Arzt

Ärzte heilen Kranke, d.h. sie reparieren mit Kunst und Chemie die Schäden, die ihnen von ihren Patienten präsentiert werden – soweit sie das können. Der Nachschub an Kranken geht ihnen dabei nicht aus, im Gegenteil: Hierzulande nimmt die Zahl der Behandlungsbedürftigen, wie man von besorgten Vertretern der staatlichen „Gesundheits“verwaltung zu hören bekommt, ständig zu. Dass das so ist, liegt keineswegs nur daran, dass „wir alle immer älter“ werden; das Leben in dieser Gesellschaft ist auch für Junge nicht so recht gesund. Und es sind nicht in erster Linie die Unbilden der Natur, die das ärztliche Geschäft des Helfens und Heilens zur Endlosspirale werden lassen. Im therapeutischen und prophylaktischen Umgang mit Bakterien und Viren ist die moderne Medizin, sofern sie zum Einsatz kommt, recht erfolgreich. Weniger gut zu bewältigen sind die sog. „Zivilisationskrankheiten“, die mit Zivilisation eher wenig, mit Marktwirtschaft dagegen recht viel zu tun haben.

Wo mit möglichst wenig finanziellem Aufwand möglichst viel Geschäft gemacht werden soll, da ist es keineswegs selbstverständlich, dass die produzierten Gebrauchs- und Lebensmittel „gesundheitlich unbedenklich“ sind. Und an den Arbeitsplätzen, an denen zum Zwecke der betrieblichen Rentabilität viel Leistung für wenig Geld erbracht werden soll, gehören Unfallgefahr und Lärm, Schadstoffe, Anstrengung und Stress zum beruflichen Alltag. Die persönlichen Bewältigungsstrategien, die sich die Bevölkerung zulegt, um im Privatleben für kompensierenden „Ausgleich“ zu sorgen, sind oft ebenfalls und zusätzlich der Gesundheit abträglich.

Das alles füllt die Wartezimmer mit zuverlässiger Sicherheit, sorgt es doch dafür, dass die zu behandelnden Gebrechen entweder gar nicht mehr geheilt werden können oder nach Rückkehr ins alltägliche Leben erneut auftreten. Guten Ärzten macht das das Leben schwer. Im ärztlichen Selbstverständnis besteht das Berufsbild eben nicht nur im permanenten wieder Herrichten der ebenso permanent geschädigten Physis. Der Dienst, den ein Arzt leisten will und den der Patient von ihm erwartet, umfasst durchaus die Ermittlung von und das Eingehen auf Krankheitsursachen. In der Regel führt die erhobene Anamnese zu der Erkenntnis, dass eine durchgreifende Verbesserung der Gesundheitslage des Patienten eigentlich mehr umfassen würde als das, was sich in der Sprechstunde ausrichten und mit den chemischen Fitmachern erreichen lässt, die die pharmazeutische Kunst ausgetüftelt hat. Ein gut betreuter Patient verlässt die ärztliche Praxis bzw. die Klinik nicht nur mit Narben und Rezepten, sondern mit Kritik an seiner bisherigen und Ratschlägen für seine zukünftige Lebensgestaltung. Allerdings weiß er ebenso gut wie sein Doktor, dass sich so sehr viel nicht ändern wird. Denn das ist der Haken an der empfohlenen „gesünderen Lebensführung“, dass sie für den Durchschnittspatienten unpraktisch, hinderlich, zu teuer und mit den Notwendigkeiten des Geldverdienens nicht vereinbar ist – schließlich hat sich der Mensch ja schon vorher nicht grundlos allerlei Ungesundes angetan.

