Eine Studie über das innige Verhältnis von Geschäft und Gewalt – made in the USA
Ein großes amerikanisches Geschäft …
Seit einigen Jahren hat die Welt den rasanten Aufstieg einer neuartigen Technologie zur Gewinnung von „unkonventionellen“ Öl- und Gasressourcen in den USA kennengelernt – und damit auch ein neues Fremdwort: „Fracking“.1) Zwar wird die Technologie schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sporadisch angewendet, aber im kapitalistischen Sinne produktiv, nämlich rentabel, ist ihr Einsatz erst neulich geworden. Das liegt erstens am beachtlichen Fortschritt in der Bohrtechnik selber, der ihre Anwendung entschieden verbilligt hat; zweitens an den jahrelang hohen Weltmarktpreisen für Öl und Gas, bei denen sich auch teurere Förderungstechniken rentieren; drittens und vor allem an kapitalkräftigen Investoren, die in den technischen Potenzen der Fracking-Firmen und der günstigen Marktlage eine attraktive Gelegenheit für den Einsatz des Kredits entdeckt haben, für den sie gerade in letzter Zeit nur wenig Anlagemöglichkeiten haben auftreiben können: Mit ihrem Einstieg blüht der Geschäftszweig erst richtig auf und schreitet die technische Fähigkeit der Fracker voran, die hohen Preise auf dem Weltmarkt auszunutzen. In nur wenigen Jahren haben die USA darüber den Sprung zum derzeit weltgrößten Produzenten von Öl und Gas geschafft.
Der Aufstieg des Fracking-Geschäfts in den USA stiftet Bereicherungsmöglichkeiten nicht nur für die bohrenden Unternehmen, sondern auch für eine ganze Reihe von Geschäftemachern im In- und Ausland, etwa in den Transport-, Chemie- und Bauindustrien. Er verhilft nicht wenigen Grundbesitzern zu ordentlichen Einkommenssprüngen, wenn aus Feldern, Ranches und Brachland plötzlich produktive Förderstätten für gefracktes Öl und Gas werden, und das alles wirbelt im Lande einiges auf: Aus Dörfern und Niemandsländern werden „Boomtowns“, um die herum Bohrtürme gebaut werden und in die hard-working Americans mit Kind und Kegel massenhaft einziehen. Und wo das Kapital boomt, dort sorgt der US-Staat für die fürs Geschäft nötigen und nützlichen Bedingungen: Er erteilt Bohrlizenzen, gibt staatliche Ländereien – bislang etwa 10 % der gefrackten Böden – für die Fracking-Unternehmen frei. Er erlaubt den Bau von Pipelines und finanziert den Bau von Straßen und Schulen, womit er zahlreiche zusätzliche Geschäfts- und Verdienstgelegenheiten stiftet, und schließlich sorgt er nach und nach auch für eine politische Regulierung des Geschäfts. Denn in dem Maße, wie die neue Fördertechnik Verbreitung findet, lernt man auch die zerstörerischen Seiten dieses neuen Erwerbszweigs kennen: hauptsächlich die Verseuchung des Grundwassers,2) womöglich sogar kleinere Erdbeben durch die Einspeisung von Abwasser in tiefe Bodenschichten. Solche Auswirkungen sollen eingeschränkt werden, allerdings so, dass die betroffenen Unternehmen nicht darunter leiden müssen – schließlich soll ihr Geschäft nicht verhindert, sondern eben reguliert, also zu einem regulären, dauerhaften Standbein der nationalen Energieversorgung werden. Die richtige Balance zwischen den gegensätzlichen Bedürfnissen der Bohrunternehmen nach kostengünstigen Produktionsbedingungen und dem Interesse der sonstigen Wirtschaft, Dörfer und Städte an einigermaßen intakten Naturbedingungen zu finden, wird im Land der Freiheit weitgehend der – derzeit heftig tobenden – Konkurrenz zwischen Anwälten von Konzernen, Verbrauchern, Bauern und Regierungsinstanzen überlassen. In jedem Fall gibt der Durchbruch von Fracking den involvierten Geschäftemachern viel zu verdienen, den Anwohnern einiges zu befürchten und den Gerichten viel zu entscheiden.
Auch wenn das massive Angebot an gefracktem Öl und Gas seine Abnehmer fürs Erste zum allergrößten Teil auf amerikanischem Boden findet, entfaltet dieses Geschäft gerade wegen seiner Größe auch erhebliche Wirkungen auf den Weltmarkt für Energie: Dort ist der Ölpreis innerhalb eines Jahres um mehr als die Hälfte gefallen. Den Preissturz führen kundige Beobachter einerseits darauf zurück, dass die Konjunktur weltweit immer noch nicht in Gang kommen will und in China sogar ordentlich einbricht; andererseits sehen sie darin die eindeutige Handschrift amerikanischer Fracker: Aufgrund ihrer Produktivität fällt die – bislang weltweit höchste – Nachfrage der USA nach fremdem Öl und Gas zunehmend aus. Dazu kommt die Weigerung von Saudi Arabien, auf die Forderungen der amerikanischen Ölindustrie einzugehen und durch Drosselung seiner eigenen Ölförderung und den freiwilligen Verzicht auf seine Marktanteile den Weltmarktpreis für Öl zu „stabilisieren“. Die Konsequenzen des anhaltenden Preistiefs bekommen in erster Linie die Länder negativ zu spüren, deren Nationalreichtum zum allergrößten Teil vom Ölverkauf abhängt, ohne selbst die bestimmenden Verkäufer zu sein: Nigeria, Venezuela etc.3) Doch auch die amerikanische Fracking-Industrie verzeichnet derzeit schwere Schäden: Der globale Preis für Öl ist längst unter die Schwelle gefallen, zu der es noch rentabel zu fracken ist – jedenfalls für einen großen Teil der Produzenten und trotz beachtlicher Fortschritte in Sachen Produktivitätssteigerung und Kostensenkung.4) Die Zahl der aktiven Bohrtürme ist im letzten Jahr drastisch gefallen, während die Schulden vieler Fracking-Unternehmen dramatisch gestiegen sind – dies die Kehrseite der Produktivkraft des Finanzkapitals, das diesem Geschäft so flott und so flächendeckend zu seinem Boom verholfen hat. Inzwischen sind einige größere Pleiten über die Bühne gegangen; Investoren schreiben Milliardenbeträge in den Wind.
