Ursachenforschung in Sachen Welthunger:
Ist unsere Wegwerf-Mentalität schuld?
Ein Film, neulich in den Kinos, beleuchtet eine Seite „unserer Wirtschaftsweise“, die eigentlich niemand gut findet, die umfangreiche Vernichtung von Lebensmitteln, und bemüht sich um die Zusammenfassung einer Debatte, an der sich ein paar Wochen lang auch die zuständige Ministerin und die Öffentlichkeit beteiligen:
„Mehr als die Hälfte unserer Lebensmittel landet im Müll. Allein in Deutschland werden jährlich bis zu 20 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen – das sind 500 000 Lastwagen voll. Das Essen, das wir in Europa wegwerfen, würde zweimal reichen, um alle Hungernden der Welt zu ernähren.“ (Zitate aus dem Film oder dem Buch zum Film: Die Essensvernichter, Klappentext)
Der Film liefert eine Darstellung der Vernichtung von Lebensmitteln und recherchiert die Umweltschäden, die im Zuge der Vernichtung von Lebensmitteln angerichtet werden, in drastischen Bildern, die betroffen machen sollen: Herrliche Tomaten werden von einer Müllanlage zu einem widerlichen Matsch verpresst, Arbeitskraft und Umwelt werden sinnlos vergeudet. Und der Schaden reicht bis in die Zukunft: Das Klima wird durch Abholzen der Regenwälder zugunsten der Nahrungsmittelproduktion geschädigt und zusätzlich durch das Methan, das verrottende Lebensmittel freisetzen. Man erfährt: Das Problem ist riesig, global und betrifft „uns alle“.
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Die Sache scheint klar: Wo so viel weggeworfen wird, wird zu viel produziert. Aber: Zu viel wofür? Ob der weggeworfene Warenüberschuss zu viel für den Appetit der Hungernden auf der Welt gewesen wäre, wird man nie erfahren: Denen wurde das Zeug ja nicht angeboten. Ob zu viel für das Geschäft mit Nahrungsmitteln produziert wurde, ist die Frage. Es ist nicht schwer, dem Film zu entnehmen, wie es zu der dargestellten umfangreichen Vernichtung von Essbarem kommt. Weggeworfen wird es nicht aus Gedankenlosigkeit oder Nachlässigkeit. Wann was wo entsorgt wird, ist mit spitzem Stift durchkalkuliert. Die Vernichtung von Lebensmitteln wird als Teil der Rechnung vorgeführt, die Lebensmittelproduzenten, Handelsketten und Supermärkte anstellen: Weggeworfen wird, damit mit den übrig bleibenden Lebensmittel erreicht wird, worauf es ankommt, eben der Gewinn der mit der Herstellung und Vermarktung befassten Firmen: Das Aussortieren von angegammelter Ware kostet Arbeit und Lohn, sodass es sich eher rechnet, eine ganze Steige wegzuwerfen; krumme Gurken passen nicht in gerade Kisten, sodass sie wegen erhöhter Verpackungs- und Transportkosten gleich gar nicht geerntet werden; der Transport aus aller Herren Länder bringt gewisse Unwägbarkeiten mit sich, sodass die Bohnen aus Kenia bei ihrer Ankunft im Großmarkt von Paris schon teilweise verdorben sind – den Kenianern hätten sie frisch geerntet sicherlich geschmeckt, aber für die waren sie nie gedacht; die Brotregale müssen bis zum Ladenschluss gefüllt sein, sonst landet der Kunde bei der Konkurrenz, also wird um 20 Uhr alles weggeworfen, was nicht verkauft wurde; im Supermarkt ist die neue Ware schon da, das Verfallsdatum der alten noch nicht abgelaufen, entsorgt wird sie trotzdem, sie verkauft sich nicht mehr, usw. usw.
Also: Mit der massenhaften Entsorgung der Lebensmittel werden die zur Herstellung aufgewendete Arbeit und die natürlichen Ressourcen, die in ihre Produktion eingehen, für null und nichtig erklärt, weil sich ihr Verkauf nicht lohnt. Der Nutzen, den die Produkte stiften könnten, kommt nicht zustande, weil er vor diesem harten Maßstab nichts gilt. Die stoffliche Seite der Waren ebenso wie die Bedürfnisse der Leute, die damit befriedigt werden könnten, zählen nur, wenn sie sich „rechnen“.
Der Film illustriert diesen ganz normalen ökonomischen Wahnsinn der marktwirtschaftlichen Produktion, aber seine Botschaft lautet keineswegs: Geschäfte, auch in und mit Lebensmitteln, müssen sich lohnen, und wenn diese Rechnung nicht aufgeht, sind produzierte Nahrungsmittel nichts wert und die, die essen wollen aber nicht zahlen können, können sehen, wo sie bleiben! Nein, der Film entdeckt stattdessen ein Versäumnis, wenn massenhaft brauchbare Ware vernichtet wird und zugleich „die globalen Ressourcen überstrapaziert (sind), sich dem Ende zuneigen und doch immer mehr Menschen versorgen müssen“.
Den systembedingten Irrsinn, den sie dokumentieren, halten die Autoren von Buch und Film für so etwas wie eine Zweckverfehlung, die sich – mit ein wenig gutem Willen – problemlos aus der Welt schaffen ließe, ohne dass sich an den eingerichteten ökonomischen Sachnotwendigkeiten groß etwas zu ändern bräuchte: Sie nennen die aus Preis- und Kostengründen erfolgte Lebensmittelvernichtung „Zynismus“ und konfrontieren diesen dann mit äußerst wohlmeinenden Zwecken, um die es im weltweiten Nahrungsbusiness – wie vom Film selbst dokumentiert – zwar an keiner Stelle geht, aber nach ihrer Auffassung dringend gehen sollte: um Versorgung von Menschen bei globaler Ressourcenschonung.
