Muhammad Junus, Erfinder der Mikrokredite und Nobelpreisträger, musste gegen seinen Willen vom Vorsitz seiner Grameen-Bank zurücktreten. Die Presse vermutet eine Intrige und wirft damit ein Licht auf die Macht, die sich dieser Wohltäter der Menschheit mit seinem Dienst an den Armen erworben hat:
„Premierministerin Sheikh Hasina, eine ehemalige Studienfreundin von Junus, versucht schon länger, dessen Macht zu brechen. Sie fordert 60 Prozent der Grameen-Bank für die Regierung ein. Möglicher Grund: Mehr als ein Drittel der Bengalen hat regelmäßig mit der Bank zu tun und der in der Bevölkerung beliebte Junus muss ihr als Gefahr erscheinen.
Als Mehrheitseignerin könnte sich die Regierung mit einem Schuldennachlass dagegen viele Wählerstimmen sichern.“ (SZ, 2.3.11)
Ein Drittel des Landes im Schuldendienst, allein bei der Grameen-Bank – und die armseligen Existenzgründer als abhängiges und mit ihrer Notlage manipulierbares Stimmvieh im Poker um die Regierungsmacht zeugen davon, welchen Erfolg die Idee, das Kreditgeschäft in den Dienst der Entwicklungshilfe zu stellen, erbracht hat.
Junus hatte den Nobelpreis für das Konzept einer modernen Entwicklungshilfe erhalten, die die traditionelle Armenspeisung dafür kritisiert, ein Faß ohne Boden zu sein. Seine Entdeckung bestand darin, dass den Hungerleidern dieser Welt v.a. eines fehlt: Geld in Form des Kredits, also mit eingebautem Vermehrungsanspruch. Damit sollte nicht nur dafür gesorgt werden, dass sich die Armen selbst um ihren Lebensunterhalt kümmern können, sondern dass sie das, dank des Zwangs zur Zinsbedienung, auch müssen. Die Bereicherung der Bank als pädagogischer Trick, als „heilsamer Zwang“, der den Armen die Zinszahlung an die Bank wert sein musste.
In der Tat ist diese „Hilfe zur Selbsthilfe“, also die Idee einer Kreditvergabe unter sozialen Gesichtspunkten für den Erwerb einer bescheidenen Verdienstmöglichkeit, kombiniert mit sozialem Druck, den die Bank dadurch erzeugt, dass sie die ganze Dorfgemeinschaft als Sicherheit für die Kreditbedienung haftbar macht, zu einer Erfolgsgeschichte geworden.
Die Armen wurden aus der absoluten Mittellosigkeit oder der Zinsknechtschaft von Wucherern befreit und zu dankbaren und arbeitseifrigen Schuldnern der Grameen-Bank gemacht, die sich mit ihrer neuen Verdienstquelle mühten, den Zinsansprüchen gerecht zu werden, und die Bank konnte auf eine stolze Verzinsung ihres Kapitals von 20 % und solide Rückzahlungsraten von 98 % verweisen (vgl. GegenStandpunkt 4/06). Das überzeugte auch ganz normale Geschäftsbanken davon, dass Pauperismus kein Ausschlussgrund für ein solides Bankgeschäft sein muss. Junus‘ Gleichung von Kreditgeschäft und Entwicklungshilfe rückwärts gelesen, eröffnete die weltweite Armut dem Bankgeschäft beeindruckende Expansionsmöglichkeiten und das ‚Modell‘ von Junus fand schnell Nachahmer:
„Der Chef des Mikrokreditunternehmens Comportamos ist im Herzen ein Romantiker. Aber er ist auch ein guter Geschäftsmann. Es gelingt ihm, sein leidenschaftliches Eintreten für soziale Verantwortlichkeit mit den nüchternen Erfordernissen der Profitmaximierung zu verbinden. Er sagt: ‚Es gibt 3 Mrd. Menschen, die von 2 Euro am Tag leben. Warum sollten wir also nicht ein Geschäftsmodell entwickeln, das mit dieser sehr armen, aber enorm großen Einkommensgruppe arbeitet?‘“ (FT, 30.3.2007)
Ja, warum nicht? Was hier als schlichtes Rechenexempel vorgetragen wird, ist das offensive Bekenntnis zum Desinteresse an den Lebensumständen der Leute, die für die Geldvermehrung der Bank taugen sollen. Für den Geschäftsmann sind zwei Euro eben zwei Euro. Unter dem Gesichtspunkt wird dem Lebensunterhalt der elenden Massen, knapp über der offiziellen Armutsgrenze der UNO, glatt die Ehre zuteil, für Zins und Tilgung in Anspruch genommen und wie ein normaler Kreditnehmer behandelt zu werden. Und das ist es dann, was den Geldschneider zum Bankier mit Herz adelt.