Das alles führt zu ziemlich konträren Einschätzungen über die Zukunft des Fracking-Geschäfts. Für die einen wird damit bloß die überfällige Sanierung der Branche vollzogen: Aus dem derzeitigen Überlebenskampf der vielen, mit Kredit aufgepumpten Firmen werden dann größere, schlagkräftigere Energiekapitale hervorgehen. Nicht zuletzt durch die großen Mergers, die derzeit in der Branche stattfinden, versetzen sich diese Kapitale in die Lage, die derzeitige Durststrecke zu überstehen und zugleich den technischen Fortschritt voranzutreiben, der ihre Produktivität erhöht und damit ihre Rentabilität sichern soll. Insofern sei der „Paradigmenwechsel“, den die Fracker mit ihrer revolutionären Technik auf dem Weltenergiemarkt eingeleitet haben, nicht mehr umzudrehen. Für die anderen hat sich Fracking inzwischen als ein finanzkapitalistisch angefachtes Strohfeuer entpuppt; die Profitabilität der Firmen würde weitgehend überschätzt, die noch förderbaren Öl- und Gasreserven auch; der „Peak“ sei eigentlich längst überschritten. Damit seien auch die großen Hoffnungen zerstoben, die nicht nur die engagierten Unternehmen in das Fracking-Geschäft gesteckt hatten, sondern auch und vor allem Amerikas Staatsmänner.
Die haben in diesem Geschäft nämlich von vornherein mehr als ein einträgliches Privatgeschäft gesehen. Kaum kommt der Boom in Gang, entdecken sie darin ein Mittel, mit dem sich viel weitergehende Ziele angehen lassen: Die weltweite Führerschaft in der Energieproduktion, die Wiedereroberung der Spitzenstellung, die der US-Industrie abhanden gekommen ist, sowie das lang ersehnte Ziel der Energieunabhängigkeit, die zugleich die Freiheit der amerikanischen Weltmacht bestärken soll, sehen sie endlich in Reichweite. Es ist nicht gerade wenig, was der amerikanischen Staatsmacht einfällt, wenn ein neues Energiegeschäft seinen Aufstieg hinlegt.
… zeugt immer von einem großartigen amerikanischen Volk …
Die Bekundung seiner Zufriedenheit mit dem Gang der Dinge leitet der regierende Chef des Landes per Rückblick ein:
„Bei jedem Schritt wurde uns gesagt, unsere Ziele seien verfehlt oder zu ehrgeizig.“ (Rede zur Lage der Nation, 2015)
Zweifel an den Zielen der USA kennt er nur allzu gut. Sein Land und sein Volk kennt er allerdings auch. Für die Amerikaner, so wie Obama sie versteht, sind solche Zweifel an ihren Potenzen ein einziger Ansporn, sie gründlich zu widerlegen, und siehe da: Nach vielen Jahren Krise kann Obama seinen Landsleuten deren eigene stattliche Erfolgsbilanz präsentieren, zu der Fracking einen erheblichen Beitrag geleistet haben soll:
„Eurer Beharrlichkeit und Euren Anstrengungen ist es zu verdanken, dass unser Land aus der Krise gestärkt hervorgehen konnte. Wir glaubten an unsere Fähigkeit, den Abfluss von Jobs umzukehren und neue Jobs ans amerikanische Ufer zurückzuholen. Und heute? Über die letzten fünf Jahre haben unsere Unternehmen mehr als 11 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen. Wir glaubten an unsere Fähigkeit, unsere Abhängigkeit von fremdem Öl zu reduzieren. Und heute ist Amerika die Nr. 1 in Öl und Gas… Wir sind so wenig gefangen in der Abhängigkeit vom fremden Öl wie seit dreißig Jahren nicht mehr.“ (Rede, 2015) „Dass wir so viele Arbeitsplätze nach Hause bringen konnten, verdankt sich vor allem unseren Bemühungen um amerikanische Energie… Und die USA sind der Energieunabhängigkeit näher gekommen denn je. Einer der Gründe dafür ist Fracking.“ (Rede zur Lage der Nation, 2014)
Wenn ein amerikanischer Präsident es mit gewissen Schwierigkeiten in der ökonomischen und strategischen Lage seiner Nation zu tun bekommt; wenn das Wachstum des Geschäfts im nationalen Maßstab ins Stocken gerät, also eine „Rezession“ eintritt; wenn die nationale Energieversorgung allen Ernstes erfordert, dass gutes amerikanisches Geld glatt an fremde Mächte weggezahlt wird, deren Führungen sich nicht von Haus aus nach den Bedürfnissen der USA richten – dann setzt der Präsident auf sein Volk und dessen Tugenden. Wie richtig er damit liegt, davon soll Fracking Zeugnis ablegen. Das ist nämlich viel mehr als eine Bohrtechnik, auch mehr als ein großes Geschäft, vielmehr eine hollywoodreife amerikanische Erfolgsstory: Das Ganze begann mit einem gewissen George Mitchell, dem Sohn armer Immigranten aus Europa, der es durch Erfindungsreichtum, Biss und – trotz zahlreicher Fehlschläge – den festen Glauben an die glorreichen Potenzen schiefen, chemikaliengestützten Bohrens geschafft hat, Öl und Gas aus den Tiefen der Erde zu holen. Und zwar nicht nur irgendwie, sondern mit Gewinn. Man merkt: Wenn amerikanische Fracker ihr Geschäft machen, dann betreiben nicht einfach Unternehmer ihre Gewinnmacherei – mit reichlich Kredit von Investoren, mit viel Leistung und wenig Lohnansprüchen seitens der abhängig Beschäftigten sowie mit einiger Unterstützung vom Staat.5) Da offenbaren vielmehr alle zusammen, jeder an seinem Platz und der ihm entsprechenden Entlohnung, einen großartigen Nationalcharakter: „Wenn man das Schwierige oder das Unmögliche leisten muss, dann ist Amerika ein ganz guter Ort, es zu tun.“ (Obama an der Northwestern University, 2014) Und umgekehrt erweist sich dieser Charakter nirgends so deutlich wie dort, wo er ein florierendes kapitalistisches Geschäft zustande bringt.
Wenn ein Präsident vor sein Volk tritt und über die Lage der Nation spricht, dann gehört es sicherlich zu einem solchen Anlass, sich in puncto patriotischer Rhetorik ein bisschen gehen zu lassen. Und in der Kunst, ein gewisses nationales Sendungsbewusstsein in Worte zu fassen, gehören amerikanische Redenschreiber sicherlich zu den Besten. Doch hier redet eben kein Cheerleader, der seinem Publikum einheizen will, auch nicht bloß ein Parteipolitiker, der sich mit den Leistungen seiner Bürger schmücken will, um die republikanische Konkurrenz alt aussehen zu lassen. Wenn der Chef der Supermacht zu solchen Tönen greift, von den Erfolgen im Energiegeschäft und in der Industrie berichtet und dabei ob der Charakterstärke ins Schwärmen gerät, die sein Volk damit demonstriert, dann zieht er nicht einfach eine erfolgreiche Geschäftsbilanz und schmiert seinem Volk Honig ums Maul: Dann verkündet er ein Programm, das nur einer Weltmacht und eines weltmächtigen Volkes würdig ist.