Das Problem, das daraus folgt, ist eines des Patienten; es geht den Arzt praktisch nichts an. Das verrät einiges über die Aufgabe dieses Berufsstandes in dieser Gesellschaft. Gesundheit ist in der Marktwirtschaft Voraussetzung und Mittel dafür, am Arbeitsplatz die geforderte, weil rentierliche Leistung zu erbringen. Dafür wird sie gebraucht: Die Unternehmen benötigen leistungsfähiges Arbeitsvolk in ausreichender Anzahl, was aber nicht und heute weniger denn je bedeutet, dass es auf die Gesundheit oder auch nur auf die Arbeitsfähigkeit aller Gesellschaftsmitglieder ankäme. Die Arbeitnehmer benötigen die jeweils eigene Gesundheit, um sie zum Markte tragen zu können. Weil ihr Einkommen ausschließlich von ihrer Arbeitsfähigkeit abhängt und am Arbeitsplatz einiges an Belastung ausgehalten werden muss, was der Gesundheit abträglich ist, müssen sie ihre Gesundheit gegen die ökonomischen Zwecke der Gesellschaft zum privaten Sonderzweck machen, der nicht mit den geltenden Benutzungsverhältnissen kollidieren darf, sondern mit privaten Vergnügungen konkurriert. „Gesunde Lebensweise“ findet zu Hause statt, neben und nach den beruflichen Anstrengungen und als „Ausgleich“ dafür. Da hat der Mensch dann vom Finden „gesunder“ Lebensmittel bis zur Rückengymnastik viel zu tun und ebensoviel ungesundes Vergnügen zu unterlassen. Der Ärztestand ist im Gesundheitswesen dieser Gesellschaft nicht dafür da, die Belastungen zu kritisieren oder gar abzustellen, die die wirtschaftlichen „Erfordernisse“ seiner Klientel aufzwingen. Sein Dienst besteht im Umgang mit den körperlichen Resultaten, die diese Belastungen hervorbringen. Mit Pillen und anderen therapeutischen Maßnahmen steuert der Arzt den Wirkungen des gesellschaftlichen Verschleißes von Gesundheit dann und dort entgegen, wenn und wo sie sich an den Individuen längst niedergeschlagen haben.

Darüber hinaus begegnet der Arzt den individuellen Lebensgewohnheiten, die sich die Patienten unter den herrschenden Zwängen und Belastungen angeeignet haben mit Kritik und guten Ratschlägen, die allesamt den ökonomischen Zwängen die Aufforderung zum Zwang gegen sich selbst hinzufügen. Er tritt dem Patienten gegenüber als Anwalt seiner Gesundheit auf und verlangt von ihm, sich diese zum Zweck zu setzen. Sinn macht das nur in einer Gesellschaft, in der die Gesundheit ihrer Mitglieder nicht selbstverständliche Voraussetzung für jedwede Betätigung ist, sondern der Verbrauch der Gesundheit zu den Lebensbedingungen der werktätigen Gesellschaftsmitglieder gehört und die private Kompensation dieses Verschleißes einen Aufwand darstellt, der einiges an Einschränkungen erfordert. Da kann die Ärzteschaft glaubhaft für sich in Anspruch nehmen, sie wolle mit den von ihr vertretenen zusätzlichen Pflichten doch nur das Beste derer, die sich danach richten sollen. Der Widerspruch, der darin liegt, dass man den Leuten die Sorge um das eigene Wohlergehen als Pflicht auferlegen muss, braucht sie nicht weiter zu stören und Kritik an einer Gesellschaft, die so etwas nötig macht, gehört nicht zu ihren beruflichen Aufgaben.

Wenn der Ärztestand praktisch einbezogen wird in Gestaltung und Management der Sphäre, in der die Gesundheit produktiv verschlissen wird, dann konstruktiv. Schließlich darf der Verschleiß nur so schnell und intensiv vonstatten gehen, dass genug Arbeitskräfte in benutzbarem Zustand vorhanden sind und bleiben. Per Gesetz ist deshalb der Einsatz von Arbeits- und Betriebsmedizinern vorgeschrieben. Die begutachten einerseits die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit von Unfallopfern und sonstigen im Betrieb produzierten Krüppeln, aber nicht nur. Ihre Aufgabe ist darüber hinaus die Ermittlung von Arbeitsbedingungen, die der menschliche Körper, zumindest eine Zeit lang und im Durchschnitt, ertragen kann; und die praktische Untersuchung vor Ort, ob die einzelnen Arbeitnehmer die gesetzlich geregelten Belastungen und Schadstoffmengen wirklich und wie lange aushalten. Das macht Arbeitsplätze nicht gesund, aber „menschenwürdig“.

Mit der internationalen Politik befassen sich „kritische“ Ärzte als Ärzte. „Streng neutral“, d. h. ohne einen Gedanken an die und ohne Kritik an den politischen Zwecken, flicken sie als „Rotes Kreuz“ oder „Ärzte ohne Grenzen“ Kriegsopfer zusammen, verpflegen und behandeln Flüchtlinge, Vertriebene und sonstige Katastrophenopfer. Auch hier geht ihnen dank der zahlreichen „internationalen Konflikte“ und des weltweit geschäftsmäßigen Umgangs mit drohenden und stattgefundenen Katastrophen das zu betreuende Material nicht aus; eher schon die materiellen Mittel dafür, die sie – sehr sachgemäß – nicht von den politischen Verursachern der Katastrophen erhalten, sondern von mitleidigen Privatmenschen, deren Spendenfreudigkeit immer nur bei massenhaftem Auftreten etwas hermacht.

