Die Armen saufen ab – das passt zur freien Marktwirtschaft
Ohne die freie Marktwirtschaft hätte sich eine Orkan der Stärke 5 zwar nicht verhindern lassen, aber nur mit ihr konnte es zu diesem Ausmaß von Tod und Zerstörung an der US-Südküste kommen. Die zuständigen staatlichen Organe hatten nämlich ziemlich früh Informationen darüber, dass sich ein Hurrikan der Windstärke 5 auf die Küste von Louisiana zu bewegte. Und wie reagierten sie darauf? Als überzeugte Demokraten und Fans der zu diesem Herrschaftssystem passenden Wirtschaftsordnung setzten sie voll auf das dort wie hier gültige Prinzip, dass jeder mit den Mitteln, die ihm zu eigen sind, – und nur mit diesen- zu schauen hat, wo er bleibt. Dementsprechend gingen sie mit der Bevölkerung von New Orleans um.
Sie forderten alle Einwohner zur Evakuierung ihrer Stadt auf und gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass jeder seine Flucht privat und gemäß seinen Eigentumsverhältnissen in Sachen Geld und Transportmittel zu organisieren hat. Es ist ja gerade die Schönheit dieses Wirtschaftssystems, dass jedes Individuum privatim und ungehindert durch staatliche Planung für sich sorgen darf und dass daraus das Bestmögliche für die Gesellschaft resultieren soll. Also gab es in Louisiana keine „kollektivistische“ oder gar „staatlich reglementierte“ Evakuierung, wie das letztes Jahr und dieses Jahr wieder vom „Zwangsregime“ des Fidel Castro an 1,3 Mio. armen Kubanern durchgezogen worden ist, weswegen die dortigen Hurricanes meist keine Toten und damit auch kaum Aufsehen in der freien Presse verursachen. In einer freien Marktwirtschaft kommt so etwas nicht vor. Da vermutete man schon am Tag nach dem Durchzug Katrinas, dass womöglich Hunderte von in der Stadt verbliebenen amerikanischen Bürgern ums Leben gekommen seien. Zwei Tage nach dem Orkan stellte man fest, dass offensichtlich über 100.000 Leute trotz des Evakuationsaufrufs noch in der Stadt waren. Eigenartigerweise waren fast ausschließlich arme Leute – darunter mehrheitlich schwarze Amerikaner – in ihren Häusern geblieben oder hatten das Footballstadion aufgesucht, um sich vor dem Orkan zu schützen. Sie hatten, so meldet die freie Presse ungeniert, zu wenig Geld und deshalb keine geeigneten Transportmittel. Und sie schreckten vor der Perspektive zurück, ohne Geld und ohne alles Überlebensnotwendige ihre Behausungen zu verlassen. Wohin sollten sie sich denn flüchten ohne ausreichende Zahlungsmittel, ohne die man in der freien Marktwirtschaft auch ohne Starkwind ziemlich aufgeschmissen ist. Es ist nur systemimmanent, dass Habenichtse, die es in der freien Marktwirtschaft zu nichts bringen, auch bei Naturkatastrophen die Arschkarte ziehen! Diese „beste“ aller Wirtschaftsformen bringt solche Habenichtse in großer Anzahl hervor und macht gleichzeitig jede Lebensnotwenigkeit vom Besitz von Geld abhängig. Deshalb besteht das Leben eines Großteils der Bevölkerung aus harter Arbeit, wenig Geld und einem permanenten Überlebenskampf nicht nur bei Überschwemmungsgefahr. Sogar der „Süddeutschen Zeitung“ fällt jetzt in ihrem Wirtschaftsteil, wo ansonsten immer von den weltweit überlegenen Wachstumszahlen des US-Kapitals die Rede ist, auf, dass „die Zahl der Armen in den USA im vierten Jahr in Folge gestiegen ist – auf 37 Mio. Menschen“ und dass gerade in New Orleans ein Fünftel der Bevölkerung weniger als 10.000 $ im Jahr verdient. Kein Wunder, dass in den 27.000 Familien, die offiziell unter der amtlich festgesetzten „Armutsgrenze“ leben müssen, viele kein Geld und/oder kein Auto hatten, um rechtzeitig zu flüchten. In der freien Marktwirtschaft bedienen die zahlreich vorhandenen Produkte von Ford, GM und Chrysler eben nicht den Bedarf nach Fluchtfahrzeugen aus Katastrophengebieten, sondern ausschließlich zahlungsfähige Bedürfnisse! Und Zahlungsfähigkeit ist das Letzte, worüber der arme Bevölkerungsanteil in New Orleans verfügt. Wenn die Bewohner der Armenviertel vor dem Sturm überhaupt über Arbeitsplätze verfügten, dann über welche für wenig Lohn bei viel Dreckarbeit im Dienstleistungsgewerbe, im Tourismus und der umliegenden Landwirtschaft. Die Lebensnotwendigkeiten des American Way of Life verlangen von solchen Leuten oftmals gleich mehrere Billigjobs auf einmal, also Müllabfuhr am Morgen und Hamburger einwickeln in der „Freizeit“. Zudem hat die Bush-Regierung zwecks Förderung des freien Marktes zügig jede Menge Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen und dafür die Gebühren für Dienstleistungen kräftig angehoben, weil es den Markt stärkt – sprich: neue Profitgelegenheiten für Kapitalanleger schafft –, wenn selbst die Krankenhäuser dem Rentabilitätsprinzip unterworfen werden.