… und ist ein Auftrag zur Erneuerung amerikanischer Dominanz in der Welt
Weltweite Energieführerschaft
Seinen Ausgangspunkt nimmt das große Programm in der Produktion von Öl und Gas, die tatsächlich nicht einfach eine Industrie unter anderen ist. Hier wird nicht nur ein heiß nachgefragtes Produkt, sondern der nach wie vor entscheidende Treibstoff des Kapitalismus hergestellt. Diese Energieträger gehen in so gut wie jeden kapitalistischen Produktionsprozess ein, die Kosten ihrer Beschaffung okkupieren einen entscheidenden Posten in jeder Kosten- und Gewinnrechnung, bestimmen also entscheidend mit bei der Frage, ob sich das Produzieren kapitalistisch lohnt. Dieses Geschäft muss laufen, denn sein Produkt muss fließen – dauerhaft, sicher und preisgünstig. Diese Industrie zu beheimaten, erst recht als rentables Privatgeschäft, heißt für einen fortgeschrittenen kapitalistischen Staat, dass er eine entscheidende Bedingung des Funktionierens seiner Wirtschaft, mithin seiner Machtbasis in der Hand hat. Doch wenn Obama verkündet, dass dank Fracking „der größte Produzent von Öl und Gas nicht länger Russland oder Saudi Arabien, sondern Amerika“ (Obama, Northwestern) heißt, dann gibt er auch nicht bloß Auskunft darüber, wie sich die Geschäfte im Öl- und Gassektor zwischen den Nationen verteilen. Die Botschaft ist prinzipieller: Ein wirtschaftlicher Erfolg für die USA bemisst sich daran, ob er ihnen in der weltweiten ökonomischen Konkurrenz die Führungsposition beschert. Womit nebenbei der harte Kern der Großartigkeit des amerikanischen Volkes ausgesprochen wäre: sein Wille und seine Fähigkeit, andere Nationen aus dem Feld zu schlagen, sie unterlegen zu machen.
Der Anspruch, dessen Einlösung Obama am Fracking feiert, beschränkt sich deswegen auch nicht auf die Produktion von fossilen Energieträgern. Die Weltführerschaft in Gas? Für den Präsidenten ist das schon mal gut, zweifellos ein ordentlicher Fortschritt, aber auch nicht mehr als ein Übergang. So groß und vorteilhaft das Geschäft mit Fracking sein mag, ist „sicher gefördertes Erdgas“ für Obama bloß „der Brückentreibstoff, welcher unsere Wirtschaft mit weniger klimaschädlichen Kohlenstoffemissionen antreiben kann.“ (Rede zur Lage der Nation, 2014) Auch hier gilt das gleiche Erfolgskriterium:
„Amerika kann sich den Veränderungen in diesem Bereich nicht widersetzen, wir müssen sie anführen. Wir können anderen Nationen nicht die Technologie überlassen, mit der neue Arbeitsplätze und neue Industriezweige geschaffen werden, wir müssen uns ihre Potenzen aneignen. So sichern wir unsere ökonomische Lebenskraft und unseren nationalen Schatz – unsere Wälder und Wasserwege, unsere Felder und unsere schneebedeckten Berge. So werden wir unseren Planeten schützen, den uns Gott anvertraut hat.“ (Obama, Zweite Rede zur Amtseinführung, Januar 2013)
Gewiss: Auch hier wird an Pathos nicht gespart. Das ist auch durchaus geeignet für den Anspruch, den Obama dabei verkündet. Wenn er bei der Entwicklung und Anwendung von erneuerbaren Energien von einem Auftrag spricht, der aus der wechselseitigen Vertrauensbeziehung zwischen Amerikanern und ihrem Gott entsteht, dann macht er deutlich, dass er Fracking nicht einfach als eine Brücke zu einem saubereren Kapitalismus daheim einplant. Für ihn ist der Einstieg in den Bereich der „renewables“ vielmehr gleichbedeutend mit dem Ziel, ein globales Geschäft zu dominieren, und das ist wiederum kein Ziel, das Amerika anstreben könnte oder auch nicht. Wenn es diesen Führungsanspruch anmeldet, dann erhört es einen göttlichen Ruf und wird nur seiner Rolle gerecht, für die es ausersehen ist. Genau so und genau dafür rettet Amerika den Planeten: Es macht aus diesen Energiequellen ein bombiges Geschäft, bei dem es alle Konkurrenten in den Schatten stellt – schließlich ertönt dieser Ruf dann am lautesten, wenn andere Nationen schon dabei sind, einen Weltmarkt für solche „green technologies“ aufzuspannen und zu besetzen. Diesem Auftrag zur weltweiten Energieführerschaft muss Amerika sich stellen, aber nicht nur, weil Gott es so will. Aus der Sicht des amerikanischen Präsidenten ist ein Bedürfnis seiner hart arbeitenden Amerikaner mindestens genau so heilig, nämlich das nach der Arbeit, die sie im Dienst an weltweit dominierenden amerikanischen Geschäftemachern verrichten:
„Ich werde nicht der Verheißung von sauberer Energie den Rücken kehren. Ich werde nicht Arbeitern wie Bryan (der aus seinem Job als Schreiner entlassen wurde, ob seiner Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit 55 kurz verzweifelte, dann aber einen neuen Job in der Energieindustrie fand, d.V.) den Rücken kehren. Ich werde nicht China oder Deutschland die Wind-, Solar- oder Elektroindustrie überlassen.“ (Rede zur Lage der Nation, 2012)
Wenn gute Amerikaner einen Lebensunterhalt brauchen, dann geht es nicht unter der Beherrschung des Weltmarkts für Energie. Dann ist aber auch klar: Für dieses Ziel ist der Energiebereich allein viel zu klein.
