Das billige Öl
Die moderne Welt braucht Öl. Die Art, wie sie damit wirtschaftet, zeugt davon, wie fortschrittlich und vernünftig sie eingerichtet ist.
Das geht schon damit los, dass die globale Markt- wirtschaft offenbar erfolgreich den primitiven Standpunkt hinter sich gelassen hat, dass ein reiches Angebot eines für das technische Funktionieren der Gesellschaft notwendigen Gutes auf jeden Fall eine erfreuliche Sache ist. Dort, wo der Markt die gesellschaftliche Versorgung regelt, funktioniert die Sache anders: Die gegenwärtige „Ölschwemme“ führt – vermittelt über das Naturgesetz, dass vermehrtes Angebot den Preis senkt, den alle Produkte von irgendwoher haben, – dazu, dass der Ölpreis ins Bodenlose fällt. Und das ist bekanntlich nur für diejenigen, die den Preis zahlen, von Nutzen – für ihre Kooperationspartner auf der Verkäuferseite ist genau dies in genau diesem Maß ein Schaden; im Moment ein ziemlich gigantischer.
Dass es zu so einer Schwemme kommen kann, zeugt von einer weiteren Errungenschaft der Moderne: Die Umständlichkeit, gesellschaftliche Produktion gesellschaftlich zu planen, kommt für die Marktwirtschaft auch beim Fördern und Verarbeiten von Öl, also eines elementaren ökonomischen Mittels des gesamten gesellschaftlichen Lebens erst gar nicht infrage. Stattdessen gilt das ebenso raffinierte wie kreuzvernünftige Prinzip, dass produziert und verkauft wird, was demjenigen einen Überschuss des Verkaufspreises über die Produktionskosten einspielt, der über genügend Kapital verfügt, für eine solche Produktion alle nötigen Faktoren einzukaufen. Und der fragt nicht nach dem Bedarf, sondern schaut, dass er möglichst viel lohnend verkauft. Insofern kennzeichnet die Schwemme recht besehen gar keinen Überfluss, sondern einen Mangel: Öl zu verkaufen lohnt sich zu wenig, somit gibt es davon zu viel. Und so kommt es z.B., dass in den USA die eben noch als neuer technologischer Stolz der Nation, als Speerspitze der nationalen Reindustrialisierung gefeierte Fracking-Technologie an zahlreichen Stellen von ihren Betreibern jetzt praktisch als industrieller Großschrott behandelt wird, mit dem nichts Profitables, also gar nichts mehr anzufangen ist.
Nebenbei bewährt sich in diesem Zusammenhang die marktwirtschaftliche Idee, auch die Arbeit zu einem der besagten Faktoren der Produktion zu erklären. Theoretisch ist das zwar ein bisschen kniffelig, aber praktisch ganz einfach: Der Lebensunterhalt der Arbeitskräfte geht als eine Kost in die Kosten-Gewinn-Rechnung der Produzenten ein. Für die gemäß dieser Logik neulich als möglichst billige Arbeitskräfte Gebrauchten bedeutet der derzeitige Niedergang von großen Teilen der Ölindustrie gemäß derselben Logik zwar das vollständige Streichen des Lebensunterhaltes. Vom Standpunkt der Freiheit des privaten Kalkulierens ist das aber die denkbar vernünftigste Art der Entsorgung nicht gebrauchter Produktionsfaktoren – auch das macht die Marktwirtschaft so unschlagbar effizient. Und das enthält für die inzwischen millionenfach entlassenen Ölarbeiter in aller Welt ja immerhin auch die Möglichkeit, bei der nächsten Ölbonanza – wenn sie die erleben sollten – vielleicht wieder angestellt zu werden; eine Chance, die sie in keinem anderen Wirtschaftssystem bekämen.
