Im demokratischen Rechtsstaat läuft jeder, aber auch wirklich jeder, als Rechtssubjekt herum, und jede menschliche Regung hat den Charakter einer Rechtsposition. Vom Sexualleben bis zur Verfassungstreue, vom Betteln bis zum Waffenhandel ist alles per Gesetz „geregelt“, d. h. erlaubt oder verboten. Jedes Interesse, das sich praktisch geltend machen will, ist dabei verwiesen auf die Berechtigung, die ihm die Staatsmacht zugesteht und limitiert durch die Beschränkungen, die sie ihm auferlegt. Diese Allgegenwart rechtsstaatlicher Gewalt ist die Geschäftsgrundlage für eine ganze Armee studierter Rechtsexperten, die den Interessenten die Rechtslage mitteilen, ihnen beim Geltendmachen ihrer Rechtsposition fachmännisch zur Hand gehen und dafür bezahlt werden.
Beschäftigung für diese Zunft der Rechtsvertreter gibt es auch und gerade im allerprivatesten Bereich. Wenn zwei Liebende sich zusammentun, dann gehen sie nämlich, oftmals schneller als gewusst und beabsichtigt, rechtliche Verpflichtungen ein; und wenn sie gar geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt haben, dann macht der staatliche Schutz von Ehe und Familie den Wunsch sich wieder auseinander zu sortieren zu einer Rechtsangelegenheit, die anwaltlichen Beistand erfordert. Der Anwalt erschließt seinem Klienten das auf seinen Fall passende Arsenal staatsgewaltlich beglaubigter Handhaben, mit denen auf Kosten des oder der Ex materielle Vorteile aus der gemeinsamen Vergangenheit herauszuschlagen sind und zugleich den gekränkten Gefühlen Genugtuung verschafft werden kann. Er verdolmetscht ihm die Ausschöpfung seiner Rechtsmittel als den eigentlichen, weil juristisch wirksamen Inhalt seines Interesses und umgekehrt die gerichtliche „Klärung“ als die Beilegung des Zerwürfnisses. Den gleichen Dienst leistet er bei den Streitigkeiten um Knallerbsensträucher, Hundegebell und, und, und, die die privaten Rechthaber in dieser Gesellschaft gegeneinander austragen. Er übersetzt die privaten Gerechtigkeitsvorstellungen und Gehässigkeiten in die staatlicherseits festgesetzten Rechtspositionen und bietet an, ihnen als solche Geltung zu verschaffen. Diese Transformation müssen sich die privaten Vorstellungen und Ansprüche gefallen lassen, wenn sie den Rechtsweg beschreiten. Dafür aber – und nur dafür – verhilft ihnen dann die unendlich überlegenen Zwangsgewalt des Justizapparats zur Durchsetzung, wenn die Gegenseite nicht die schlagendere Rechtsposition geltend machen kann.
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Wo es nicht ums Private, sondern gleich ums Geschäft geht, sind die Rechtsanwälte von vornherein mit dabei, sobald ein Geschäftspartner sich ihren Beistand leisten kann. Sie feilen an den Geschäftsbedingungen und Vertragstexten mit dem einzigen Ziel, den beratenen Vertragspartner möglichst zu nichts, den Kontrahenten zu so viel wie möglich zu verpflichten. Dabei können sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass das Geschäftsinteresse ihres Auftraggebers dem der anderen Vertragspartei nicht wohlgesonnen ist, sondern entgegensteht – und umgekehrt genauso. Selbst in ihrer Übereinkunft bleiben die Interessen von Käufer und Verkäufer, Immobilienbesitzer und Mieter, Gläubiger und Schuldner einander entgegengesetzt, schließt also der Nutzen des einen der Nachteil des andren ein. Zu vertraglicher Einigung kommt es nur aufgrund wechselseitiger Abhängigkeit bei fortdauerndem Gegensatz: Mit dem Vertrag unterwerfen sich die Partner einem Zwang, den jeder gleichzeitig für sich gegen den anderen auszunutzen sucht. Diese widersprüchliche Veranstaltung, der sich Rechtsanwälte dienstbar machen, ist kein Sonderfall, sondern die Normalform aller marktwirtschaftlichen Geschäftsbeziehungen. Jedem der freien, gleichen und privaten Geschäftsleute geht es darum, seinen Gewinn zu maximieren. Für das eigene Produkt den höchstmöglichen Preis erzielen, dabei aber die Konkurrenten unterbieten und deshalb die Ausgaben für Zulieferer, Dienstleister und Arbeitskräfte möglichst niedrig zu halten, das wollen sie alle, wenn sie miteinander geschäftliche Verbindungen eingehen. Ohne übergeordnete Gewalt kann Übereinkunft zwischen derart gegensätzlichen Zwecken überhaupt nicht verlässlich festgehalten werden. Damit sich jeder Geschäftspartner an das Vereinbarte hält, braucht es die Betreuung durch staatlichen Zwang. Daran hat es die rechtsstaatliche Obrigkeit nicht fehlen lassen. Unter tatkräftiger Mithilfe des Anwaltsstandes hat sie ein Vertragsrecht geschaffen, das jede Lebenslage erfasst und für jede Tücke und Finte Handhaben sowie Abwehrmittel bereitstellt. Als Profi, der darüber den Überblick hat, dient sich der Rechtsanwalt den Geschäftemachern an.