„Reindustrialisierung“
Kaum kommt der Fracking-Boom in Gang und zeichnen sich neue Möglichkeiten zur Beherrschung des Weltenergiemarkts ab, schon fällt Obama sein gesamter Industriestandort ein:
„Während des letzten Jahrzehnts wurde weitgehend akzeptiert, dass die verarbeitende Industrie in Amerika im Niedergang begriffen war.“ (Obama, Northwestern)
Man hatte also – so Obamas Kritik an seinen Vorgängern – viel zu lange den Glauben daran verloren, dass Amerikaner dazu in der Lage sind, auch heute den großen Industrien einen attraktiven Standort zu bieten, die Amerika einst groß gemacht haben. Doch seit dem Antritt des „Yes we can!“-Präsidenten und dem durch die Fracking-Erfolge ausgelösten Fall der Energiepreise sind diese Zeiten glücklicherweise vorbei:
„Wir glaubten an unsere Fähigkeit, den Abfluss von Jobs umzukehren und neue Jobs ans amerikanische Ufer zurückzuholen. Und heute?“ (Rede, 2015) „Mehr als die Hälfte der Unternehmer in den verarbeitenden Industrien berichten, dass sie sich ernsthaft überlegen, Arbeitsplätze aus China zurückzuholen. Für viele in der middle class war das letzte Jahrzehnt durch das Outsourcing von guten Jobs ins Ausland geprägt. Wenn wir die Investitionen aufrechterhalten, können wir dieses Jahrzehnt durch ‚Insourcing‘ prägen – mit neuen Fabriken, die hier in Amerika aufmachen, und zwar so schnell und flächendeckend wie seit Jahrzehnten nicht mehr.“ (Obama, Northwestern)
Wenn amerikanische Weltkonzerne auf die Arbeit in Mexiko, China etc. zugreifen, um ihre Gewinne zu machen, ist das sicherlich in Ordnung; genau dafür hat der US-Staat in zahlreichen Freihandelsverträgen ja gesorgt. Aber für einen Präsidenten, der an die Potenzen seines Volkes glaubt, ist es nicht damit getan, Unternehmen zu beherbergen, die die Arbeit der gesamten äußeren Welt erfolgreich in Anspruch nehmen und sich dabei als die führenden Kapitale der Welt behaupten. Es reicht auch nicht, im großen Bereich der Computertechnologie oder „Finanzdienstleistungen“ und dergleichen die Konkurrenz zu deklassieren. Das hieße ja, sich auf äußerst unamerikanische Weise damit abzufinden, dass Teile der US-Industrie nicht mehr zur Weltspitze gehören, also eine Niederlage zu akzeptieren. Zumal es dabei um Industrien geht, die die Inanspruchnahme von Amerikanern im großen Stil einschließt; man kann es nicht zulassen, dass die immer weniger die Chance haben, diese ihre nationale Haupteigenschaft im entsprechenden Dienst an den amerikanischen Weltkonzernen zu praktizieren und davon zu leben. Und dank des Beitrags, den Fracking zur Senkung der Produktionskosten in der Industrie geleistet hat, braucht man sich auch nicht mehr damit abzufinden. Gerade in der energieintensiven verarbeitenden Industrie ist es damit für amerikanische Kapitalisten attraktiver geworden, daheim statt auswärts zu produzieren, amerikanische statt ausländische Arbeit anzuwenden. Also gilt es, Amerika zu „reindustrialisieren“, die uramerikanische Dreieinigkeit von Geschäftserfolg, weltweiter Führerschaft und patriotischem Dienst zu restaurieren. Indem US-Konzerne für ihr Geschäft heimische Ressourcen in Anspruch nehmen, bringen sie – auch hier vermutlich in Gottes Auftrag – Jobs aus den Ländern, wo sie nicht hingehören, „nach Hause“. Lohnabhängige Amerikaner bekommen damit glatt die Chance, das zu tun, was sie tun müssen, um im Land der Freiheit zurechtzukommen und sich von ihrer hart arbeitenden Seite zu zeigen. Damit ernähren sie nicht nur sich, sondern leisten auch ihren patriotischen Dienst, für den sie zwar etwas anders entlohnt werden als ihre Arbeitgeber, aber von ihrem Präsidenten genauso viel Aufmerksamkeit verdienen und bekommen wie die Unternehmer, bei denen sie ihre Arbeit so verlässlich und preiswert abliefern.
So viel zu Fracking als „Jobmotor“. Aber das ist nur die eine Seite. Am Aufstieg dieses Geschäfts und am Standortvorteil einer hochproduktiven Energieindustrie springt den Managern der amerikanischen Staatsmacht auch und vor allem ein ganz anderer Nutzen ins Auge.
Die strategische Kontrolle der Staatenwelt
1. Energieunabhängigkeit …
Die Führerschaft in Energiefragen macht Amerika laut Obama nämlich nicht einfach spitzenmäßig reich, sondern freier und unabhängiger. Zur Erinnerung:
„Wir sind so wenig gefangen in der Abhängigkeit vom fremden Öl wie seit dreißig Jahren nicht mehr,“ so dass die Nation „freier als alle anderen“ ist, „unsere Zukunft zu bestimmen. Es liegt an uns, zu entscheiden, wer wir über die nächsten Jahre und Jahrzehnte sein wollen.“ (Rede, 2015)
An dem Erfolg der Energieindustrie im Allgemeinen und des Frackings im Besonderen will Obama endlich das Heilmittel gegen einen unerträglichen Schmerz entdeckt haben, unter dem die Nation schon seit Jahren leidet: Das Land der Freiheit ist glatt auf andere Länder für die Befriedigung seines Energiebedarfs angewiesen. Akut wurde dieses Ärgernis schon in der ersten „OPEC-Krise“ 1973 und wurde zuletzt bei der Explosion der Bohrinsel „Deepwater Horizon“ zu einem Symbol einer gesamtnationalen Krisenlage ausgerufen. Solange die Nation ihrer „Ölsucht“ (Bush) verfallen bleibt, wird sie sich für die Befriedigung ihres Energiebedarfs ständig nach außen wenden müssen; solange wird sie nicht Herr ihrer eigenen Lebensbedingungen sein. Die „Wolke schwarzen Rohöls“, die über die Golfküste gezogen ist, verkörperte für Obama einen skandalösen Abfluss – vom nationalen Geldreichtum, der in den USA seine Heimat und seinen Platz hat, an andere Länder: „Wir schicken jeden Tag beinahe eine Milliarde unseres Wohlstands an auswärtige Länder für ihr Öl.“ (Rede zur Lage der Nation, 2010)
Das als eine Mischung aus Gefangenschaft, Sucht und Verschwendung zu bezeichnen, ist schon ein starkes Stück. Denn diese Sorte Abhängigkeit vom Weltenergiemarkt ist immerhin Ausdruck davon, wie umfassend der amerikanische Staat die fossilen Ressourcen des gesamten Globus für sich erschlossen hat. Der Weltmarkt für Öl und Gas, wie er sich bislang abspielt, zeugt davon, wie gut es Amerika gelungen ist, die Produktion und den Verkauf von diesen Ressourcen weltweit nach seinen Geschäftsbedürfnissen auszurichten. Und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens treffen amerikanische Kapitalisten auf Ölstaaten – also auf Länder, deren Haushalte komplett durch die Funktion bestimmt sind, die sie für diesen Bedarf erfüllen. Sie sind abhängig davon, diese Lieferdienste am weltweiten Kapitalismus zu erbringen, ihre Ressourcen für den Zugriff und nach Bedarfslage fremder Interessenten zu öffnen. Zweitens hat Amerika die Erschließung und Vermarktung dieser Ressourcen in allen fremden Ländern, in denen das Zeug lagert, zu einem Geschäftsfeld hergerichtet, auf dem gerade die großen amerikanischen Energiekonzerne zu den dominierenden Global Players gehören. Insofern ist es den USA gelungen, aus einer nationalen Geschäftsbedingung ein weltweites, extrem einträgliches Geschäftsfeld zu machen. Drittens wird das Öl- und Gasgeschäft nach wie vor zum größten Teil in Dollar abgewickelt – und zwar egal, wer dabei gerade Öl und Gas kauft oder verkauft. Da brauchen die amerikanischen Ölsüchtigen gar nicht daran beteiligt zu sein, damit sich dieses Geschäft in Nachfrage nach der US-Währung niederschlägt – ein zentraler, vom Standpunkt des amerikanischen Staates sogar unverzichtbarer Beitrag zu seiner Kreditwürdigkeit und damit zu seiner ökonomischen Macht. Kurz: Gerade durch den weltweiten Öl- und Gasmarkt, zu dem die USA mit ihrer Nachfrage, ihrem Kapital und ihrem Geld beitragen, sorgen die USA für die Dauerhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Preisgünstigkeit und Rentabilität ihres weltweiten Zugriffs auf den entscheidenden Treibstoff ihrer Ökonomie.
