Wenn in der Krise Wahlen sind und alle Welt davon redet, das Schlimmste für „die Wirtschaft“ sei vielleicht vorbei, aber der Höhepunkt der Arbeitslosenzahlen stünde erst noch bevor; wenn im Vorfeld der Wahlen der Fortbestand des Kündigungsschutzes in Frage gestellt, die Senkung von Steuern für „Leistungsträger“ und deren „Gegenfinanzierung“ durch die Erhöhung von Sozialversicherungsbeiträgen erörtert wird; wenn der Niedriglohn keine Mindestgrenze kennen soll, die Freiheit von Hartz-IV-Empfängern und aller anderen Wähler weiterhin am Hindukusch und ihre Stromversorgung durch ältliche Atomkraftwerke gesichert wird und im Wahlkampf das alles zur Sprache kommt, dann hindert das öffentliche Beobachter und Kommentatoren der Wahlkampagne nicht an dem Urteil, man habe es da mit einer irgendwie „konfliktscheuen“ und „inhaltsarmen“, einer furchtbar „öden“ und „langweiligen“, also überhaupt nicht wahlkämpferischen, sondern wieder einmal höchst uninteressantenVeranstaltung zu tun.
So weit ersichtlich kommt jedenfalls bei den wahlberechtigten Massen – vor und nach der Abstimmung – in den Betrieben wenig Langeweile auf und auch die, die dort nicht mehr gebraucht werden, sind meist gut damit beschäftigt, ihre Armut zu organisieren, gar nicht zu reden vom Stress derer, die die Letzteren entlassen haben und sich auf die Geschäftsgelegenheiten des nächsten Aufschwungs werfen. Der dergestalt nervenaufreibende kapitalistische Alltag der Nation ist aber offenbar nicht das Kriterium der journalistischen Unzufriedenheit. Als trostlos fade gelten der demokratischen Öffentlichkeit die ungefähr gleichlautenden politischen
Ankündigungen der konkurrierenden Kanzler- und Bundestagskandidaten, dass es mit eben diesem Alltag nach den Wahlen genau oder ungefähr so weiter gehen soll. An den Verlautbarungen der Bewerber, die „Deutschlands Zukunft“ an verantwortlicher Stelle „gestalten“ wollen, vermisst man die „Lust am Meinungskampf“ (FAZ, 10.9.09), ihre Wahlkampfreden entzünden nirgendwo die von den Bürgern angeblich „ersehnten Leuchtfeuer“ und stiften keine „markante Orientierung“ (SZ, 15.9.); und dass die Kanzlerin selbst „im Schlafwagen zur Macht“ (Stern, 5.7.) fahren will, das kennzeichnet nach Auffassung der angeödeten Berichterstatter den „drögen“ Charakter dieses Wahlkampfes, der doch eigentlich eine freiheitliche Festveranstaltung sein sollte. Einer, bei dem sich im Zwei- oder Mehrkampf der alternativen Programme und Konzepte der beste Kandidat durchsetzen, die Wähler überzeugen und von einer soliden Mehrheit legitimiert die Ausübung der Regierungsgewalt übernehmen sollte. Das haben in diesem Wahlkampf die Kanzlerkandidaten angeblich total vermasselt:
„Bei einem Duell reiten eigentlich die Duellanten aufeinander zu; im Fall Steinmeier/Merkel ritten sie nebeneinander her.“ (SZ, 15.9.)
Wenn die Angebote für die demokratische Betreuung des nationalen Kapitalismus nun einmal nicht übermäßig unterschiedlich sind, muss man ja nicht unnötige Gegensätze hinzu erfinden, die die Parteien gar nicht haben, das wollen die Kritiker nicht verlangt haben: Einerseits merkt das ohnehin kaum jemand – wer liest schon Programme, wen interessieren schon Argumente –; andererseits ist die Gemeinsamkeit der Demokraten schließlich auch ein achtbarer Wert und die „Schlammschlachten“ von früher waren zwar hochinteressant, aber eben auch unter Niveau. Aber: Die beiden Spitzenkandidaten hätten sich trotzdem die Mühe machen müssen, bei aller politischen Gemeinsamkeit auch irgendwelche Differenzen „spannend“ rüber zu bringen und wenigstens den Schein des politischen Streits um irgend ein „Sachthema“ zu inszenieren, anstatt bei ihrem gemeinsamen TV-Auftritt Deutschland „den gefühlt längsten Abend der deutschen Fernsehgeschichte ertragen“ zu lassen. (FAZ, 15.9.)
Diese Forderung nach der verlogenen Inszenierung sachlicher Gegensätze entspringt natürlich nicht einem oberflächlichen Unterhaltungsbedürfnis zynischer Redaktionen. Da würden sich die Freunde der demokratischen Duellkultur missverstanden fühlen. Sie erwächst vielmehr aus der Sorge um das Verhältnis des wählenden Staatsbürgers zu seinem Gemeinwesen. Medienleute wollen ihrer Kundschaft abgelauscht haben, dass „viele Bürger die Frage quält, wen soll ich nur wählen?“ (SZ, 9.9.) und sind überzeugt, dass eine staatstragende Antwort darauf nur durch wählbare und unterscheidbare Alternativen aus dem demokratischen Parteienspektrum erfolgen kann. Wenn man „schon bis zur Linken blicken (muss), um klare Konturen zu erkennen, Konturen freilich, die einen erschrecken lassen“ (SZ, 9.9.), dann ist was faul im Staate D.
