Tunesien, Ägypten, Libyen:
Immer nur „Demokratie gegen Diktatur“?
Der Aufstand in Libyen erfreut sich von Anfang an westlicher Sympathien, genießt doch der libysche Staatschef im Westen ohnehin den Ruf eines wahlweise „terroristischen“ oder einfach nur „verrückten“ „Diktators“, der mit seiner inneren und äußeren Politik sowie seiner „undiplomatischen“ Attitüde immer schon und immer noch ein „unberechenbarer“ Störenfried „unserer“ Ordnung war und ist. Der Aufstand gegen ihn muss unterstützt, Gaddafi gestürzt werden, darüber ist man sich schnell einig. Warum aber brauchten im Falle Tunesiens und Ägyptens europäische und amerikanische Politik und Öffentlichkeit ein paar Tage, ja Wochen, bis sie ihre Parteilichkeit sortiert hatten? Waren Ben Ali und Mubarak etwa keine „Alleinherrscher“?
Wenn man dieselben Maßstäbe wie an Gaddafi anlegen würde, aber immer! Aber in den Jahrzehnten ihrer Herrschaft waren solche Töne nicht zu hören. Von ihnen wurde immer höflich als „Präsidenten“ berichtet, hier fiel nie der hässliche Vorwurf „Machthaber“ oder gar „Diktator“. Und warum? Weil diese beiden mittlerweile davongejagten Staatschefs immer als zuverlässige Verbündete der westlichen Staaten regiert, als „Anker der Stabilität“ in einer „unruhigen“ Region alle antiwestlichen – und speziell im Falle Mubaraks auch antiisraelischen – Bestrebungen mit wenig zimperlicher Staatsgewalt unter Kontrolle gehalten oder eliminiert haben. Deren Herrschaftsmethoden sind daher nie „terroristisch“, ihr Auftreten nie „verrückt“ genannt worden. Und ihre Politik war „berechenbar“, weil fest an den Interessen der westlichen Staaten orientiert.
Den Bonus „Stabilitätsanker“ hat sich Gaddafi nie verdient. Seine immerhin über 40-jährige Herrschaft war dem Westen immer viel zu stabil. Und wenn ein nordafrikanischer Hüter von Ölquellen seine milliardenschweren Einnahmen u. a. dafür verwendet, immer wieder von neuem Initiativen zu ergreifen, die westliche Vorherrschaft im Orient und in Afrika in Frage zu stellen und antiwestliche Bewegungen weltweit zu unterstützen, dann wird dieser Politik vorgeworfen „unberechenbar“ zu sein -nicht etwa weil ihr Grund und Zweck nicht leicht zu erkennen wären, sondern weil sie sich den Berechnungen der Regierungszentralen in Washington und anderen westlichen Hauptstädten verweigert. Zwar hat Gaddafi in den letzten Jahren viel von seiner Widerspenstigkeit abgelegt und man hat sich mit ihm arrangiert, unübersehbar war aber weiterhin sein Beharren auf nationaler Selbständigkeit und darauf, dass sein von ihm aus den Sitten und Gebräuchen seines Kulturkreises entwickelter diplomatischer Stil vom Westen als gleichwertig anerkannt werde. Sein Öl, das er zuverlässig lieferte, sein Geld, von dem er nicht wenig in den Mutterländern des Kapitalismus anlegte, seine Mithilfe beim Kampf gegen Elendsflüchtlinge, sein ausdrücklicher Verzicht auf die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen samt Beitritt zum Nichtweiterverbreitungsvertrag, seine Wiedergutmachung für Lockerbie – gut und schön. Dennoch war man mit ihm nie zufrieden: Hielt er doch nicht damit hinter dem Berg, dass er all diese Konzessionen nur gemacht hatte, weil er seine immer neuen Anläufe, die Weltordnung des Westens zu korrigieren, mit der Selbstauflösung des Sozialistischen Lagers endgültig zum Scheitern verurteilt sah. Daher blieb er trotz aller nützlichen Dienste, die er dem Westen leistete, ein „Problem“. Die westlichen Staaten wussten, dass ihr Einfluss auf Gaddafis Libyen nicht fest in dessen Staatsräson eingebaut war. Seine diversen Kehrtwendungen und Zugeständnisse sind für Westeuropa und Nordamerika anders als die Frontwechsel z. B. in Osteuropa keineswegs unumkehrbar. Vor allem für Frankreich, das sich mit der Mittelmeerunion als Vormacht des Mittelmeerraums zu etablieren versucht, ist Gaddafis Libyen ein „weißer Fleck“, seine Herrschaft ein „Regime“, weil er sich Frankreichs Ordnungsanspruch nur bedingt fügt. Wenn dessen Herrschaft nun durch einen Krieg mit bewaffneten Aufständischen ins Wanken kommt, dann sieht sich der Westen, und allen voran Frankreich, zur Kontrolle und Einmischung herausgefordert. Er setzt auf Gaddafis Gegner und unterstützt sie in ihrem Kampf: Sie sollen ihre Macht seiner Hilfe verdanken und darüber als Anker einer künftigen prowestlichen Herrschaft in einem Gaddafi-freien Libyen etabliert werden. Seitdem geht ein munterer Streit darüber, welcher der NATO-Partner die Führung in dieser Aktion übernehmen erstens kann und zweitens darf.