Durch den neuen Blick auf die Armut motiviert und beflügelt durch die Krise im traditionellen Bankgeschäft war die Bereitschaft der Banken groß, den Armen qua Kredit zu einer Verdienstmöglichkeit zu verhelfen. Schließlich spielen die Kreditverträge nicht nur unmittelbar Geld ein, die Rechte aus den Zinseinnahmen erlauben den Banken die Konstruktion von Wertpapieren, die sie als Kapitalanlagen vermarkten. Mikrokreditunternehmen wie Comportamos in Mexiko, SKS in Indien und Progresar in Argentinien gingen an die Börse. Mit den dadurch zugeflossenen Mitteln konnten sie ihr Geschäftsvolumen weiter ausdehnen, umgekehrt beglaubigte das Volumen ihrer Kreditvergabe an die Armen den Wert ihrer Aktien. Mikrokredit wurde zu einem erfolgreichen Zweig der Finanzindustrie.
Inzwischen hat sich fast jede Großbank ihre eigene Mikrokreditabteilung zugelegt, einfach, weil sich das Mikrokreditgeschäft bestens als eigene Quelle der Kapitalbeschaffung eignet – und sie sich nebenbei damit das Image des Wohltäters zulegen kann. Mit einer somit finanziell wie moralisch gleichermaßen höchst ertragreichen Anlagemöglichkeit für ihre Ersparnisse lassen sich neue, gerade ethisch besonders sensible Kundenkreise mobilisieren, für die das finanzkapitalistische Treiben ansonsten ziemlich anrüchig ist. Mit eigenen Fonds und anderen ungemein „nachhaltigen“ Finanzprodukten bieten die Banken ihnen eine ebenso saubere wie profitable Kapitalanlage. So hat sich die Deutsche Bank mit der moralisch schwer verantwortungsbewussten Oikocredit-Bank zusammengetan, um ihren Anlegern sehr gute Anlagemöglichkeiten und sichere Investmentgelegenheiten zu bieten, die ethisch dazu noch das Prädikat „besonders wertvoll“ tragen.
Mittlerweile erlebt diese Branche allerdings ihre erste Krise und das marktwirtschaftliche Idyll hat einige Kratzer abbekommen. Immer wieder wissen sich arme Inder der Schuldenfalle, in die sie ihre Helfer getrieben hatten, nur noch durch Selbstmord zu entziehen, und empörte, in die Enge getriebene Schuldner stürmten Ende letzten Jahres die Banken. Die indische Regierung sah sich gezwungen, den maximalen Zinssatz der Mikrokredite auf 27 % zu deckeln, was sich wiederum negativ auf die Aktienkurse der Mikrokreditbranche auswirkte.
Wie es zu diesen als Skandal registrierten Vorfällen kommen konnte, ist kein Geheimnis: Der Anspruch der Gläubiger auf Zins wird, wenn nicht umstandslos bedient, mit Mitteln des Rechts oder ersatzweise mit mehr oder weniger offener Privatgewalt geltend gemacht. Mindestens aber bekommt der Schuldner gehörigen moralischen Druck von seinem sozialen Umfeld zu spüren, das ja für die Kreditbedienung zusätzlich haftbar gemacht ist. Das zynischerweise als Win-Win-Situation vorgestellte Gläubiger-Schuldner-Verhältnis, das bei den Armen von dem Vergleich lebt, dass sie in einer vom Geld regierten Gesellschaft ohne den Mikrokredit definitiv davon ausgeschlossen sind, für sich zu sorgen, offenbart sich so einseitig, wie es ist: als unbedingter Rechtsanspruch des Gläubigers auf Bereicherung durch einen mit dem Zins festgelegten Zuwachs an Geld. Für die Kreditnehmer heißt das, dass sie sich mit ihren kreditfinanzierten Arbeitsmitteln nicht nur abplagen müssen, sondern dass sich diese Arbeit auch als Verdienstquelle bewähren muss, aus der zunächst der Zins wegzuzahlen ist, bevor sie aus dem Rest, der ihnen dann noch bleibt, ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten können. Dabei nimmt die Chance, dass sich aus dem kreditfinanzierten Fahrrad, Kiosk oder Webstuhl tatsächlich ausreichend Geld schlagen lässt, mit der vermehrten Kreditvergabe nicht zu. Im Gegenteil:
„Mittlerweile haben sich bei Mikrofinanz auch negative Effekte eingestellt. So ist die Verdrängungsgefahr groß, zum Beispiel: Ein Mikrofinanzinstitut finanziert eine Kioskgründerin, die eine Kioskbetreiberin eine Straßenecke weiter verdrängt, die von einem konkurrierenden Mikrofinanzinstitut einen Kredit erhielt.“ (FAZ, 17.6.11)
Die Kreditvergabe der Banken, die selbstverständlich in Konkurrenz zueinander ihr Geschäft betreiben, führt zu einem verschärften Überlebenskampf der kleinen Existenzgründer, die sich jetzt im Auftrag ihrer Kreditgeber wechselseitig die chronisch bescheidene Zahlungsfähigkeit ihrer Kunden streitig machen dürfen. Die mit dem Kredit ermöglichten Existenzgründungen sind eben nicht der Zweck, wie es die Rede von der „Hilfe zur Existenzgründung“ behauptet, sondern das Mittel der Banken, an ihnen zu verdienen, und entsprechend werden sie in der Konkurrenz der Geldgeber und -nehmer auch wieder vernichtet.