Verlangt ist also von den alteingesessenen Blockparteien des demokratischen Kapitalismus, ihren gewaltmonopolistischen Regierungsanspruch endlich wieder als zwar seriöses, niveauvolles, aber auch buntdemokratisches Auswahlangebot interessant zu machen. Sie sollen den Wählerwillen politisch bilden, wie es dem Verfassungsauftrag entspricht, ihn damit an das beste aller Herrschaftssysteme binden und dafür sorgen, dass er sich – von klaren Herrschaftsalternativen anspruchsvoll unterhalten, auch wenn die ein bisschen erfunden sind – flächendeckend zur Bestellung seiner Obrigkeit mobilisiert sieht. So würde dann der Besuch im Wahllokal zum Abschluss einer stimmungsvollen Veranstaltung, deren Inhalt ein Bekenntnis zur Nation sein sollte, das sich auch noch richtig gut anfühlt.
Die Wahlkämpfer haben es diesmal nicht ausreichend hinbekommen, so die öffentliche Kritik, bei den Wählern die Zustimmung zur Führung richtig spürbar werden zu lassen und im Volk eine Stimmung erkennbarer Begeisterung für die zur Wahl stehenden Führungsoptionen zu erzeugen. Der Vorwurf an die wahlkämpfende Elite, sie habe eine „langweilige“ Kampagne geführt, lebt von der Vorstellung einer bei den mitreißenden Diskursen des Herrschaftspersonals mitfiebernden Wählerschaft, die dann, angemessen demokratisch erregt, mit ihrem Wahlkreuz für klare Gewaltverhältnisse sorgt. Wahlkampf als monatelanger Reichsparteitag auf demokratisch, das wäre das Ideal dieser Kritiker, geführt von charismatischen Akteuren, die es schaffen – ähnlich dem leuchtenden Beispiel Obama bei den letzten US-Wahlen –, beim Publikum eine gefühlsmäßig präsente Parteilichkeit für die Nation zu stimulieren und in Form einer hohen Wahlbeteiligung ein donnerndes Hurra auf die Einheit von Volk und Führung auszubringen, auch wenn derartige Begeisterung anderswo und zu anderen Zeiten von Demokraten gerne als Massenhysterie denunziert wird. Hier und heute und angesichts der „harten Zeiten“, die auf die wahlberechtigte Bevölkerung zukommen, würde das ja einem wirklich guten Zweck dienen: Wenn ein Volk seinem Schaden begeistert zustimmt, tut er ja vielleicht nur mehr halb so weh.
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Angesichts der Stimmenverluste der SPD bei der Bundestagswahl lässt sich die FAZ (faz.net vom 30.9.) mit selten gehörten Lobesworten vernehmen:
„Sozialdemokraten werden in jeder Demokratie westlichen Typs gebraucht. Das sieht man gerade in Ländern wie den Vereinigten Staaten und Japan, die mit nur zwei Parteien auskommen: Eine davon muss sozialdemokratisch sein, sonst haben weite Teile der Bevölkerung keine politische Vertretung.“
Dass insbesondere Arbeitnehmer eine Vertretung brauchen, die sich das Soziale, soziale Gerechtigkeit, Symmetrie o.ä. auf die Fahne schreibt, hält die FAZ geradezu für eine Systemnotwendigkeit. Allerdings darf man Vertretung nicht so missverstehen, als ob es darum ginge, Interessen einer Klientel durchzusetzen:
„Müntefering und Steinmeier stehen für eine SPD, die jederzeit bereit ist, Verantwortung für das Ganze zu tragen. Das hat sie – unter großen Opfern – schon in der Weimarer Republik getan.“
„Das Ganze“, das sind nicht die Interessen der Arbeiterschaft. Die darf vielmehr nur vertreten, wer sich ganz der Nation samt zugehöriger Marktwirtschaft verpflichtet fühlt–also genau der Ursachen für proletarische Lebensbedingungen, die eine ständige soziale ‚Abfederung’ überhaupt erst notwendig machen. Anfängliches Sympathisieren mit Klassenkampf und Gesellschaftsveränderung hat die SPD glücklich überwunden:
„Die SPD hat ihren Namen deshalb behalten und trägt ihn mit Stolz, weil sie sich schon vor hundert Jahren von Utopien wie „Reichtum für alle“ verabschiedet hat.“
Im Unterschied zur Linkspartei, deren „Verlässlichkeit“ in dieser Hinsicht ja immer noch abzuwarten bleibt, hat die SPD nach Münteferings Bild eine über hundertjährige Erfahrung damit, für ‚geordneten Verhältnisse’ zu sorgen, die auch und gerade der Wirtschaft Grund zur Wertschätzung geben:
„Eine solche Sozialdemokratie braucht nicht zuletzt die Wirtschaft, der zwischenzeitlich das Bewusstsein dafür abhanden gekommen zu sein scheint, wie abhängig auch sie von demokratischen Verhältnissen ist.“ Mal ehrlich, am besten geht’s dem Kapital doch da, wo Ordnung herrscht, u.a. deswegen, weil sozialdemokratische Parteien dafür sorgen, dass die beständig produzierte Armut sozial geregelt und verwaltet wird, und sich etwaiger Unmut der Armen, pardon: der „sozial Schwachen“, nicht gegen deren Verursacher richtet, sondern konstruktiv in die Mühlen des Wählens und der sich darin austobenden politisierten Unzufriedenheit gelenkt wird.
