Ein privater Freitod, der betroffen macht

„Depressionen trieben Robert Enke in den Tod“ (SZ)

Der Freitod von Nationaltorhütern ist recht selten. So einer hat in seinem Metier ohne Zweifel geschafft, worauf es in dieser Welt allen ankommt: Er steht an der Spitze des beruflichen Erfolges. Das sichert ihm Anerkennung weit über die Grenzen des Strafraumes hinaus, den er zum Mittelpunkt seines Lebens erklärt hat. „Deutschlands Nr. 1“ ist in dieser seltsamen Welt des Sports die Galionsfigur des nationalen Kollektivs, das sich da in friedlichem Wettstreit an anderen misst und um Ehrenpunkte kämpft. Der steht deswegen mit allem, was er tut, mit Glanztaten zwischen den Pfosten, aber auch mit „Rückschlägen“ dort wie im Privatleben, immer im Zentrum des öffentlichen Interesses. Das Kollektiv, das er an derart entscheidender Stelle vertritt, hat unbedingt ein Recht darauf zu wissen, ob da wirklich der Beste im Aufgebot steht, und fühlt ihm entsprechend gnadenlos auf den Zahn. Wenn so ein Verantwortungsträger dann zur Überraschung aller und auch noch just vor „dem Höhepunkt seiner Karriere“ überraschend abtritt, dann mag sich mit dem Tod des Helden zwar der kritische Dauertest auf sein Leistungsvermögen erübrigen – in Ruhe lässt man ihn deswegen aber noch lange nicht: „Sein Suizid ließ die Deutschen erstarren. Und alle bewegte nur eine Frage: Warum?“ (Der Spiegel, Nr. 47)

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Also steigt der öffentliche Sachverstand in die Ursachenforschung ein, und die erste Forschungshypothese ist gar nicht mal so schlecht: „Zerstört ein wunderbares Spiel, das zugleich ein so gigantisches Geschäft und mit so viel Bedeutung aufgeladen ist, nicht seine Protagonisten? Schluckt der Spitzensport seine Talente und spuckt jene, die nicht funktionieren, als Psychowracks und Selbstmörder wieder aus?“ (Ebd.) Irgendwas könnte da schon dran sein – man muss ja nur einen Blick auf die im selben Bericht und in allen anderen Zeitungen ausgiebig kolportierten Spielregeln werfen, die in diesem wunderbaren Spiel auch noch gelten und die eigentliche Würze dieses so gigantischen wie bedeutungsvollen Geschäfts sind: Schon weiß man, wie noch ganz lange vor jedem auffällig gewordenen Psychowrack oder Selbstmörder der Normalfall auf und neben dem Spielplatz funktioniert. Unter den 11 Freunden, die es sein müssen, gebührt der Erfolg dem Tüchtigen, der seinen Konkurrenten im Kampf um den Stammplatz erledigt. Mit Dribblings, Ellbogen und Grätschen sowieso, aber natürlich auch mit allen anderen Waffen, die einem selbstbewussten modernen Menschen zur Verfügung stehen. Da gehen subtiler Psychoterror und Mobbing, bei Ausländern auch mal deutliche Winke auf genetisch bedingte Minderwertigkeit, Hand in Hand mit der überzeugenden Selbstdarstellung des einfach unschlagbaren Ballhelden – „kraftstrotzend, nervenstark, aggressiv“. (SZ, 12.11.) Ein Torhüter, erzählen die Fachleute, ist von Berufs wegen „der Inbegriff sportlicher Stärke“, schon gleich dann,
wenn er Deutschland vertritt: „Er muss fehlerlos sein. Nervenstark. Selbstbewusst. Es gibt keinen härteren Job im Fussball.“ (Der Spiegel, Nr. 47) Also inszeniert er sich wahlweise als Titan, der riesige Eier hat, oder als Exzentriker, der beim Hechten nach dem Ball die Tiefen des Seins ausmisst, und liefert sich mit seinem Konkurrenten die beliebten „Psychoduelle“, die mit Sprachverweigerung anfangen und mit übler Nachrede noch lange nicht aufhören. So sind die gewöhnlichen Sitten beim Ballspiel, wenn das Kicken zum Beruf und im Erfolgsfall auch reichlich mit Geld und öffentlichem Ansehen entgolten wird.