2. … erfordert weltweite Aufsicht, also Machtprojektion
Aus der äußerst anspruchsvollen Sicht des amerikanischen Staates stellt sich die Inanspruchnahme dieser Länder für sein Versorgungsinteresse allerdings so dar, dass er seine Wirtschaft und damit sich dem Willen fremder Staaten aussetzt. Die Länder, für die man die Rolle des Lieferanten vorgesehen hat, müssen sich schließlich mit dieser Rolle abfinden und sich in ihr einrichten – was bei dieser staatlichen Revenuequelle offenbar gar nicht ausgemacht ist. Indem man die Ressourcen dieser Länder benutzt, macht man sich durch deren Kalkulationen potenziell erpressbar – und zwar umso mehr, je erfolgreicher dieser Zugriff vonstattengeht und zum dauerhaften Bestandteil der eigenen Kalkulationen wird. Deswegen haben sich die USA aus gutem Grund nie einfach auf die Wirkung der von ihnen gestifteten ökonomischen Abhängigkeiten verlassen:
„Energie betrifft jedes Moment der amerikanischen Außenpolitik. Sie ist eine Frage der nationalen Sicherheit und der weltweiten Stabilität. Sie ist ein zentraler Bestandteil der Weltwirtschaft… Energie ist wichtig für die amerikanische Außenpolitik, weil Energie im Grunde eine Frage von Reichtum und Macht ist.“ (die damalige Außenministerin Hillary Clinton an der Georgetown University, 2012)
Von Anfang an war die Zurichtung dieser Länder zu globalen Energielieferanten das Werk überlegener amerikanischer Gewalt, und das – so viel macht Frau Clinton ihrem studentischen Publikum deutlich – bleibt ein Dauerprogramm mit vielen Facetten: mal ökonomische und politische Zugeständnisse, mal militärische Drohungen und Subversion, mal Waffenlieferungen und die Erlaubnis, als Regionalmacht aufzutreten. Dass diese Staaten Gründe hätten, ihre Ressourcen dem Zugriff amerikanischer Kapitalisten zu entziehen, ist amerikanischen Staatsführern selbstverständlich; dass sie es tatsächlich tun könnten, bleibt zwar eine dauerhafte Sorge, ist aber derzeit eher ein untergeordnetes Moment des Kontrollbedürfnisses, das die USA auf diese Staaten richten. In den paar Fällen, in denen das Öl nicht zur Verfügung gestellt wird, liegt das ohnehin an den USA, die mit Embargo oder Krieg die betreffenden Staaten daran hindern, mit dem Verkauf ihres Öls Dollars zu verdienen. Viel entscheidender als die Frage, ob diese Länder mit ihren natürlichen Reichtümern so verfahren, wie es den Geschäftsbedürfnissen der USA entspricht, ist die Frage, was sie mit dem Geldreichtum anstellen könnten, der ihnen über den Verkauf dieser exquisiten Güter so massenhaft zufließt – vor allem aus den USA. Denn Amerika beansprucht diese Länder nicht nur für die Befriedigung seines ökonomischen Bedarfs, sondern als fest eingefügte Bestandteile einer ganzen Weltordnung, die nach von Amerika gesetzten und durchgesetzten Regeln abzulaufen hat und die diesen Ländern viel mehr als die zuverlässige Lieferung ihrer fossilen Ressourcen abverlangt. Wenn das viele Geld, das Amerika für seine benötigten Treibstoffe täglich abdrückt, für Zwecke eingesetzt wird, die Amerika nicht passen oder sich womöglich ausdrücklich gegen es richten, dann hat man es mit antiamerikanischen Umtrieben zu tun, also mit illegitimer Gewalt – mit anderen Worten: mit Terror.
Zwar sind die USA nach wie vor bereit, ihr „vitales Interesse“ an der Kontrolle aller Staaten, aus denen sie diesen unentbehrlichen „natürlichen Reichtum“ beziehen, zu verteidigen und gegen solche schädlichen Umtriebe vorzugehen – mal mit dem Ausschluss vom Welt(öl)markt, mal mit „shock and awe“. Seinen eigenen, äußerst entschlossenen Willen, das Betragen fremder Staaten im Griff zu haben, drückt der Chef der Weltmacht allerdings so aus, dass die USA im Würgegriff fremder Staaten sind. Den immensen kriegerischen Aufwand, den Amerika dafür treibt und neulich sehr aktiv getrieben hat, behandelt Obama wie eine unerträgliche Fessel, von der die Nation sich befreien muss. Zumal man in den Jahren des weltweiten Kriegs gegen den Terror die Erfahrung gemacht hat, dass es eine Sache ist, einen mit Ölgeld aufgerüsteten feindlichen Staatswillen zu bekriegen und zu besiegen, aber eine ganz andere, für zuverlässige Geschäftsbeziehungen, also für einen politischen Willen zu sorgen, der diese Dienste dann auch erbringt und erbringen kann. Das hat schon Obamas Vorgänger zur Selbstkritik veranlasst – nicht am Anspruch, die ganze Region unter Kontrolle zu haben, sondern daran, sich bei der Benutzung dieser Länder angreifbar gemacht zu haben. Mit ihrer kollektiven „Ölsucht“ und dem dafür exportierten Geld hätten die Amerikaner solche Umtriebe sogar ein ganzes Stück weit selber mitfinanziert.
