Immer Ärger mit dem „Humankapital” der Nation
[Im Folgenden drucken wir einen leicht gekürzten Artikel aus dem GEGENSTANDPUNKT 1/02 ab.]
Einig sind sich alle über eines: die „beschämend schlechten“ Leistungen des deutschen Nachwuchses im internationalen Vergleich sind ein Skandal. Verhängt ein internationaler Schulleistungs-Test über den Ertrag deutscher Schulen die Abschlussnote „Ungenügend”, steht weit Höheres auf dem Spiel als „nur” die Ausstattung der Jugend mit vernünftiger Bildung: „Reputation und Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland” (Möllemann selig) sind in Gefahr.
Eine verräterische Sorge.
Sie gibt nämlich eine erste Auskunft darüber, wofür Bildung und Erziehung in einer modernen Kulturnation gut sind und von Staats wegen veranstaltet werden: In all ihrer nationalen Betroffenheit sehen die Freunde der Volksbildung aus Kultusministerien und Feuilleton im Arsenal der kleineren und größeren ABC-Schützen nicht mehr und nicht weniger als eine nationale Ressource, bei deren Aufrüstung mit den nötigsten intellektuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Staat nichts anbrennen lassen darf, um in der Konkurrenz der „Standorte” um Macht und Reichtum Erfolg zu haben. Zwar hängt von den Rechen- und Lesekünsten von Hauptschülern so unmittelbar kaum etwas ab. Doch wenn es daran vergleichsweise fehlt, und das flächendeckend, dann liegt da nach allgemeiner Einschätzung doch ein Defizit vor, ein Konkurrenznachteil von zwar unbestimmter, deswegen aber auch unabsehbarer Tragweite. Auch wenn der Nachwuchs der Nation für deren weltmarktwirtschaftlichen Konkurrenzkampf noch nicht einmal vollzählig gebraucht wird: Bereitstehen soll er schon, fit und willig für jeden Gebrauch, flexibel einsetzbar und pünktlich, mit all den Fertigkeiten ausgestattet, von denen dann der Arbeitgeber Arbeit nach geber seinem Bedarf so selektiv Gebrauch machen darf und machen soll, wie er es braucht – was er nicht benötigt, mag dann getrost zugrunde gehen. Darauf jedenfalls hat die rechenkundige Wirtschaftselite der Nation ein Anrecht. Und deswegen nennt Arbeitgeberpräsident Hundt es „für eine führende Industrienation einen Skandal”, wenn, wie die PISA-Studie zeigt, ein knappes Viertel der Schüler durch hoffnungsloses Unwissen seine Benutzbarkeit gefährdet.
Andererseits sind solche Beschwerden doch auch wieder einigermaßen ungerecht. Denn sie treffen nur den einen Teil des staatlichen „Bildungsauftrags” – eben das berechtigte Interesse der arbeitgebenden Elite an einem zeitgemäß nutzbaren Menschenmaterial. Zur allgemeinen Volksbildung gehört aber ein genauso gewichtiger zweiter Auftrag: die Vorsortierung tiger Vor des sortierung gesellschaftlichen Nachwuchses; genauer: die Herstellung von Unterschieden an den jungen Leuten, die für deren gerechte und passende Verteilung auf die verschiedenen Stufen in der gegebenen Hierarchie der Berufe sorgen. Die Auslese, die für den Arbeitsmarkt getroffen wird, findet vor ihm statt, und zwar über die unterschiedliche Zuteilung von Bildung nach dem ebenso funktionalen wie gerechten Grundsatz: Wer länger braucht, kriegt weniger Zeit zum Lernen; wer nicht planmäßig mitkommt oder mitmacht, kriegt nicht umso mehr, sondern umso weniger Unterricht. Die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten intellektueller Art geschieht nämlich im Hinblick auf