Und von noch einer anderen Seite deckte Katrina eine schönes Stück freier Marktwirtschaft auf: Wegen der von ihren Apologetenimmer wieder eingeforderten Zurückführung der „Staatsquote“ auf das Notwendigste, damit die Unternehmen des freien Marktes weniger Steuern zahlen müssen und demzufolge mehr investieren, wurden im letzten Jahr die Gelder des für Deichsicherheit zuständigen Ingenieurkorps von New Orleans um 44% gekürzt und die nach dem letzten katastrophalen Hurrikan gemachten Pläne einer Aufstockung der Deiche endgültig aufgegeben. Ferner erlaubten die zuständigen Behörden die Trockenlegung von Teilen des Stausseesystems entlang der Küste des Golfs von Mexiko, um Neuland für Investitionen in Immobilien zu schaffen. Diese Anlagen dienten bis dahin als Auffangbecken für Sturmfluten aus dem offenen Meer und sollten Überschwemmungen bewohnter Gebiete verhindern. Gemäß den Gesetzen der freien Marktwirtschaft ermöglichte es der Staat Unternehmern und Spekulanten ihrem privaten Interesse nach Gewinn weitgehend rücksichtslos gegen mögliche negative Auswirkungen auf die Natur nachzugehen. Und gemäß den Gepflogenheiten demokratischer Politwerbung, in der allein der Erfolg zählt und nicht die Wahrheit, behauptete Bush beim Überfliegen des Überschwemmungsgebiets der Nation live im Fernsehen ebenso dreist wie wahrheitswidrig, dass niemand eine „Katastrophe in diesem Ausmaß“ habe vorhersehen können.
In den ersten Tagen nach dem Deichbruch hielt sich die Bush-Administration auch bei der Hilfe für die Opfer noch strikt an die Regeln der freien Marktwirtschaft. Deren Verfechter fordern nämlich, dass die Hilfe für die weniger Erfolgreichen in diesem System nicht hauptseitig vom Staat kommen soll, weil das die „Eigeninitiative“ lähme. In besonders tragischen Fällen ist dann vor allem die Privatinitiative der nicht betroffenen Staatsbürger zum Spenden verlangt. An Spendenaufrufen hat es denn auch nicht gefehlt, nationalbewegte und menschlich gerührte Spender füllten die Konten, ohne auf die Idee zu kommen zu fragen, warum sich in God’s own freier Marktwirtschaft derlei Naturkatastrophen für die von ihr Getroffenen immer zu ganz anderen Katastrophen auswachsen.