Auch die Methode des Abbaus von Überkapazitäten zeichnet dieses Wirtschaftssystem gegenüber allen nicht existierenden Alternativen aus. Nur einem hoffnungslos rückständigen Denken käme es sinnvoll vor, bei festgestellter Überreichlichkeit die Förderung eines Guts koordiniert zurückzufahren, das tendenziell zudem als ökologisch problematisch gilt. Dieses Resultat wird in der globalen Marktwirtschaft in einer viel trickreicheren Form erreicht, wie sich derzeit studieren lässt, nämlich als eine Art Wettkampfspiel auf dem weltweiten Ölmarkt. In dessen Rahmen kämpfen im Moment die traditionellen Ölförderer v.a. in Arabien gegen die amerikanischen Fracker. Der Kampf geht darum, auf jeden Fall die eigene Förderung aufrechtzuerhalten, also den jeweils anderen aus dem Markt zu drängen, auf dem ja sowieso schon viel zu viel Öl schwimmt. Kampfmittel ist, man ahnt es schon: den Preis senken und den Preisverfall durch Mehrverkauf kompensieren. Gewonnen hat, wer die Produktion von noch mehr von dem, was es schon zu viel gibt, und den durch diesen Anbieterkampf immer weiter sinkenden Ölpreis am längsten aushält. Faszinierende Dialektik: Die Produktion von Reichtum an der einen Stelle findet statt mit dem erklärten Zweck, sie an anderer Stelle zu zerstören.
Die eigentliche Fortschrittlichkeit der Marktwirtschaft beweist sich allerdings erst da so richtig, wo Subjekte auf den Plan treten, die mit der Produktion von Öl, seinem Transport, seiner Weiterverarbeitung zunächst überhaupt nichts zu tun haben, dafür aber umso mehr in die Preisgestaltung eingreifen. In der Marktwirtschaft bleibt es nämlich nicht dabei, dass nicht geplant wird. Die für keinen einzelnen Konkurrenten planbaren Entwicklungen von Produktion und Preis sind ihrerseits der Gegenstand der überaus rationellen wirtschaftlichen Betätigung namens Spekulation. Sie ist, wie es sich gehört, auf das Verdienen von Geld ausgerichtet. Statt mit Öl zu handeln – das machen ja schon andere –, handeln die Vertreter dieses ehrenwerten Gewerbes mit Anrechtstiteln auf Öl, die sie kaufen und verkaufen, weil mit dem Bedarf anderswo der Ölpreis steigt oder fällt – und damit auch der Wert ihrer Titel. Also versuchen sie vorherzusehen, wie sich die Preise entwickeln; natürlich nicht, um doch noch das marktwirtschaftliche Prinzip außer Kraft zu setzen, dass Produktion und Reproduktion der Gesellschaft als private Konkurrenz stattfinden. Umgekehrt: dass die ganze Gesellschaft ihrem eigenen wirtschaftlichen Treiben so fassungslos gegenübersteht wie dem Wetter, ist ihre Geschäftsgrundlage. Im Unterschied zu Meteorologen hoffen nämlich die in Öl investierenden Spekulanten, dass ihre Vorhersagen möglichst niemand anders teilt. Zumindest erst einmal nicht. Denn Gewinn machen Spekulanten auch am Ölmarkt so, dass sie als erste eine Tendenz aufspüren, die nachher aber auch eintreten muss, was sie dann und in dem Maß tut, wenn bzw. wie alle anderen dann doch in die gleiche Richtung spekulieren. Das sieht nur auf den ersten Blick ein wenig wie Irrenhaus aus; auf den zweiten Blick sieht man nämlich, dass sich damit gigantische Gewinne machen lassen, und darauf kommt es ja schließlich an. So dass es wiederum nur Ausweis höherer marktwirtschaftlicher Vernunft ist, dass es von den einschlägigen in der Zukunft liegenden Kontrakten über Kauf und Verkauf von Öl ein Vielfaches mehr gibt, als Öl überhaupt vorhanden ist. Vor allem hat es die einzigartige marktwirtschaftliche Konsequenz, dass die Preisänderungen fürs Öl nach Aussagen der zuständigen Insider durch die Spekulation auf sie überhaupt erst das Ausmaß erreichen, das im Moment für ganze Nationen eine ziemliche Katastrophe bedeutet.