Prüfungen, die ausdrücklich so angelegt sind, dass sie eine gewisse Quote von „Versagern” hervorbringen, die alsdann von weiterer Ausbildung ausgeschlossen werden. Der Bildungskanon fungiert als Stoff, mit dessen Hilfe die Selektion und die „Weichenstellung” vorgenommen wird, auf die sich dann der Arbeitsmarkt mit seinem differenzierten Bedarf so nutzbringend bezieht. Und das bis hinunter zur Rekrutierung des Personals für die Abteilung Lumpenproletariat. Wenn nämlich das Wochenblatt fürs gebildete Publikum, Die Zeit, anlässlich der PISA-Studie bemerkt, dass „für manche Erstklässler die spätere Langzeitarbeitslosigkeit in der postindustriellen Gesellschaft bereits beschlossene Sache ist”, dann mögen die letzten Idealisten der marktwirtschaftlichen Menschensortierung das zwar so verstehen, als ließe sich durch emsiges Lernen die Entstehung von Langzeitarbeitslosigkeit überhaupt vermeiden; Tatsache ist aber – und so meint es das schlaue Blatt in seinem abgeklärten affirmativen Zynismus wohl auch -, dass diese Sorte Elend einem gehörigen Prozentsatz der Gesellschaft auf alle Fälle blüht – und dass die Schulkarriere bloß mit darüber entscheidet, wen es trifft. Die von den ersten Schulklassen an konsequent praktizierte Trennung zwischen „den Guten” und dem gro ßen Rest bringt neben einer „Elite” und einem größeren Teil von „Nicht-Elite” eben auch alle Mal einen gehörigen Schwung von definitiven Schulversagern hervor, die schon damit für ihr restliches Leben ziemlich abgeschrieben sind. Die Ergebnisse und eingetretenen Erfolge dieser schulischen Sortierungs-Bemühungen werden gerade durch die PISA-Studie eindrucksvoll bestätigt: 22% der Schüler verrotten „auf der untersten Niveaustufe” – ungefähr haargenau der Anteil, den das Subproletariat in „unserer postindustriellen Bildungsgesellschaft” ausmacht. So passend und gerecht zugleich organisiert das Schulsystem der Republik die Verteilung der „jungen Menschen” auf die unterschiedlichen Klassen – und reproduziert dabei sogar mit einiger Treffsicherheit ihre Herkunft aus ihrer jeweiligen Klasse: „Mehr als in anderen Ländern besteht in Deutschland ein straffer Zusammenhang zwischen sozialer Stellung der Familien und schulischen Leistungen.” (SZ, 5.12.) Die Nachkommenschaft der unteren wie der oberen Schichten landet also nach ihrer Teilnahme an den öffentlichen Bildungsveranstaltungen wieder dort, wo sie herkommt – und es gibt immer noch Leute, die sich darüber wundern. Als wäre mit den Praktiken der effektivst möglichen Auslese nicht zugleich auch schon klar, dass schulischer Erfolg der Kinder zu einem Gutteil davon abhängt, wie viel an Zeit, Geld und „Erfolgsorientierung” ihre Familien dafür aufzuwenden vermögen, wie produktiv, also im Sinne der Selektion durch Prüfungen, ihre Drangsalierung durch ihre Eltern – Gen? Umwelt? – ausfällt. Und wenn sich schon der Staat ein Sparprogramm in seinem Bildungswesen verordnet und seinen einstmals selbstverordneten Auftrag, für „gleiche Bildungschancen” und ein paar Arbeiterkinder an den Universitäten zu sorgen, ersatzlos zugunsten von „gezielter Förderung von Spitzenbegabungen” und kostengünstiger Abwicklung für den Rest gestrichen hat, dann gilt der Maßstab des Geldes eben auch ungebremst für die Schulerfolge der lieben Kleinen. Bildung ist eine Klassenfrage – das deckt die PISA-Studie ganz nebenher wieder einmal auf.