3. Im Fracking sieht Amerika eine Brücke zur Unabhängigkeit von fremden Staaten – also zur effektiveren Aufsicht über sie
Für Obama – und schon für seinen Vorgänger Bush – war dies der beste Grund, eine nationale „Energiewende“ zu veranstalten: eine „all of the above“-Strategie, welche die Förderung von allen möglichen heimischen Energiequellen vorsieht, speziell eine forcierte Entwicklung von erneuerbaren Energien, die im Prinzip unendlich sind, wenn man einmal die entsprechende Technologie entwickelt hat. Und so sehr der amerikanische Staat es seinen Bürgern schuldet, aus jeder Zukunftsindustrie eine zu machen, bei der die USA vorneweg marschieren und die entsprechenden Bereicherungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze bei sich schaffen – das strategische Bedürfnis namens Energieunabhängigkeit ist der wirklich entscheidende Stachel zur Einlösung des natürlichen und gottgegebenen amerikanischen Anspruchs auf Technologieführerschaft in erneuerbaren Energien. Wenn Amerika sich dazu entschließt, mittels des privaten Geschäfts in seiner Energieversorgung autonomer zu werden, dann hat sich die Welt entsprechend zurechtzumachen: Die Notwendigkeit, das US-Geschäft mit „green technologies“ zu fördern, schließt das Bedürfnis ein, die ganze Welt zu einem sicheren Markt für die Technologien zu machen, an deren geschäftliche Potenzen die USA so fest glauben. So schlägt Amerika – gestützt auf die Hoffnungen, die es in Fracking und in das Geschäft mit den Energiequellen steckt, zu denen Fracking eine „Brücke“ sein sollte – noch ein neues Kapitel amerikanischer Führung auf: Auch den Ruf nach US-Führerschaft in der weltweiten Klimadiplomatie muss Amerika erhören.
Nun verkünden amerikanische Politiker angesichts des rasanten Aufstiegs des Fracking-Geschäfts, dass die USA ihr Ziel einer möglichst weitreichenden Energieunabhängigkeit schon in nächster Zukunft erreichen könnten, viel früher als gedacht und ausgerechnet mittels fossiler Ressourcen. Sehen sie sich dann auch von der leidigen Notwendigkeit befreit, ihre Lieferanten mit einem enormen Aufwand an Abschreckungsmacht dauernd in Schach zu halten? Können sie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Weltordnens herausziehen, wenigstens im Mittleren Osten?
Von wegen – so frei ist man als energieunabhängige Weltmacht auch wieder nicht:
„Auch wenn das ganze Öl, das Amerikaner benutzen, in den USA produziert wird, wird dessen Preis maßgeblich durch den globalen Markt bestimmt. Deswegen verlangt der Schutz unserer Energiesicherheit, dass wir daheim und im Ausland Fortschritte erzielen. Und das wiederum verlangt amerikanische Führung.“ (Hillary Clinton an der Georgetown University, 2012)
Es ist eine Sache, die Versorgung mit einem essentiellen Treibstoff zu sichern, aber im Kapitalismus hat bekanntlich alles auch seinen Preis. Auf ihn kommt es entscheidend an, wenn es darum geht, mit diesem Stoff ein nationales Geschäftsleben anzutreiben, das ausländische Konkurrenten auf allen Feldern schlagen soll, umso mehr, als dieses Geschäft zugleich ein weitreichendes strategisches Bedürfnis der Staatsmacht zu befriedigen hat. Die Sorge um den Preis des Öls erfordert aus Sicht der Außenministerin eine Machtentfaltung, die sich auf viel mehr als den sicheren Transport von Öl erstreckt:
„Wir erleben einen tiefgreifenden Wandel. Länder, deren Energieverbrauch früher gering war, verbrauchen jetzt viel mehr. Länder, die früher auf Energieimporte angewiesen waren, sind jetzt Energieproduzenten. Wie wird das die globalen Ereignisse verändern? Wer wird davon profitieren, wer nicht?… Die Antworten auf diese Fragen werden jetzt geschrieben, und wir haben vor, dabei eine entscheidende Rolle zu spielen. Wir haben keine Wahl, wir müssen überall auf der Welt präsent sein. Die zukünftige Sicherheit und der Wohlstand nicht nur unserer Nation, sondern auch der ganzen Welt, stehen auf dem Spiel.“ (Hillary Clinton an der Georgetown University, 2012)
Es ist ein Kreuz. Kaum gewinnt man ein Stück Unabhängigkeit von fremden Lieferstaaten, schon fällt störend auf, dass es glatt auch fremde Ölkonsumenten gibt, die einem mit ihrer Nachfrage Sorgen bereiten könnten. Und wenn „Länder“ – d.h. die USA – eine Macht werden, die von Energieimporten zunehmend unabhängig wird, dann muss klargestellt werden: Die Energiesicherheit, die Frau Clinton meint, und die Energieunabhängigkeit, auf die sie sich stützt, dürfen keinesfalls als ein defensives Programm, schon gar nicht als ein Rückzug missverstanden werden. Sie sind vielmehr ein vorwärts weisender Auftrag zu weltumspannender, unanzweifelbarer militärischer Überlegenheit, zu glaubwürdiger Abschreckung und Aufsicht über die Staatenwelt. Die Zuständigkeitserklärung für den Weltmarkt für Energie schließt eben viel mehr als die Kontrolle über diesen Markt ein, und sei er noch so groß. Sie erstreckt sich auf nicht weniger als den „Wohlstand der Welt“ – auf die Art und Weise, wie fremde Länder sich reproduzieren. Sie betrifft die Frage, mit welchen Stoffen und mittels welcher Lieferbeziehungen ihr Kapitalismus angetrieben wird, woraus fremde Staaten ihre Macht beziehen und wozu sie sie einsetzen. Wenn die USA also „freier als alle anderen“ sind, ihre „Zukunft zu bestimmen“, dann müssen sie die der ganzen Welt bestimmen: Ein Land, das die ganze Welt für seine „vitalen Interessen“ in Anspruch nimmt, kommt nicht daran vorbei, auch die ganze Welt unter Kontrolle zu nehmen.6)
Diese so schlichte wie äußerst anspruchsvolle Gleichung der Supermacht fällt nicht nur Frau Clinton ein, sondern auch allen anderen US-Außenpolitikern, sobald der Fracking-Boom losgeht. Das ist nämlich ein äußerst effektives Mittel, „im Ausland“ ebensolche „Fortschritte“ zu erzielen; mit ihm lässt sich das, was Frau Clinton als eine Herausforderung und einen Sachzwang kennzeichnet, in eine regelrechte Chance verwandeln.