Als sich nach 3 Tagen eine Hunger- und Seuchenkatastrophe nach der Flutkatastrophe abzeichnete, weil immer noch keine Hilfe in New Orleans eingetroffen war, kam allerdings bei der freien Presse Unmut auf: Zuallererst bei der amerikanischen, die „Zustände wie in einem Drittweltland“ als unwürdig anprangerte – der besten aller Wirtschaftsweisen einerseits und ihrer weltpolitischen Führungsmacht Amerika im besonderen; gleichzeitig aber auch bei der internationalen, die die Gelegenheit nutzte, den USA reinzureiben, dass sie als alleiniger Weltpolizist doch wohl über ihre Verhältnisse agierten, wenn sie „zu Hause“ nicht mal mit den Folgen eines Wirbelsturms umgehen könnten. Die amerikanische Regierung registrierte Imageverlust und entschloss sich zum Handeln. Gemäß dem marktwirtschaftlichen Grundgesetz, dass der Schutz des Eigentums an erster Stelle bei allem staatlichen Handeln zu stehen hat, kamen noch vor Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bekleidung die Nationalgarde und Kampfeinheiten der Armee in die Stadt, um für das Wichtigste im bürgerlichen Leben zu sorgen: Ruhe und Ordnung, auf amerikanisch law & order!. Weniger wichtig war demgegenüber erst mal das Wohlergehen der verbliebenen und im Superdome versammelten Bewohner. Die saßen noch tagelang ohne Trinkwasser, Lebensmittel und sanitäre Anlagen im Stadion fest und versuchten – nicht alle erfolgreich – das zu überleben. Der städtische Bürgermeister rief lautstark nach Bussen für die Evakuierung, ohne dass sich ein zuständige Instanz gefunden hätte, die das organisieren wollte. In einem Land, dessen Politik sich der Förderung privat initiierter Kapitalvermehrung verschrieben hat, gibt es eine Instanz, die planvoll und effektiv die Versorgung der Menschen in Normal- und Notzeiten organisiert gar nicht, und deshalb dafür auch keine Mittel. Und als die ersten Busse eintrafen, tat man erst einmal das, was man in US-Großstädten mit Obdachlosen schon lange tut: man verfrachtete sie an eine – trockene – Straßenkreuzung und beließ sie da. Dass es da etwas zu trocken war und ein paar Leute verdursteten, ist in einem Land, wo jeder seines Glückes Schmied ist eben deren Problem. Keine Woche später waren dann Fahrzeuge vor Ort, der Umzug ins nächste Footballstadion fand statt und das wars dann. Von dort wieder wegzukommen, womit und wohin, dafür hat nun jeder Hungerleider – wenn er Glück hat mit mildtätiger Unterstützung privater Hilfsorganisationen – selbst zu sorgen.
Für die Gazetten ist das weitere Schicksal der Obdachlosen kein Thema mehr. Während in den Wirtschaftsteilen die Frage im Vordergrund steht, wie sich Katrina marktwirtschaftlich auswirken wird – „Einbruch“ bei der Konjunktur oder „Wachstumsschub“ durch Wiederaufbau – werden in den vorderen Seiten die üblichen Fragen nach der „politischen Verantwortung“ breitgetreten. Das Hochwassermanagement der Bush-Regierung kriegt schlechte Noten: der Präsident war viel zu lange im Urlaub, nicht rechtzeitig und ausreichend vor Ort; die Armee kam viel zu spät und nicht zahlreich genug, vielleicht weil die Regierung Schwarze nicht leiden kann, vielleicht aber auch, weil sich zu viele Soldaten im Ausland befinden … Da trifft es sich nicht ungünstig, dass kurz danach und daneben der nächste Wirbelsturm namens Rita der Regierung Gelegenheit gibt der angemahnten Verantwortung gerecht zu werden. Diesmal sind Soldaten, Busse und der Präsident im voraus an der texanischen Küste – und werden gar nicht gebraucht, weil diesmal kein Armenviertel überschwemmt wird. Dennoch gute Presse für Bush und seine Mannen. Man bescheinigt ihnen wohlgefällig, dass sie aus Katrina ihre „Lehren gezogen“ und die Verantwortung bewiesen hätten, die sie zu obersten Machthabern des Landes qualifiziert.
Damit, danach und daneben geht das wirtschaftliche Leben weiter, wie gewohnt. Die vom Sturm Getroffenen sammeln ihr Eigentum zusammen und versuchen, mit den verbliebenen Resten zu überleben, Immobilienfirmen verdienen sich am Geschäft mit trockenen oder billig erworbenen Überschwemmungsgrundstücken eine goldene Nase, die Ölindustrie macht Gewinne mit wegen der – erwarteten – Ölverknappung rasant steigenden Öl- und Benzinpreisen, die Regierung fördert den nationalen Wirtschaftserfolg und Natur und Bevölkerung dienen als Mittel und Material dafür. Die systemimmanente Gleichgültigkeit des Geschäfts und der Staatsgewalt gegen die ziemlich berechenbaren Auswirkungen der Tsunamis und Hurricanes auf das menschliche Inventar der Marktwirtschaft wird fortgesetzt und bei nächster Gelegenheit wieder für massenhaft Opfer sorgen. Und wieder wird behauptet werden, dass man das nicht habe wissen können. „Business as usual“ eben!