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Aber offenbar überhaupt nicht nur dort, wie der ‚Spiegel‘ in seiner zweiten Hypothese vermutet: „Verweisen die Tragödien der Sportler womöglich auf eine andere Dimension: auf eine Gesellschaft, die Leistung zum Fetisch erhebt und damit ihre Elite krank macht?“ (Ebd.) Wiederum ist der Verweis so blöd nicht, auch wenn sich bei näherer Betrachtung besagter Dimension schon herausstellt, dass Leistung in dieser feinen Gesellschaft keineswegs ein Fetisch ist und die Regeln des Leistungswettbewerbs auch überhaupt nicht nur in ihrer besseren Kreisen gelten. Ein Fachmann der SZ drückt das sehr vornehm, aber doch hinlänglich deutlich aus: „Es ist ein Kennzeichen unserer Arbeitswelt, dass über Anreize zur Kompetition maximale Leistung aus den Leuten herausgeholt werden soll.“ (P. Henningsen, SZ, 12.11.) Was der Mann so überaus höflich als Kennzeichen einer anonymen Arbeitswelt anspricht, ist die jedermann vertraute Banalität, dass man in seinem Arbeitsleben einem permanenten Leistungsvergleich unterzogen wird. Die Gnade, mit dem Angebot der eigenen Leistung bei einem Auftraggeber auf Interesse zu stoßen, ist für den der Auftakt dazu, Nutzen wie Kosten der eingekauften Ware mit anderen Anbietern beständig daraufhin zu vergleichen, ob ersterer nicht besser und letztere nicht billiger zu haben wären. Das halst dem stolzen Besitzer eines Arbeitsplatzes ganz von allein den lebenslangen Privatkampf um selbigen auf, und den führt er gleich an zwei Fronten: Einmal dort, wo es gilt den ‚Anreizen‘ gerecht zu werden, die ihm zur Entfaltung seiner maximalen Leistungsfähigkeit dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt werden – und dann auch noch dort, wo er gegen seine Konkurrenten den Beweis anstrengt, dem Leistungsvergleich viel besser gewachsen zu sein, der an ihm wie an ihnen angestrengt wird. Das führt, kann man den Zeitungen entnehmen, zu einer erstaunlichen Nivellierung der Unterschiede in der vertikal doch so differenzierten modernen Leistungsgesellschaft. Alle in der erlesenen Welt des Profisports und der übrigen Elite üblichen Gemeinheiten bei der Berechnung des eigenen Konkurrenzerfolgs, alle dort praktizierten Varianten und Kombinationen von purer Niedertracht und hoffnungsloser Angeberei: All das ist – den bescheideneren Mitteln der Beteiligten angepasst – auch Alltag in den niederen Welten des Berufslebens, in den Abteilungen von Betrieben und Versicherungen, Sekretariaten von Kanzleien und Versandstellen von Verlagen. Und noch eines wissen die Sachverständigen, die sich bei den Ursachen des Selbstmords von Deutschlands Nr. 1 kundig machen, zu berichten: Auch vor den Folgen dieses klassenübergreifenden Leistungsvergleichs, dem die bürgerliche Menschheit erst ausgesetzt wird und den sie sich dann auf ihre Weise auch noch privat zum Demonstrationsfeld ihrer persönlichen Vortrefflichkeit ausbaut, sind die Insassen der Klassengesellschaft ziemlich gleich. Unter den Verrücktheiten, die sie sich wechselweise selbst und anderen antun, leidet das seelische und körperliche Befinden in einem Maß, dass die Rede von einer „Volkskrankheit Depression“ die Runde macht. Und der Verdacht, dem eigenen Ideal einer fehlerlosen Inkarnation von Erfolgstüchtigkeit eventuell doch nicht gewachsen zu sein, reift ja auch überhaupt nicht nur bei Torhütern zu dem Entschluss, sich besser mit Selbstmord dem Versagen vor diesem Ideal zu entziehen als sich an ihm zu blamieren. Das ist, wie jedes Sterberegister mitteilt, in der Welt der Konkurrenz gar nichts Außergewöhnliches.