Apropos Nationen: Moderne Völker haben sich ja bekanntlich dazu entschlossen, sich unter der Herrschaft von Nationalstaaten zu versammeln. So aufgestellt wiederholen sie die schöne ökonomische Praxis, dass es Kooperation nur als Konkurrenz gibt, eben weil sie so schön ist, auf inter-nationaler Ebene: Gerade beim Kampf um die marktwirtschaftliche Ausnutzung des Öls bewähren sich die staatlichen Administratoren der Nationen als diejenigen, die das marktwirtschaftliche Gegeneinander aller Beteiligten erst so richtig anheizen: Die einen fördern ihre heimische Fracking-Industrie mit staatlichem Kredit, widerlegen kapitalismuswidrige Bedenken in Sachen Umwelt per Gesetz und machen sich beim Rest der Welt dafür stark, dass der das richtige Öl und nicht das falsche kauft; und um die Sicherung der Ölrouten und Pipelines quer durch die Staatenwelt kümmern sie sich gleich mit. Die anderen nutzen ihre staatliche Direktion über die nationale Ölproduktion, ihren staatlichen Kredit und ihr Kommando übers Volk dafür, dass kein Ölhahn trocken bleibt.
Manche von ihnen haben im Verkauf von Öl eine wichtige, einige wenige sogar ihre wichtigste staatliche Einnahmequelle. Und so sorgt die derzeitige Verwerfung an den Ölmärkten noch ganz anders für ein ordentliches Maß an Abwechslung im Leben der Völker. Weil mit den centgenau notierten Ölpreisen momentan die Haushalte ganzer Staaten kaputtgehen, sorgen die dafür, dass die Lebensverhältnisse der Leute, die sie mit diesen Haushalten regieren, ihren gerechten Teil vom Schaden abbekommen – manche Kenner raunen inzwischen von der Möglichkeit sozialer Unruhen, politischer Instabilität und dergleichen.
Das Öl sorgt also mit dafür, dass den Staaten der Ordnungsbedarf nach innen und außen nicht ausgeht. Schon gleich, wenn global wieder mal Krise ist. Nicht zuletzt darum wächst in manchen dieser Staaten ausgerechnet mit dem Schwund der entsprechenden Finanzierungsmittel der Bedarf an Gewaltmitteln. Laut Aussagen von Leuten, die es mit ihrer Expertise immerhin bis ins Fernsehen schaffen, verleiht die zunehmend ruinöse Konkurrenz ums Öl insbesondere dem sowieso schon kriegsträchtigen Machtkampf zwischen den beiden Ölgiganten Saudi-Arabien und Iran ein paar neue spannende Momente. Die expertenmäßigen Begründungen sind im Einzelnen zwar nicht immer ganz klar, aber so viel ist offenbar Konsens: Das Grundprinzip des friedlichen Geschäftsverkehrs der Staaten und ihrer Weltordnung, dass auch und gerade die Produktion des Gebrauchswerts Öl ihren letzten und höchsten Zweck in der Reproduktion der staatlichen Gewalten übers Produzieren hat, schließt ein, dass sich Staaten, wenn es an dieser Quelle ihrer Macht hapert, keinesfalls zurücknehmen, sondern sich darauf besinnen, dass Gewalt ihr ultimatives Mittel ist.
Die moderne Welt ist obendrein demokratisch: Auch der einfache Mensch steht bei diesem bunten Treiben nicht abseits. Geistig wird er von den modernen Medien in all die knisternden Zusammenhänge eingeführt: ausführlich, kompetent, facettenreich, mit Einfühlungsvermögen für jeden der widerstreitenden Standpunkte und Interessen. Und wenn er das nicht will, macht das, wie gesagt, auch nichts. Denn praktisch wird er spätestens an der Tankstelle mit jedem Cent, den er zahlen muss, daran beteiligt.