„Wer es nicht mit Radikalsozialisten zu tun bekommen will, die Mehrheiten für Enteignungen organisieren, hat keinen Grund, sich über den Niedergang der Volkspartei SPD zu freuen.“
Der Beitrag der SPD zum sozialen Frieden ist nicht gering zu schätzen. Trotz all der schönen Erfolge deutscher Unternehmen hinsichtlich zunehmend „asymmetrischer“ Reichtumsverteilung denkt keiner hier an Enteignung oder so hässlich radikalsozialistische Gedanken wie „Reichtum für alle“ – die haben in anständig sozialdemokratischen Köpfen deutscher Armer keinen Platz. Dafür, dass das so bleibt, das nächste mal bitte wieder ein bisschen mehr SPD wählen! Fürs große Ganze!
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Die FDP ist der große Gewinner dieser Wahl. Der Wähler befand Argumente folgenden Kalibers offenbar für schwer einleuchtend:
„Die Bürger, die in Deutschland arbeiten, Steuern- und Sozialabgaben zahlen, fühlen sich doch mittlerweile als Deppen der Nation! … Von der Krankenschwester bis zum Handwerker spürt jeder, dass sich die eigene Leistung nicht mehr ausreichend lohnt.“ (Westerwelle in BamS)
Niemand missversteht diese Einfühlsamkeit als Aufruf zu fetten Gehaltserhöhungen für Krankenschwestern. Es ist völlig klar, dass Westerwelle diesen Berufszweig lediglich als Sinnbild für die Bürgertugenden von Fleiß und Tüchtigkeit hernimmt. Gemeint mit den „Deppen der Nation“ sind natürlich die Leistungsträger des famosen deutschen Mittelstands und alle freischaffenden Besserverdiener: Deren Geld will vor dem staatlichen Zugriff per Steuern und Sozialabgaben bewahrt werden. Bewirkt wird durch die staatliche „Umverteilung“ mit Steuern und Sozialtransfers aus liberaler Sicht nur die ökonomische Todsünde schlechthin: Leute bekommen Geld, das sie nicht als Einkommen verdienen, während andere Geld zahlen, ohne dass es sich für sie lohnt.
Das verlängert die FDP konsequent in die Forderung, dass sich auch der finanzielle Aufwand für die aktuelle Krisenbewältigungspolitik möglichst nicht als Abzug von privat verdienten Einkommen (und andere gibt es nun mal nicht), geltend machen darf. Die Rettungsmaßnahmen fürs Finanzsystem und den Rest der Wirtschaft ziehen sich den Vorwurf zu, dass sie so viel kosten, nämlich Steuergeld und Staatsschuld. Als höchst „wirtschaftskompetent“ erweisen sich die Liberalen mithin auch durch ihren Mut zum Widerspruch: Wegen ihres Beharrens auf dem Prinzip des Systems – der Unantastbarkeit geschäftlicher Freiheit und der daraus gezogenen Gewinne – wettern sie gegen alle Maßnahmen, die dieses Prinzip verletzen, um das System zu retten.
Es gab auch schon Zeiten, als konkurrierende Parteien versucht haben, die FDP wegen dieser Programmatik als bonzenfreundlich, marktradikal und antisozial anzugreifen und ihr Einseitigkeit und mangelndes Verständnis für das „große Ganze“ vorzuwerfen. Von diesem üblen Geruch ist aber so gut wie nichts mehr geblieben. Zwar ist die FDP immer noch bonzenfreundlich, marktradikal und antisozial – nur ist das für ein Gutteil der Wählerschaft anscheinend ein Lob angesichts des in der Krise gereiften Konsens, dass das „große Ganze“ exakt so einseitig ist, wie die FDP es schon immer propagiert.
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Die LINKE ist sturzzufrieden mit dem Ergebnis – jetzt ist sie endlich ,,auch im Westen angekommen“.
Nun darf sie beweisen, was sie nach Ansicht der anderen Parteien und der Öffentlichkeit beweisen muss: Ist sie ,,politikfähig“, also bereit, ,,Verantwortung“ für Deutschland zu übernehmen?