„‚Das ist ein diplomatischer Royal Flush‘, die Beste der zehn möglichen Poker-Kombinationen, so David Goldwyn.“ (US-Koordinator der ‚Global Shale Gas Initiative‘ der US-Regierung) „Wir sollten unsere Energiemacht benutzen, um die Macht der Tyrannen zu brechen, die ihre Energieressourcen dazu benutzen, Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie niederzuschmettern.“ (Mary Landrieu, Vorsitzende des Energie-Ausschusses im US-Senat)
Die Tyrannen entdeckt man zuverlässig dort, wo andere Staaten mit einiger Energiemacht amerikanische Vorgaben missachten. Laut einem Vordenker der US-Außenpolitik gibt es an dieser Front schon jetzt Erfolge zu verzeichnen:
„Die Fähigkeit der USA, den Iran durch Ölsanktionen an den Verhandlungstisch in der Atomfrage zu bringen, verdankte sich auch den allgemeinen Erwartungen, die mit der Schiefer-Revolution in die Welt gekommen sind. Ein anderer Nutzen aus der Schiefer-Revolution für die amerikanische Außenpolitik ist die reduzierte Fähigkeit von Ländern wie Venezuela, Stimmen in der UNO und in regionalen Organisationen zu kaufen.“ (Joseph Nye)
Derzeit ist auch und gerade Russland ins Visier amerikanischer Ordnungspolitiker geraten. Also kommt auch diese Macht – und zwar immer mehr – zur Sprache, wenn von Fracking die Rede ist. Da springen amerikanischen Außenpolitikern gleich die umfangreichen Lieferbeziehungen ins Auge, die Russland mit seinen europäischen Nachbarn unterhält. Darin sehen freiheitsliebende US-Staatsmänner auch bei ihren europäischen Partnern eine unerträgliche Abhängigkeit – nicht nur eine potenzielle, sondern eine sehr reelle strategische Erpressung durch Russland. Doch mittels der in Amerika beheimateten Fracking-Technologie und der Kapitalmacht der Firmen, die sie anwenden, könnte ein Ausbau der Geschäftsbeziehungen mit Amerika den Befreiungsschlag bringen, von dem amerikanische Politiker sicher sind, dass europäische Staaten ihn dringlichst herbeisehnen. Denn auch unter osteuropäischem Boden soll Schiefergas in rauen Mengen schlummern, und das müsste die Staatsführer dort glatt umhauen vor Begeisterung, würden sie sich das auch nur vorstellen:
„Stellen sie sich vor, wo Sie heute stehen würden, wenn Sie in der Lage wären, Russland zu sagen: Behalten Sie Ihr Gas. Das wäre eine ganz andere Welt, der Sie heute gegenüberstehen könnten.“ (Vizepräsident Joe Biden in der Ukraine, April 2014).
Ja, was wäre das für eine schöne Welt, wenn Europa Nein zur Abhängigkeit vom russischen Gas sagen könnte, um dann Ja zur Abhängigkeit von amerikanischen Energiekapitalen sagen zu können, die ihre Freiheit sichert! Dass das nicht einfach eine schöne Vorstellung ist, die man pflegen könnte oder auch nicht, macht der Leader im Weißen Haus etwas deutlicher. Die Anregung zu ein bisschen mehr Fantasie in Energiefragen ist durchaus verbindlich gemeint:
„Die USA sind mit zusätzlichen Energiequellen gesegnet, die wir mithilfe neuer Technologien entwickelt haben… Ich denke, Europa wird angesichts dessen, was (in der Ukraine, d.V.) passiert ist, seine Energiepolitik daraufhin untersuchen müssen, ob es nicht zusätzliche Möglichkeiten gibt, ihre Energiequellen zu diversifizieren und ihre Energieunabhängigkeit schneller zu erreichen. Die USA sind eine mögliche Energiequelle – und wir sind tatsächlich mit unglaublichen Ressourcen gesegnet. Wir treffen Entscheidungen und nehmen uns mancher der Schwierigkeiten und Herausforderungen von Energieförderung an. Europa wird solche Diskussionen auch durchmachen müssen.“ (Obama in Brüssel, März 2014)
Obama und sein Vize laden ihre europäischen Partner damit zu einem sehr bestimmten Blick auf Amerikas Energieressourcen ein: Die sollen sie als Mittel der Befreiung von einem Feind der USA in Betracht ziehen und entsprechend zugreifen. Mit diesem in ein freundliches Angebot eingewickelten Anspruch treffen die USA auf Länder, die zwar nicht gleich Freunde Russlands, aber auch nicht umstandslos bereit sind, für die Gewinnung eines Stücks Unabhängigkeit von dieser Macht alle sonstigen Bedenken fahren zu lassen – etwa hinsichtlich der Rentabilität des Frackings, der damit verbundenen potenziellen Zerstörungen ihrer Naturbedingungen und eben auch der Beziehungen zu Russland, die sich ja nicht auf Energiefragen beschränken: Gleichgültig dagegen sollen sich diese Länder zur Schwächung eines Feindes Amerikas einspannen lassen.
Das geht freilich nur dann, wenn der Export von amerikanischem Gas unbeschränkt freigegeben wird und endlich richtig in Gang kommt.7) Die Ausnutzung der neuen Energiemacht der USA als Hebel zur Ordnung der Welt verlangt insofern eine Rückkehr zur Quintessenz, zur Grundgleichung der amerikanischen Staatsräson, auch und erst recht im Energiebereich: Was der Freiheit des Geschäfts dient, dient dessen Nützlichkeit für die weltumspannende Macht des amerikanischen Staates. Auch und gerade davon ist die Rede, wenn von Fracking die Rede ist.8)
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Die professionellen Beobachter globaler Affären mögen darüber debattieren, ob das Fracking-Geschäft tatsächlich das Zeug dazu hat, diese Grundgleichungen erneut zu bestätigen, oder ob Amerikas Ansprüche an seine renovierte Öl- und Gasindustrie deren derzeitige und zukünftige Potenzen erheblich übersteigen. Letztlich ist das eine Frage der Konkurrenz, die Amerika bei der Anmeldung all dieser Ansprüche neu ausruft, und so viel steht dabei fest: Von den Potenzen, die Fracking entfaltet, macht Amerika keines der Ziele abhängig, für die es sie benutzen will. Auch in der Hinsicht ist diese revolutionäre Bohrtechnik wirklich nichts als eine Brücke.