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Doch kaum haben sich die öffentlichen Suizidforscher mit dem Stichwort ‚Volkskrankheit‘ die Rubrik erobert, unter der sie die psychopathologischen Konsequenzen der modernen Konkurrenzgesellschaft studieren können, wollen sie von all dem, was sie einem selbst über die Quelle der verbreiteten gesellschaftlichen Verrücktheit erzählt haben, überhaupt nichts mehr wissen. Sie reden vom „Erfolgsdruck“, der überall herrscht; sie sprechen die widerlichen, aber eben auch überaus populären Techniken an, mit denen die Mitglieder dieser Welt ihr Lebensprogramm exekutieren, diesem ‚Druck‘ gerecht zu werden und ihren Erfolg gegen andere zu erkämpfen; sie nehmen zur Kenntnis, zu welchen geistigen Absonderlichkeiten und körperlichen Defekten es kommt, wenn einer entweder den Erfolg in der Konkurrenz so konsequent zu seiner Sache macht, dass er sich zum Erfolgscharakter idealisiert, entsprechend auftritt und seine Mitmenschen drangsaliert; oder zum Opfer solcher Machenschaften wird und in ihm darüber die Einsicht wächst, derselben Idealisierung, die er über sich pflegt, nicht gewachsen zu sein – und dann vergessen sie alle systemrelevanten Leistungen, mit denen sich hierzulande Menschen in schlechte Gemütsverfassungen und schlimmere Verzweiflung bringen kurzerhand und bescheinigen ihnen, sie wären „krank“! Als ob sie den Verdacht entkräften wollten, mit ihren Bemerkungen über die – objektiv wie subjektiv – maßgeblichen Regeln des Konkurrenzerfolgs dem Laden, in dem sie gelten, kein besonders gutes Zeugnis auszustellen, deuten sie sich manifest auffällig gewordenen Konsequenzen des praktizierten Irrsinns als Defekt zurecht, den der eine hat, der andere nicht: „Im ganzen Land begreifen Menschen auf einmal, welche Verwüstungen die Krankheit Depression in der Seele eines Menschen anrichten kann. Sie sind erschrocken darüber, welche Wucht sie hat. Sie fragen sich, welch mächtiger Schatten sich über einen Menschen legen muss, wenn der Schub kommt. Und wie es sein kann, dass nicht einmal einer wie Enke sich dagegen wehren kann.“ (Der Spiegel, ebd.) Die Intelligenzbolzen aus Hamburg haben jedenfalls begriffen, welchen Reim sich die Menschen im ganzen Land auf das Abtreten ihres Helden im Tor machen sollen. Leistungsanforderungen, die an einen ergehen, bedingungslos gerecht werden zu wollen? Ja, das gehört sich so, das ist durch und durch natürlich. Sich selbst zum Idioten der eigenen Erfolgstüchtigkeit zu stilisieren? Ja, auch das ist im Grunde genommen ganz normal, wenn auch in mancher Ausprägung nicht immer unproblematisch. Daran zu zerbrechen? Nein, das sollte dann doch nicht sein, zumindest nicht so heftig und schon gar nicht so, dass das ramponierte Selbstbild gleich zur „Angst vor dem Leben“ ausartet und der Mensch sich am Ende vor den Zug legt. Doch auch so etwas muss man, weil es zwar bedauerlich, im Grunde aber schon auch irgendwie verständlich ist, auch verstehen können. Aber keinesfalls als unerwünschte Nebenwirkung der im Lande herrschenden druckvollen Konkurrenzsitten und Gebräuche, die man kaum im Kopf aushält – sondern eben als individuelle Krankheit. Nicht jeder „ist dem Druck gewachsen“ und, was entscheidend noch dazu kommt, nicht jeder traut sich das einzugestehen, vor sich selbst nicht und schon gleich nicht vor anderen, weil er dann ja der „Versager“ ist, der er ums Verrecken nicht sein will: Wer die „Weichei-Krankheit“ hat, wird halt auch als ein krankes Weichei genommen. Fragt sich nur, warum nicht jeder der harte Hund auch wirklich ist, als der er herumläuft, aber da weiß der Fachmann für die Therapie seelischer Kollateralschäden der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft die Antwort: „Depression ist eine organische Krankheit und nichts, wofür man sich schämen muss. Sie unterscheidet sich nicht so wesentlich vom Meniskusabriss, wie man in der ruppigen Fußballwelt vielleicht denkt.“ (Holsboer, „Depressionsforscher von Weltrang“, ebd.). Der Mann hat die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass trübsinnige Verstimmungen der heftigeren Art mit so manchen Stoffwechselvorgängen im Hirn einhergehen – und sich dazu entschlossen, Grund und Folge einfach umzukehren: Ob überhaupt und wie lange es einer durchhält „Eier zu zeigen“ (O. Kahn), ist für ihn neben manchen „Umwelteinflüssen“ auch „eine Frage der genetischen Disposition“, so oder so also nichts, was einer allein mit seinen verkehrten Gedanken anrichten könnte. Insofern muss der Mensch sich nicht nur überhaupt nicht „schämen“, wenn er bei seiner irren Suche nach den in ihm selbst liegendenAusstattungsmerkmalen, die Erfolg verbürgen, nicht recht fündig wird und am Ende gar komplett Fehlanzeige vermeldet: Beim Fehler seiner Fehlersuche assistiert ihm bei Bedarf auch noch haufenweise „professionelle Hilfe“. Wenn ihm das Chromosom für die dauerhafte Ausprägung der Charaktermaske des unschlagbaren Siegers fehlt, muss er sich nur melden – und sein Mut wird belohnt: Vom Fachmann, der mit Tabletten und abgrundtief viel Verständnis darauf aufpasst, dass er in der Psycho-Logik seines Fehlers keinesfalls bis zum Bahndamm weitermarschiert…

