Die „redliche“ Wissenschaft setzt sich zur Wehr
Es kommt heraus, dass der Freiherr zu Guttenberg für seine Doktorarbeit viele Texte aus fremden Quellen übernommen hatte, ohne diese Anleihen durch Anführungszeichen und Fußnoten kenntlich gemacht zu machen. Für die Kanzlerin, die meisten regierenden Politiker und für das hinter der Bild-Zeitung versammelte Volk ist dieses Vergehen nicht so schwerwiegend, dass deswegen der Mann von seinem Amt als Verteidigungsminister zurücktreten müsste. „Doch!“ sagt die „scientific community“, und weit über 60 000 ihrer Mitglieder und Sympathisanten unterzeichnen einen „Offenen Brief“ und wollen sich nicht bieten lassen, dass man über ein solches Plagiat einfach hinweggeht. Die Trennung, die die Kanzlerin vornimmt – „Ich habe keinen wissenschaftlichen Assistenten, sondern einen Verteidigungsminister bestellt“-, halten sie für skandalös, denn so würde der Geltung der Wissenschaft schwerer Schaden zugefügt:
„Mit dieser Vorgehensweise beschädigen die Bundesregierung und die Abgeordneten der Koalition nicht nur sich selbst, sondern viel mehr … Aus unserer Sicht ist der Flurschaden für den Wissenschaftsstandort Deutschland, den der Umgang der Bundesregierung mit der Causa Guttenberg angerichtet hat, leider erheblich.“ (Offener Brief und „Abschlussbemerkung“)
Das Plagiat, das da so lässig hingenommen werden soll, ist keine lässliche Sünde, sondern ein schwerer Verstoß gegen die von jedem Wissenschaftler zu verlangende „Redlichkeit“, und das ist sehr wohl von gesellschaftlicher Relevanz:
„Wir tun dies nicht, weil wir ‚Fußnotenfanatiker‘ sind oder im ‚Elfenbeinturm‘ sitzen und nicht wissen, was im wahren Leben zählt. Es geht uns schlicht darum, das Verständnis dafür weiterzugeben, dass wissenschaftlicher und damit gesellschaftlicher Fortschritt allein dann möglich ist, wenn man sich auf die Redlichkeit in der ’scientific community‘ verlassen kann.“ (Ebd.)
*
Warum ist es so empörend, wenn Guttenberg Fußnoten und Anführungszeichen weglässt? Sich mit fremden Federn zu schmücken, wie es der Plagiator tut, ist sicher kein feiner Zug und das Recht hat auch was dagegen, aber der Wissenschaft tut er damit nicht weh: Der abgeschriebene Text belässt sie so, wie sie ist; schlimmstenfalls wird ein Titel erschlichen, was die Wissenschaft aber auch nichts angeht. Professor Walter-Drop, stellvertretend für die „community“ sieht das aber ganz anders: „Fußnoten sind Ausweis für sorgfältige wissenschaftliche Arbeit.“ (SZ, 20.2.) Von „sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit“ kann nur dann und erst dann die Rede sein, wenn der Autor mit seinen Fußnoten deutlich gemacht hat, auf wen er sich bei seiner Arbeit bezogen hat – ohne diese „Sorgfalt“ sieht sich die wissenschaftliche Gemeinde außerstande, „die aufgestellten Behauptungen selbst nachzuvollziehen, zu überprüfen und die Qualität des Vorgehens, der Argumentation und der Ergebnisse zu bewerten.“ (Ebd.) Es ist für die Verfasser des „Offenen Briefs“ darum auch ganz selbstverständlich, das Guttenbergsche Traktat als unwissenschaftlich zu verwerfen, ohne ein einziges Wort über den Inhalt zu verlieren (auch in sonstigen Stellungnahmen erfährt man gerade einmal den Titel und dass es um einen Vergleich von Verfassungen gehe). Mit dieser Ablehnung stellt die „community“ klar, wie man bei ihr – stattdessen – das Prädikat ‚wissenschaftlich‘ erwirbt: Der Autor muss nachweisen, dass er sich mit dem „Stand der Wissenschaft“ – möglichst ausführlich – bekannt gemacht hat, und man muss an seiner Arbeit haarklein nachvollziehen bzw. unterscheiden können, was an ihr Fremdes und was an ihr Eigenes ist, was alt und was neu ist. Ist das zur Zufriedenheit erledigt, ist der Test auf Wissenschaftlichkeit bestanden, ein Beitrag zum „Fortschritt der Wissenschaft“ wurde geleistet und der Wissenschaftler ist „redlich“. Umgekehrt stellt sich der Plagiator als unfähig zur wissenschaftlichen Arbeit heraus, und diesem Verdikt unterfällt die gesamte Arbeit, egal, ob sich nicht doch ein brauchbarer Gedanke in ihr findet – daraufhin wird sie ja nicht untersucht.