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Juristischen Beistand leistet dieser Vertreter des Gesetzes den privaten Konkurrenten nicht nur in ihren Auseinandersetzungen untereinander, sondern auch gegen den Staat und dessen gesetzlich fixierte Ansprüche und Bestimmungen. Die betrachtet jeder Geschäftsmann als Beschränkung des ihm zustehenden Geschäftserfolgs, der er zu entgehen sucht – entweder durch schlichte Missachtung oder durch Beschäftigung von Anwälten. Die bestreiten dann die Subsumierbarkeit des Einzelfalls unter die allgemeine Regel, und bemühen sich um Auswege, Kompromisse und Ausnahmen, die mal den Geist, mal den Buchstaben des Gesetzes strapazieren.
Das Engagement geschäftstüchtiger Rechtsvertreter steigt mit dem Gegenstands- oder Streitwert, weil sich danach ihre Vergütung richtet. Die Interessen der wirklich Betuchten zu vertreten, sorgt bei Anwälten für gehobenes Einkommen. Die Streitigkeiten, der vielen kleinen Prozesshanseln sind dagegen das Kleinvieh, bei dem die Anzahl für eine brauchbare Mistmenge sorgt. Das gilt erst recht für die sozialrechtliche Unterstützung der armen Schlucker, die mit den staatlichen Behörden um die Stütze ringen. Viel zu verdienen ist da nicht, dafür kann man sich mit dem moralisch erhebenden Bewusstsein trösten, mit der Rechtspflege der Gerechtigkeit zum Durchbruch verholfen zu haben.
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Mit einem ähnlichen Image schmückt sich der Berufsstand in einer Sphäre, die ihn zum Gegenstand von Unterhaltungsshows und Presserummel macht, dem Strafrecht. Der Verteidiger präsentiert sich als Retter der verfolgten Unschuld, der gegnerische Staatsanwalt sieht ihn als Parteigänger eines Verbrechers und die Öffentlichkeit goutiert genau diese Auseinandersetzung. Die objektive Grundlage für diese Show ist der Zweck, um den es bei der Strafjustiz geht: das Gesetz beweist seine unversehrte Gültigkeit, auch wenn es noch so oft gebrochen wird. Wäre es zum Verhindern der verbotenen Untaten da, hätte es längst seinen totalen Bankrott anmelden müssen. Als Verbot, setzt es voraus, dass das Kriminelle dauernd passiert: es definiert ja eine gesellschaftliche Praxis als Verbrechen; und es belegt das verbotene Tun mit Strafe. Von der konsequent inszenierten Strafverfolgung hängt die praktische Gültigkeit des Gesetzes also ab. Es kommt alles darauf an, dass das Gesetz als ordnende Gewalt gegen den Verbrecher Recht behält. Mit hohem materiellen und personellen Aufwand hat er aufgespürt, verurteilt und seiner gerechten Bestrafung zugeführt zu werden. Zu dieser Prozedur, mit der das Gesetz sich durchsetzt, gehört eben auch die Behauptung, dass mit dem Durchgreifen des Rechts dem Gerichteten Gerechtigkeit widerfährt. Dieser Schein existiert leibhaftig in Gestalt des Verteidigers. Der hat sowohl die belastenden Fakten als auch deren Subsumtion unter strafrechtliche Paragraphen anzuzweifeln und mit Gegenkonstruktionen aufzuwarten. Auf die Anwesenheit einer solchen Figur hat jeder Angeklagte ein Recht, weshalb sie im Notfall vom Gericht selbst bestellt wird. Auf die Anwesenheit kommt es dabei an – ob die Verteidigung überhaupt durchblickt und dem Angeklagten von Nutzen ist, ist für diese Personifizierung von Rechtmäßigkeit ganz unwesentlich.
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Den beruflichen Durchblick besitzt der Rechtsanwalt in Form einer ständig aktualisierten Sammlung von Gesetzen und Fallentscheidungen sowie eines Gedächtnisses, das es ihm erlaubt, dieselben bei jedem neuen Fall an der passenden Stelle aufzuschlagen. Die Verstandesleistung, die dafür erforderlich ist, hat mit wissenschaftlicher Erkenntnis insofern zu tun, als sie das Gegenteil davon ist. Eine Tat oder Absicht wird da mit allgemeinen Bestimmungen verglichen, die nicht theoretischer Natur, also nicht aus der Analyse der jeweils verfolgten Zwecke gewonnen sind, sondern die das staatliche Interesse an dem Geschehen, die Intervention der Staatsgewalt ins Wollen und Handeln ihrer Untertanen zum Ausdruck bringt. Das Ergebnis solcher Vergleiche ist allemal, logisch gesehen, die Verfremdung der Fakten, eben durch das eigentümliche „Licht“ rechtlicher Vorschriften. Witzigerweise gilt das als Theorietreiben. Kein Akademiker findet etwas dabei, das Nachblättern und Subsumieren unter staatliche Machtworte Rechtswissenschaft zu nennen.
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Welche Karriere ein Rechtsanwalt mit seiner Kenntnis der Gesetzbücher und ihrer Inhaltsverzeichnisse macht, ist im Wesentlichen eine Frage von Charakter und Beziehungen. Davon hängt es nämlich ab, wie viele potentielle Auftraggeber und lohnende Kunden einer davon überzeugt, ihre Rechtsangelegenheiten ausgerechnet in seine Hände zu legen. Demonstrative Selbstsicherheit, die Angeberei, durch nichts zu erschüttern und mit allen Wassern gewaschen zu sein und die glaubwürdige Vorführung von Gerissenheit gehören auf alle Fälle zur menschlichen Zusatzqualifikation für diesen schönen Beruf. So richtig erwirbt man das erst in der Praxis. Hat einer da Erfolg, kann die Qualität nicht ausbleiben; wenn nicht, dann ist er eben kein guter Anwalt – das ist das Berufsrisiko.