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So ist der Torwart mit seinem „heimlichen Kampf“ gegen eine „unheimliche Krankheit“ auch über seinen Tod hinaus ein großes Vorbild für die Deutschen. An ihm und dem „tragischen“ Ausgangs seines Kampfes sollen sie lernen, wie sehr es nicht nur in der glamourösen Welt des Sports, sondern überhaupt im Leben darauf ankommt, den Anforderungen, die da nun einmal gelten, gerecht zu werden. Da hat jeder an seinem Platz aus sich herauszuholen, was in ihm drinsteckt, und wenn sich da entweder zeigt, dass das wider Erwarten doch nicht langt, oder einen schon vor jedem praktischen Erweis dieses Umstands das bohrende Gefühl beschleicht, „dem Druck nicht standhalten“ zu können, den das Ideal von der eigenen Vortrefflichkeit bei seinen unvermeidlichen Reibungen mit den Niederlagen des Alltags entfacht – dann ist das zwar bitter, macht aber gar nichts. Dann muss man nur Einsicht haben in die vergleichsweise defizitären Mittel, mit denen einen die Natur fürs Bemeistern der Lebensanforderungen ausgestattet hat, die es in unserer modernen Welt nun einmal gibt. Dass der eine in „Stresshormonen“ schwimmt, während beim anderen die Hirn-Blut-Schranke dem Konkurrenzerfolg im Weg steht: Dafür kann man ja nun wirklich nichts. Also muss man auch aus dieser Einsicht den einzig folgerichtigen Schluss ziehen und
sich zu seinem Defekt bekennen und mit ihm leben wollen. Gewissensqualen über die allfällig bemerkten Differenzen zwischen Selbstbild und Wirklichkeit gehen in Ordnung – aber sich aus denen derart ein Gewissen zu machen, dass man sie einfach nicht mehr weiter kultivieren mag: Das ist nicht gut und führt zu „Tragödien“ wie der von unserer Nr. 1.

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Auch das alles, die Sache selbst wie die Touren ihrer öffentlichen Affirmation betreffend, ist einfach zum Kotzen. Und aus dem schon oben genannten Grund kann auch in dem Fall ein Lesetipp nur nützlich sein:
Die Psychologie des bürgerlichen Individuums.
GegenStandpunkt Verlag, München 1981, ISBN-13:978-3-929211-04-7, ISBN-10: 3-929211-04-1,
€ 15,–

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