Das seien ihre „Regeln“, sagt die „community“, an die sich unbedingt gehalten werden müsse. Das ist schon bemerkenswert. Gemessen an der Anstrengung, alte und neue Gedanken in der Wissenschaft auf ihre Stimmigkeit zu überprüfen, kommt einem das reichlich anspruchslos vor. Es ist doch eigentlich bloß eine selbstverständliche Voraussetzung, eigentlich eine Trivialität, dass man in der Wissenschaft bewandert ist, wenn man sie betreibt. Und man befasst sich mit ihren Resultaten nicht, um sie dann einfach zu wiederholen, sondern weil man sie kritisieren und/oder weiterentwickeln, also in diesem billigen Sinne auch auf etwas Neues hinaus will. Dann geht es aber doch erst los, sollte man meinen, denn die einzig interessante Frage müsste doch sein, ob das Neue etwas taugt. Das fragt sich die wissenschaftliche Gemeinde aber nicht. „Regel“-Gehorsam ist alles, wonach sie fragt, und wenn man die ganze Aufgeblasenheit weglässt, besteht dieser Gehorsam schlicht darin, dass man sich zu den Wissenschaftlern, die dem „Stand“ angehören, ins Verhältnis setzt, ihre Gedanken zur Kenntnis nimmt und das vorzeigt, und nach diesem Nachweis etwas Unterscheidbares, eben das Neue, zum „Stand“ hinzufügt. Dies, eben die Einhaltung der trivialen Voraussetzungen von Wissenschaft, der „Regeln“, wird zum Kriterium von Wissenschaftlichkeit erhoben. Nicht, was als Resultat der geistigen Anstrengung herauskommt, entscheidet über Objektivität und Wissenschaftlichkeit; letztere ist in dieser „community“ schon damit verbürgt, dass es unter Einhaltung dieser Normen zustande gekommen ist. So konstruiert die Gemeinde ihre Autorität: Alle, die diesem Kreis angehören oder angehören wollen, konstituieren Wissenschaft dadurch, dass sie sich an die dort gültigen „Regeln“ halten, und dadurch, dass sie sich daran halten, sind sie zertifizierte Wissenschaftler.
Die Gemeinde stört es deswegen auch nicht im geringsten, dass sie einen „Stand der Wissenschaft“ produziert, der sich aus lauter disparaten und gegensätzlichen „Fortschritten“ zusammensetzt. Die haben schließlich alle das Prädikat ‚regelkonform‘, und das zählt. Eine ferne Ahnung, dass Wissenschaft irgendwie auf Wahrheit, schlichter: Richtigkeit, aus sein könnte, hat diese Gemeinde vollständig getilgt und sie bekennt sich zu ihrem Pluralismus, zur friedlichen Koexistenz lauter sich einander ausschließender Aussagen, Behauptungen, Theorien …: Sie sind alle gleich gültig. Für dieses Prinzip der wechselseitigen Relativierung sind ihre „Regeln“ genau richtig; indem es bloß noch um einen Formalismus korrekten Forschens geht, wird diese Gleich-Gültigkeit aller Inhalte zum selbstverständlichen Merkmal von Wissenschaft erklärt. Damit ist zwar alle „Erkenntnis“ in dieser Wissenschaft zur bloßen Meinung herabgesetzt, aber damit kann die Gemeinde gut leben: Ihre Meinungen sind „wissenschaftlich abgesichert“ und „methodisch kontrolliert“ und haben deswegen von vornherein ein ganz anderes Gewicht, eben die von ihr bestätigte Wissenschaftlichkeit. Wenn es heißt, sie sitze im „Elfenbeinturm“, entnimmt sie dem gerne die positive Seite: Mit ihrem gehobenen Meinungsaustausch, dem „wissenschaftlichen Diskurs“, steht sie über dem prosaischen Alltag und meint, sie habe deswegen einen guten Ruf verdient.