„‚Unter den Webern dieser Gegend ist das Rückzahlungsproblem so groß, dass man von einer Auswanderungsbewegung sprechen muss‘, sagt Narayanan Reddy, der das Regionalbüro von Apmas in Andhra Pradesh leitet. Ursache sei die leichte Verfügbarkeit der Kredite. Den Webern würden die Kredite hinterhergeschmissen, obwohl jeder weiß, wie sehr die Industrie krankt. ‚In Guntakal, einer kleinen Stadt mit 150
000 Einwohnern, gibt es schon sieben Mikrofinanzinstitute‘, sagt Babu.“ (Spiegel, 10/08)
Die preisgekrönte Idee, die Armut dadurch „ins Museum zu verbannen“ (Junus), dass man die von ihr Betroffenen zu Kleinunternehmern macht, erweist sich im großangelegten Feldversuch als Witz. Als schlechter zumal; denn der Kredit, der an einem Geschäft partizipieren will, wird dort, wo es keines gibt, zum Wucher. Die Schuldner verbrauchen das Geld für ihren armseligen Konsum und die Zinslast wirkt unmittelbar ruinös. Der Kredit ist die Ursache einer neuen Form von Elend: Neben einigen erfolgreichen Jungunternehmern, die sich in der Konkurrenz behaupten, schafft er eine Masse von Armen, die jetzt nicht mehr nur mittellos, sondern ausweglos verschuldet sind.
An dem Scheitern der vielen Kreditnehmer scheitert das Finanzgeschäft mit der Armut noch lange nicht. Während sich die einen angesichts des Schlamassels, das die Kreditwirtschaft angerichtet hat, um ihren guten Ruf, den eigenen und den der Kreditwirtschaft, sorgen und einfach jeden Zusammenhang der Mikrokredite mit dem Profit, der damit gemacht wird, bestreiten – allen voran der „moderne Heilige“ persönlich:
„Ein Mikrokredit, der einen Menschen in den Tod treibt, hat mit meiner Idee nichts mehr zu tun. Viele missbrauchen Mikrokredite, um Profit zu machen.“ (Junus-Interview, SZ, 24.6.11) –
nehmen die anderen Experten die Krise zum Anlass, über Verbesserungen ihrer Geschäftsmodalitäten nachzudenken. Da wird daran erinnert, dass man bei dem Geschäft mit der Armut immer noch ein Geschäft mit Armen macht und eine entsprechende Begrenzung der Kreditvergabe durchaus im Sinne der Solidität des Geschäfts ist:
„In Indien hat jetzt eine Expertenkommission vorgeschlagen, nur zwei Kredite pro Person zu erlauben. Eine Schufa-ähnliche Auskunftei, die es in Indien schon gibt, soll das kontrollieren. Zudem soll vorgeschrieben werden, dass Schuldner den Großteil ihres geliehenen Geldes investieren müssen.“ (FAZ-NET, 4.2.11)
Und daneben wird überlegt, wie man die letzten weißen Flecken auf der Weltkarte der Finanzdienstleistungen tilgen könnte. Weil es die Mikrokreditbanken nicht geschafft haben, „das Problem zu lösen, dass Finanzdienstleistungen in Afrika immer noch stark unterentwickelt sind“(FAZ, 17.6.11) komme es, so die Financial Times, darauf an, „über Mikrokredite hinauszugehen zu Sparkonten und anderen Finanzprodukten, so dass die Armen dieser Welt ein volles Spektrum von Finanzdienstleistungen zur Verfügung haben.“
Warum sollte man sich auch, bloß weil die Armen arm sind, auf die eine Seite des Bankgeschäfts, die Kreditvergabe, beschränken, wo es doch viel „runder“ wäre, wenn sich die Armen auch als Einleger und damit als Kreditgeber für die Banken nützlich machen könnten.
„Das Sparpotential in Afrika wird nach Meinung Wessels‘ (Bankenberater bei Roland Berger, Anm.d.V.) unterschätzt… Selbst diese Menschen (unter zwei Dollar Einkommen am Tag, Anm.d.V.) könnten und müssten 50 Cent täglich zur Seite legen.“ (FAZ, 17.6.11)
Wenn die armen Afrikaner ihre paar Groschen richtig einteilen, dann stehen die Chancen gut, dass jedenfalls das Finanzkapital seine Unterentwicklung erfolgreich überwinden kann.