkeit zur „Abwehr von drohenden Gefahren“. Außerdem wirft die zynisch-pedantische Abarbeitung der Karlsruher „Anforderungen“ beim staatlichen Spionieren noch einen zweiten Ertrag ab: Die Gewalt, die da herumspioniert, wird durch das angeordnete Verfahren unwidersprechlich legitimiert – verdächtig, verdächtig, wer „Stasi“ dabei denkt! Welcher Liberale und Verteidiger von Grundgesetz und Rechtsstaat mag noch etwas gegen das schrankenlose Kontrollbedürfnis einwenden, wenn es durch solch hehre Vorschriften geregelt ist? Gut, dass die Staatsgewalt sich beim Schnüffeln an Vorschriften hält – wer will ihr da ihren Grund zum Schnüffeln übel nehmen? Schäuble und Co. haben nun jedenfalls den verfassungsrechtlich einwandfreien Auftrag, ihre Staatssicherheitsdienste technisch und gesetzgeberisch auf den neuesten Stand zu bringen, z. B. mit der gerade bekannt gewordenen Auflage, dass zwar Spähprogramme auf privaten PCs installiert werden dürfen – aber nicht durch Betreten der Wohnung, sondern nur über Kabelverbindung. Na also!