Die öffentliche Begutachtung:
Im Auftrag der „Humanität“ …
All das haben irgendwie auch Zeitungsschreiber, Fernsehmoderatoren und sonstige Kommentatoren mitgekriegt. Ins Zentrum ihrer Verlautbarungen rücken sie die Interessen und Kalkulationen, die die großen Mächte im Fall Libyen ins Spiel bringen, aber nicht. Ihnen geht es gleich um Höheres. Sie zeigen Bilder von Soldaten, die auf protestierendes Volk schießen – einmal sind es Truppen des Königs von Bahrain, dann libysches Militär –, deuten auf die gleichen Szenen und leiten aus dem, was sie sehen, ab: Wenn zwei dasselbe tun, so ist es noch lange nicht dasselbe. Nur im letzteren Fall, so teilen sie mit, lässt der Herrscher nämlich „auf das eigene Volk schießen“. Zu Bildern von den bahrainischen Truppen, die eine Massendemo zusammenschießen, erzählen sie, dass dort des Königs Soldaten keineswegs „das eigene Volk“ bekämpfen, sondern die „5. Kolonne“ des schiitischen Gottesstaats Iran am gegenüberliegenden Ufer des Golfs, der die bahrainische Bevölkerungsmehrheit schiitischer Konfession gegen ihren legitimen Herrscher sunnitischen Glaubens aufgewiegelt habe, um so die arabische Halbinsel mit unserem Erdöl zu destabilisieren. „Auf das eigene Volk schießen“ – das lässt nur der „Irre von Tripolis“. Soll, nicht nur in Kriegzeiten, der Bevölkerung zur passenden Einstellung verholfen werden, dann beweisen Bilder eben keineswegs, was Sache – also hier: wer gut und wer böse, wer schuldig und wer unschuldig – ist. Die Parteilichkeit für die Sache des Westens, die aus den Bildern abgeleitet und mit ihnen begründet werden soll, steht bei der Präsentation der Bilder schon vorab fest. Sie sorgt dafür, dass sich an den Bildern demonstrieren lässt, wer in Libyen Schurke und Opfer und wer umgekehrt in Bahrain Opfer und Schurke ist. Und sie erklärt so das Eingreifen in den libyschen Bürgerkrieg zur selbstlosen „Hilfe für die Menschen in Libyen“. Es sei die humanitäre Pflicht der Staatenwelt, den Truppen Gaddafis, dem mit dem Spruch „Er lässt auf das eigene Volk schießen“ das Recht auf seine Herrschaft aberkannt wird, Bomben aufs Haupt zu werfen. Als Anwälte des Guten konfrontieren berufsmäßige Propagandisten die Politik mit der Aufforderung: „Wann wird endlich der Einsatzbefehl gegeben?!“
Wenn und solange es darum geht, der Kriegsbegeisterung ihrer Leser und Zuhörer oder -schauer auf die Sprünge zu helfen, tun diese Eiferer allen Ernstes so als sei der wirkliche und letzte Grund für die staatlichen Waffenarsenale deren Einsatz für die „Menschlichkeit“. In diesem Sinne wird Empörung geschürt und ordentlich daran gearbeitet, die Fronten zwischen „gut“ und „böse“ aufzubauen. „Gut“ sind selbstverständlich „wir“ und in diesem Fall auch die Aufständischen, und der Kontrast dazu, „das Böse“, muss auch richtig herausgearbeitet werden. Da darf es keine Rolle spielen, dass das Volk, „auf das der Diktator schießt“, offensichtlich sehr gespalten und zum Teil gar nicht gegen den „Diktator“ ist: Die Fernsehaufnahmen von Gaddafi-Anhängern sind dann halt gestellt, vom „Diktator“ inszeniert, die Opfer, die das libysche Staatsfernsehen in seiner moralischen Gegenkampagne präsentiert, sind in Wirklichkeit gar nicht da oder der „Diktator“ hat sie selber umgebracht und hingelegt – kann man ja mal behaupten. Was die Aufständischen denken und wollen, ist nicht wichtig, denn wir sind ja für die, weil die gegen den Tyrannen, also „freiheitsdurstig“, sind.