Auch „kritische“ Anwälte der Gesundheit betrachten es nicht als ihre Aufgabe, sich in das ehrenwerte Treiben von Politik und Geschäft einzumischen, es sei denn mit der Forderung an die Machthaber, ihnen den medizinischen Umgang mit den leidenden Individuen zu gestatten und zu ermöglichen. Dem weltpolitischen Kotrollbedürfnis ihrer Heimatländer, deren Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik für den größten Teil des weltweiten Hungers und Elends verantwortlich ist, erteilen sie damit einen humanitären Persilschein, den diese zu schätzen wissen. Diplomatische, ökonomische und militärische Erpressungen und Übergriffe sind „nötig“, um „unseren“ Helfern auch und gerade in unbotmäßigen Staaten freie Bahn zu verschaffen.

Weil in dieser besten aller Wirtschaftsformen Medikamente und ärztliche Maßnahmen, ebenso wie alles andere, einen Preis haben, der von denen zu bezahlen ist, die sie benötigen, ist die flächendeckende medizinische Versorgung nicht nur in den Hunger- und Katastrophengebieten der Dritten Welt, sondern auch und gerade in den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern der ersten ein finanzielles Problem. Denn auch das gehört zu den Errungenschaften der „modernen Leistungsgesellschaft“, dass den gesundheitlichen Belastungen, die sie als Privatproblem der Betroffenen organisiert, in der Masse der „Fälle“ nicht die privaten Finanzmittel entsprechen, mit denen diese sich ärztlichen Beistand kaufen könnten. Ohne die Zwangskollektivierung einer der beiden Seiten, entweder der Ärzteschaft – wie zum Beispiel in England – oder von ansehnlichen Lohnteilen geht es da kaum ab. Die bundesdeutsche Gesundheitspolitik hat sich – bisher zumindest – für letztere Variante entschieden und mit Geldern, die von der großen Masse der Versicherungspflichtigen zwangsweise eingesammelt werden, ein Versorgungsnetz aufgezogen, in dem die Mehrheit der Ärzte als selbstständige Klein- bis Mittelunternehmer tätig sind. Für deren Geschäft sorgt neben den Zahlungen der privat versicherten besseren Kundschaft die Zahl der Krankenscheine, die eine Zahlungsgarantie für erbrachte – oder besser abgerechnete – ärztliche Leistungen darstellen. Und dieses Geschäft ist jahrzehntelang prima gelaufen. Blöd ist nur, dass die Mittel der gesetzlichen Krankenkassen mit der Menge dieser Leistungen nicht mehr Schritt halten, weil erfolgreiche Massenentlassungen die Anzahl der Beitragszahler und erfolgreiche Lohnsenkungsrunden die Höhe der Beiträge mindern. Und weil die Löhne am Standort Deutschland weiter sinken „müssen“ – das haben Unternehmer und Politiker so felsenfest beschlossen und in der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig breitgetreten, dass es für die gesamte Bevölkerung naturgesetzartigen Charakter angenommen hat – muss im Gesundheitswesen gespart werden. An den Patienten sowieso, aber auch an den Ärzten.

Leistungen werden aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen „ausgegrenzt“ und verbliebene Kassenleistungen geringer honoriert. Die Gesamtsumme, die die Krankenkassen für die Finanzierung der ambulanten Versorgung zur Verfügung stellen, wird budgetiert, d. h. festgeschrieben; gleichzeitig soll mit allerlei Tricks und Vorschriften dafür gesorgt werden, dass für das zur Verfügung stehende Budget möglichst viel an ärztlichen Leistungen erbracht wird.

Die Geschäftstüchtigkeit des Arztes, die sich schon immer aus zeitsparendem Umgang mit den Patienten und trickreichem Abrechnungsverkehr mit den Kassen zusammensetzte, steht damit vor neuen Herausforderungen. Hoher Patientendurchsatz alleine genügt nicht mehr für den Praxiserfolg. Der entscheidet sich daneben daran, inwieweit Patienten „zur Selbstzahlung motiviert“ werden können und inwieweit es gelingt, individuelle Budgetüberschreitungen auf die Gesamtheit der „Kollegen“ abzuwälzen. Dass sich dem nicht alle Praxisinhaber gewachsen zeigen, ist einerseits ihr Problem. Verlust und Pleite gehören zur Normalität einer Wirtschaftsform, in der jegliche Produktion und die meisten Dienstleistungen als Geschäft konkurrierender Privatanbieter organisiert sind. Andererseits nimmt die öffentliche Sorge um die flächendeckende ärztliche Versorgung in deutschen Landen zu; und der Streit darüber, wie viel davon auf wessen Kosten durchgesetzt werden soll.

Auch das gehört zur Normalität in einer Gesellschaft, in der Gesundheit Geschäftsmittel für Käufer und Anbieter ist.

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