1) Das Wort „Fracking“ ist eine Abkürzung von „hydraulic fracturing“. Mittels schräger bis horizontaler Bohrungen werden auch Restbestände und weniger zugängliche Teile der Vorkommen, die nicht von allein durch die Druckentlastung beim Anbohren der Öl- und Gaslagerstätten emporquellen, nach oben befördert. Seit Anfang des Millenniums wird mittels langer horizontaler Bohrungen tiefliegendes Schiefergestein (Sedimentgestein) seitlich angebohrt und aufgebrochen, um Öl und Gas aus feinporigem Tonstein zu lösen. Dabei wird ein Flüssigkeitsgemisch (fracfluid, meist Wasser, Quarzsand und verschiedene Chemikalien) unter Hochdruck eingespritzt und Öl bzw. Gas, welches zuvor eingeschlossen war, aus Explorationstiefen von bis zu mehreren 1000 m nach oben befördert. „Tonsteine werden oft petrographisch inkorrekt als Schiefer bezeichnet, was … auf einer ungenauen Übersetzung des englischen Wortes shale (‚dünnplattiger Tonstein‘) beruht. Das aus diesen Tonsteinen gewonnene Gas und Öl wird deshalb Schiefergas bzw. Schieferöl genannt. Beim Schieferöl kann dies zu Unklarheiten führen, ob ‚reifes‘ Öl aus Primärlagerstätten, also ‚Fracking-Öl‘ gemeint ist, oder Öl, das durch Aufbereitung aus einem ‚unreifen‘ Ölschiefer gewonnen wurde.“ (Wikipedia)
2) In diesem Sinne hat die Regierung Obama im März dieses Jahres erstmals gesamtstaatliche Richtlinien für Fracking erlassen: Die Firmen werden verpflichtet, den Chemikalienmix bekanntzugeben, mit dem sie arbeiten, sowie für den Bau von Rückhaltebecken für kontaminiertes Wasser zu sorgen. Die Vorschriften gelten, wie Umweltschützer sogleich monieren, allerdings nur für staatliche Ländereien.
3) Einen sehr plastischen Ausdruck dieser Betroffenheit präsentieren Marktbeobachter in Form von Tabellen, die angeben, wie hoch der Ölpreis angeblich sein muss, damit der jeweilige Staat seinen Herrschaftsbedarf noch einigermaßen finanzieren kann. Diese Schwelle soll z.B. in Russland bei 104 Dollar, im Iran bei 90 und in Venezuela bei über 100 Dollar pro Barrel liegen – also in allen Fällen weit über dem aktuellen Ölpreis von ca. 45 Dollar.
4) Fracking ist mittlerweile zum Hyperfracking geworden: Ein Vielfaches der fracfluids wird in die Bohrlöcher gepumpt; auch die Einsatzgebiete werden immer größer und die beigemischten Chemikalien ständig verändert, sodass die Ausbeute sowohl absolut als auch relativ zum Aufwand steigt. Mehrfachbohrungen im selben Gebiet bedeuten zwar erhöhten technischen Aufwand, erbringen aber ein Vielfaches an Ausbeute. Leistungsfähigere Maschinen bewältigen größere Anforderungen bei gleichzeitiger Verbilligung der Maschinen selber, die in immer größeren Stückzahlen produziert werden und deren Unterhaltskosten gleichzeitig sinken. Unterm Strich ist trotz der drastischen Reduzierung der aktiven Bohrtürme im letzten Jahr die gesamte Fördermenge annähernd gleich geblieben.
5) „Es waren öffentliche Finanzmittel, die 30 Jahre lang die Entwicklung der Technologien gefördert haben, welche dieses ganze Gas aus dem Schiefergestein herausholen. Das erinnert uns an die zentrale Rolle der staatlichen Unterstützung, wenn es darum geht, Unternehmen dabei zu helfen, ihre Energie-Ideen in Gang zu bringen.“ (Rede zur Lage der Nation, 2012) Obama erinnert damit an die lange Geschichte staatlicher Unterstützung für die Entfaltung der Fracking-Technologie: Grundlagenforschung und „angewandte Forschung und Entwicklung“ seit mehreren Jahrzehnten in der einschlägigen Bohrtechnologie, einige „Demonstrationsprojekte“ in Kooperation mit dem Energieministerium und dessen Vorläufer schon seit den 1970ern, Steuervergünstigungen für „unkonventionelles“ Gas seit 1980. Das tut er allerdings nicht etwa, um die Legende zu relativieren, Fracking wäre ein Ausweis der großartigen amerikanischen Privatinitiative, sondern um den Nutzen staatlicher Förderung dabei zu beschwören.
6) Auch das ist nicht leicht, aber auch diese Politikerin weiß, was der noch amtierende Präsident über sein Volk weiß – es kann nicht nur Weltgeschäft, es kann auch Weltmacht: „Gefordert sind die besten Köpfe der Nation, unsere talentiertesten Staatsdiener, unsere innovativsten Unternehmer, und Millionen engagierter Bürger. Aber ich bin mir sicher, dass wir der Herausforderung gerecht werden können.“ (Ebd.)
7) „Putin unterminieren und die US-Wirtschaft stärken durch die Ausnutzung unserer Erdgas-Bonanza! Was können die USA tun, um Europas Abhängigkeit von russischem Gas zu mindern? Wir können mittels der North Atlantic Security Act (ein Gesetzesvorhaben, das die Freigabe amerikanischer Gasexporte vorsieht, d.V.) unsere eigenen Ressourcen einsetzen, um Putins Regime zu schwächen und unsere Partner in der Ukraine und in Europa zu stärken. Heute haben die USA einen Hebel, unsere Partner aus Putins Würgegriff auf dem europäischen Gasmarkt zu befreien … dank neuer Technologien wie Fracking und horizontaler Bohrungen.“ (John McCain, Wall Street Journal, 28.7.14)
8) „Seit einiger Zeit sind viele Leute in den USA und im Ausland auf den Mythos eines amerikanischen Niedergangs hereingefallen. Steigende Abhängigkeit von Energieimporten wurde als Beispiel zitiert. Die Schiefer-Revolution ändert diese Abhängigkeit und zeigt die Kombination aus Unternehmertum, Eigentümerrechten und Kapitalmärkten, die diese Nation so stark macht.“ (Nye)