Die Parteinahme für den humanitären Krieg richtet sich in diesem Fall sogar gegen die mangelnde Kriegsbereitschaft der eigenen Regierung: Außenminister Westerwelle kriegt ordentlich was zu hören, als er sich in der UNO enthält, Deutschland bei dem Militäreinsatz also nicht mitmachen will. Deutschland entzieht sich – Skandal! – seiner „humanitären Verantwortung“. Mit dieser moralischen Verurteilung hat die die kriegsbegleitende Pressearbeit aber nicht ihr Bewenden.
… zur imperialistischen Konkurrenz um Zuständigkeit
Wenn die moralische Sortierung einwandfrei erledigt ist, fällt auch den Kommentatoren zu Libyen ein zweiter Gesichtspunkt ein: Jetzt geht es um mehr als um „gut und böse“, jetzt geht es um die „Sicherheitsinteressen Europas und Deutschlands“ rund ums Mittelmeer – und dieser Gesichtspunkt hat mit „Humanität“ nichts, mit Aufsicht und Kontrolle aber alles zu tun; schließlich ist Nordafrika „unser“ Einflussgebiet. Auch von diesem Standpunkt aus wird die deutsche Enthaltung in der UNO mit Bedenken betrachtet: Hat sich Deutschland damit nicht ins (welt)ordnungspolitische Abseits manövriert und dabei versagt, Deutschlands Macht, natürlich zu Deutschlands Vorteil, auch in dieser Gegend einzusetzen? Natürlich kann sich jeder, der das unbedingt will, immer noch einbilden, irgendwie und letztlich könnte das auch zum Vorteil des armen libyschen Volkes sein, das einem früher übrigens ziemlich egal war. Die Mächte, die jetzt militärisch eingreifen, vergessen ja auch nicht, in ihr weltöffentliches Morgengebet das libysche Volk einzuschließen, bevor sie ihre Kampfbomber losschicken, .und für jeden Kollateralschaden entschuldigen sie sich auch – es handle sich ja schließlich um humanitäre Bomben. Dieser Schein wird aber schon sehr strapaziert, wenn sich diese Mächte mit der Frage beschäftigen, die zwischen ihnen die entscheidende ist. Da hört man aus der NATO und den einschlägigen Kreisen, dass ein verbissener Kampf darum losgegangen ist, wer die Führung bei dieser Kriegsaktion beanspruchen kann. In deutschen Fernsehsendungen kann man deshalb Frankreich, das sich bei der „humanitären Aktion“ anfänglich im Vergleich zu Westerwelle vorbildlich verhalten hat, plötzlich nicht mehr leiden, weil sein Chef – den man jetzt „Klein-Napoleon“ nennt – sich mit Großbritannien zusammentut und besonders heftig um die Führung ringt. Da durchschaut man hierzulande sehr schnell, dass dieser Mann – außer dass er den Krieg „bloß wegen Wählerstimmen angezettelt“ hat – damit auch einen Führungsanspruch in Europa, speziell was die Mittelmeer-Region angeht, anmeldet, und das geht natürlich nicht, denn das richtet sich ja gegen „uns“. Sarkozy kriegt schlechte Noten, weil man ihn da gut versteht – man denkt ais aufrechter Deutscher ja selber so.
So hat auch die deutsche Regierung gedacht, als sie die deutsche Beteiligung an diesem Waffengang verweigerte. Deutschland, so Westerwelle, wolle sich nicht in eine Aktion hineinziehen lassen, deren Ablauf und Ende es nicht in der Hand habe. In einem Krieg, den andere Staaten für ihren Machtgewinn auf die Tagesordnung setzen und maßgeblich führen, eine untergeordnete Rolle zu spielen, das kam hier nicht in Frage.
Diesem Problem will sich die deutsche Presse bei aller moralischen Aufregung nicht verschließen. Neben allem Gerede von der „Humanität“ macht sie sich das zum Gegenstand, und niemand stört sich daran, dass damit die Behauptung, das Elend fremder Völker sei Kriegsgrund und seine Beseitigung Kriegsziel, glatt widerlegt ist. Es gibt ja auch Schlimmeres: zum Beispiel, dass Deutschland Opfer französischer „Machtspielchen“ wird. Umgekehrt findet man durchaus Gefallen an der von Westerwelle vorauseilend in Aussicht gestellten Entsendung von Bodentruppen, falls es doch zu deren Einsatz kommen sollte. Hier hätte Deutschland schließlich einiges an passendem Kriegsmaterial zu bieten, weswegen es auch keinen Grund zu Unterordnung in einem solchen Einsatz gäbe, der im Übrigen natürlich nur zur „militärischen Absicherung humanitärer Einsätze“ stattfände.
Um es noch einmal ausdrücklich zu sagen: Noch jeder Krieg wird aus handfesten politischen Gründen geführt und mit hohen Werten begründet. Und selbstverständlich sind dabei immer die anderen die Bösen.