Die kapitalistische Ernährungsindustrie hat zwar diese guten Zwecke, die sich die Filmemacher von ihr wünschen, nach ihrem eigenen kritischen Urteil („Konzerne haben keinerlei Interesse an einer Einschränkung des Konsums und einer Begrenzung der Produktion. Raubbau an der Natur und Wegwerfmentalität sind ihre Markenzeichen und sichern den Geschäftserfolg nie gehabt“) Aber wenn sie sie gehabt hätte, hätte sie diese guten Zwecke gründlich fortwährend verfehlt: Diesem Beweis widmet sich der Film – und mit „Wegwerfmentalität“ deutet sich der Weg auch schon an, auf dem den gebrandmarkten üblen Zuständen abzuhelfen wäre. Weniger Konsum, das würde der geschundenen Natur helfen, und zugleich eine unselige Einstellung verändern, die, wie sich herausstellt, weniger das „Markenzeichen der Konzerne“ ist, als viel mehr „unsere“ moralische Haltung zu den Lebensmitteln kennzeichnet:
„Warum haben die Menschen in den sog. ‚entwickelten‘ Ländern die Wertschätzung für das Essen verloren? Das mag damit zusammenhängen, dass die Nahrungsmittel immer billiger werden.“
Dieselben Autoren, die die Verachtung ausgiebig illustrieren, mit der das Geschäftsinteresse die Bedürfnisse von verhungernden Menschen ebenso wie die Lebensmittel, die dies verhindern könnten, behandelt – dieselben halten gegen alle Fakten das Geschäft mit der Ernährung für einen Dienst an diesen materiellen Bedürfnissen der Menschheit, der dazu noch ausgesprochen übertrieben ausfällt: Zu viel Konsum als Problem „unserer Wohlstandsgesellschaft“!
Dass und wie das Wegwerfen von Nahrungsmitteln seinen Platz in der Kalkulation der Firmen hat und insofern das Vernichten von Gebrauchswerten Teil der Kostensenkungsstrategien bei der kapitalistisch-industriellen Großproduktion von Essen ist, führt der Film selbst vor. Auch, dass Billigproduktion darauf zielt, möglichst viel von der beschränkten Kaufkraft des Massenpublikums in die eigenen Kassen anstatt in die der Konkurrenz zu lenken, also die großen Supermarktketten im Kampf gegeneinander an der Armut dieses Publikums verdienen wollen, und ihre Kundschaft dabei mit wenig Qualität und viel Gift, ohne das billige Massenproduktion nicht zu haben ist, bedienen. Und dann wollen die Filmemacher das alles als das genaue Gegenteil verstanden haben, nämlich als eine große Verwöhnungsaktion, die allzu preiswerten Überfluss stiftet und dadurch die guten Sitten und die Moral verdirbt, die beim Essen und bei der Rettung des Planeten so wichtig sind! Die „Wertschätzung“ des täglichen Brotes ist im Eimer – und damit ein Gegenstandswechsel vollzogen, der es in sich hat:
„Mit unserem Essverhalten und unserer Wegwerfmentalität tragen wir erheblich zur Klimaerwärmung bei. Jeder Konsument verbraucht über die Ernährungskette hin gesehen jede Menge Energie für sein Essen.“
So viel Ehre für die trostlose Figur des Konsumenten! Nur weil er essen muss, sich dafür sein Einkommen einteilen und – je geringer dieses ausfällt, desto mehr – bei den Sonderangeboten der Supermärkte zugreifen muss und dafür nicht zu knapp Pestizide und Antibiotika einkauft, wird er, ganz so, als hätte er sich genau das alles selber ausgesucht, vom Schwanz der kapitalistischen Geschäftsbewegung, vom Anhängsel und Objekt kapitalistischer Vermarktungsstrategien zum sittlich fragwürdigen Subjekt befördert, das mit seiner verschwenderischen „Mentalität“ den Planeten in die Scheiße reitet.
So haben am Ende des Filmes alle – mit Ausnahme der paar Millionen Leute in den Hungergebieten Afrikas und anderswo, die gar nicht essen – mit der Verantwortung zu leben, mitschuldig an der großen Nahrungsverschwendung und deren Folgen für den Planeten zu sein: Die Hersteller und Lieferanten, die „uns Verbraucher“ mit „immer besseren Angeboten verführen und verziehen“, viel zu niedrige Preise von uns verlangen und uns dadurch zu übermäßigem Konsum und „Wegwerfmentalität“ erziehen; und eben „wir“, die wir mit unseren „Gewohnheiten und Vorlieben“ dem problematischen „Geschäftserfolg der Konzerne“ Vorschub leisten. Zusammen heißen wir dann „System“ – weil es in dieser verantwortungsvoll antikritischen Analyse des kapitalistischen Ernährungsgeschäftes selbstredend „nicht einen Schuldigen gibt“ –, wenn wir alle „mittendrin stecken“. Damit wir da nicht auf immer und ewig stecken bleiben, sollen wir uns eine neue „Achtsamkeit“ gegenüber unseren Joghurts und Schweinebraten zulegen, und überhaupt gegenüber all den schönen Gebrauchswerten, mit denen „das System“ unser Dasein auf so problembeladene Weise bereichert. Kritische Selbstreflexion bei der Warenkunde – wenn’s weiter nichts braucht zu seiner Rettung, kann der Planet ja getrost aufatmen.