Und das geniert im modernen Klassenstaat, Marke BRD, im Grunde auch niemanden mehr; ein paar alte hartgesottene GEWler vielleicht ausgenommen. Wenn es in der besten aller Welten für einen nicht unbeachtlichen Prozentsatz der Bevölkerung den Status des gesellschaftlichen Ausschusses gibt, dann spricht das heutzutage nicht gegen diese Welt. Das Bildungswesen allerdings, so der Inhalt der aufgeregten Nach-PISA-Debatte, soll nicht vorschnell und eigenmächtig für diesen Ausschuss sorgen. Wenn es einen Großteil seiner Absolventen noch nicht einmal dazu befähigt, den Konkurrenzkampf um Auf- oder Abstieg in der Welt der Lohnarbeit überhaupt so richtig aufzunehmen., dann hindert es den „Arbeitsmarkt“ daran, das entscheidende Urteil über Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit des nachwachsenden Menschenmaterials zu treffen. So brauchbar sollten die Jugendlichen also auf alle Fälle sein, dass die Arbeitgeber die uneingeschränkte freie Auswahl haben. Was sich übrigens, ohne dass auch nur irgendetwas anderes gemeint wäre, auch so ausdrücken lässt: Jeder Einzelne soll seine Chance haben, das Optimum an Erwerbsfähigkeit aus sich heraus zu holen und im Berufsalltag seinen gerechten Platz zu finden. So buchstabiert sich „Ressource” menschenfreundlich.
Im Übrigen gibt es oberhalb der herrschenden Brauchbarkeits- und Sortierungsgesichtspunkte noch ein höheres Recht auf Bildung, aus dem der dritte Teil des öffentlichen Auftrags an ein nationales Schulsystem folgt: Einem modernen Kulturstaat ist daran gelegen, seinem Volk und dessen Jugend die Grundausstattung eines anständigen Staatsbürgers mit auf den Lebensweg zu geben. Recht viel an Bildung braucht es – der nicht aussterben wollenden, idealistischen Verwechslung von Volksbildung mit einem gebildeten Volk zum Trotz – dafür zwar nicht. Aber ein einigermaßen anstelliger Umgang mit Formularen, Wahlzetteln und der Lektüre der Bild-Zeitung, eine solide „Verankerung in der abendländischen Wertegemeinschaft” und das Wissen, wo die persönliche Freiheit endet und dass man Gewalt nur in staatlichem Auftrag anwenden darf – mit so viel geistigem Rüstzeug soll ein nützliches Volk schon versehen sein. So gänzlich ohne alle Fertigkeiten im Umgang mit der Sprache aller Deutschen, dass es am Ende dafür nicht mehr reicht, darf ein zuverlässiger Nationalist nun eben auch nicht sein: So viel Lesekompetenz muss sein. Und in dieser Hinsicht gibt die massenhafte geistige Verelendung der Jungmannschaft dem Herrn über Erziehung und Ausbildung Anlass zu einer gelinden Besorgnis; nämlich: wie gut und wie zuverlässig sich mit einem – nicht nur im internationalen Vergleich – derart großen „Sumpf” an Bildungsdefiziten Staat machen lässt. Diese Sorge wird dadurch noch verschärft, dass sich das jugendliche Lumpenproletariat zu einem ansehnlich großen Teil aus Nicht-Deutschen zusammensetzt, an deren nationaler Zuverlässigkeit ohnehin schon sehr prinzipielle Zweifel bestehen. Da braucht der Bundespräsident „kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass wir es in den kommenden Jahren mit noch größeren Integrationsproblemen zu tun bekommen, wenn wir die Kindergärten und Grundschulen nicht so umgestalten und ausstatten, dass sie ihren Beitrag zu einer gelungenen Integration leisten können” (Rau am 10.1.). Sonst wächst der Nation nämlich am Ende eine Fünfte Kolonne aus lauter ebenso nutz- wie heimatlosen Gesellen heran, deren nationaler Gesinnung man überhaupt nicht mehr über den Weg trauen kann.
Bei seiner Elite hingegen braucht sich der Klassenstaat keine Sorgen zu machen, dass sie nicht willens und in der Lage wäre, sich seine Problemstellung anzueignen und öffentlich nachzudenken über: Sollen „wir“ den Ausländeranteil in Schulklassen begrenzen? Brauchen „wir“ mehr Schulbullen, um chronischen Schulschwänzern ihre Bildungspflicht beizubiegen? Können Ganztagsschulen Begabte besser fördern bzw. Benachteiligungen ausgleichen? Vielleicht sollte die irreversible Weichenstellung für die künftige Klassenzugehörigkeit besser erst nach der 6., 9. oder 10.Klasse erfolgen?…
So bewegt der „Schock“ der PISA-Studie dann doch einiges: Alle sorgen sich um das rechte Maß an Volksbildung.