*
Der ist allerdings mit jedem Verstoß gegen die „Regeln“ bedroht. Finden Plagiatoren Eingang in die Gemeinde und werden dann – insbesondere so öffentlichkeitswirksam – aufgedeckt, ist das ein Schlag ins Kontor: Das greift ihre auf „Regel“-Überwachung beruhende Autorität fundamental an. Sie muss sich eingestehen, dass ihr schöner Pluralismus nicht funktioniert ohne „Kontrolle“; die ist aber leider nicht möglich und muss durch „Vertrauen“ ersetzt werden:
„Ohne akademische Integrität ist Wissenschaft kaum zu machen, weil Quellen und Ergebnisse nicht mehr zugeordnet werden können und weil es gänzlich unmöglich ist, tatsächlich alle Forschung zu kontrollieren. Ohne die Einhaltung dieser Regeln wird das für das Gemeinschaftswerk ‚Wissenschaft‘ so zentrale Vertrauen der Beteiligten untereinander sehr schnell schwinden.“ (Walter-Drop)
Da die Kontrolle des Gedankens, ob er richtig oder falsch ist, im Pluralismus nichts verloren hat; da die pluralistische Wissenschaft auf Gedeih und Verderb auf die Einhaltung der „Regeln“ setzt, ist sie auf eine Eigenschaft des Wissenschaftlers angewiesen, die in der Wissenschaft nichts verloren hat: seine besondere Moralität. Er sei einem „Ehrenwort“ verpflichtet, heißt es in dem Offenen Brief, und „man muss sich auf die Redlichkeit in der ’scientific community‘ verlassen können“. Zusammengefasst: „Wissenschaft beruht auf den Prinzipien von Wahrhaftigkeit, Redlichkeit und Vertrauen.“ (Prof. Matthias Kleiner, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)) Das umso mehr, als die Waffen der Anti-Plagiats-SoKo, Google sei dank, zwar geschärft worden sind, Google aber auch ein altbekanntes Problem verschärft hat:
„Die Leichtigkeit aber, mit der dies (das Abkupfern, d. Verf.) auf allen Ebenen von akademischen Arbeiten – angefangen von einfachen Seminararbeiten bis zu Habilitationen – geschehen kann, hat eine vollkommen neue Qualität.“ (Walter-Drop)
Das hat sie nun davon, die Wissenschaft, dass sie von Wissenschaft nichts wissen will. Sie verstrickt sich in einen „mühsamen Kampf“ und es hilft ihr nur noch eins:
„Wie bei praktisch allen gesellschaftlichen Normen, kann auch die akademische Integrität nur bestehen, wenn ihre Grundprinzipien tief ins Selbstverständnis der wissenschaftlich Arbeitenden eingesunken ist, denn Kontrolle kann immer nur stichprobenartig sein.“ (Ebd.)
So kämpft sich die pluralistische Wissenschaft an dem selbstverschuldeten Drangsal ab, dass sie auf die „eingesunkene“ Redlichkeit angewiesen ist und ihr eben deswegen ständig misstrauen muss. Für ihren Ruf ist das nicht gut, denn es bekräftigt den Verdacht, dass in diesen Kreisen auch nur mit Wasser gekocht wird, der Betrug Gewohnheit und viel Angeberei unterwegs ist. Es ist halt schlecht, wenn man mit seinen „Regeln“ so aufs Renommee drückt und dann von einem Guttenberg auf dem Fuß, der darauf nur wartet, erwischt wird.
*
„Jetzt sind die Zirkus-Tiere aufgestanden und haben der Politik schlicht und zornig mitgeteilt, dass in ihrer Welt noch andere Gesetze gelten als die des Eventmarketings.“
Es mag sein, dass sich die Angehörigen der Gemeinde wie „Zirkus-Tiere“ behandelt vorkamen, da die politische Elite aus der Aberkennung des Doktortitels wegen erwiesener Un-Redlichkeit keinen Schluss und den Verteidigungsminister aufgrund seiner politischen Qualitäten zunächst nicht aus dem Verkehr ziehen wollte. Sie sind aber keine „Zirkus-Tiere“, sondern die wissenschaftliche Autorität im Lande, und sie beschweren sich beleidigt und frech zugleich: „Wir erwarten für unsere wissenschaftliche Arbeit keine Dankbarkeit, aber zumindest den Respekt, dass man unsere Arbeit ernst nimmt.“ (Abschlusserklärung). Da überschätzen sie sich ein wenig: Zwar hat ihr Wort Gewicht – aber nur deswegen, weil es sich bei ihnen um eine staatliche Unterorganisation handelt, weil der Staat sie als Elite approbiert hat. Er will diesen Stand haben, hat dessen gesamten Werdegang entworfen und institutionalisiert, legt Wert auf seine „Erkenntnisse“, bezahlt deren Produktion, woran auch das Gebot zur „Beschaffung von Drittmitteln“ nichts ändert – das macht die wirkliche Autorität. Wucht haben die Qualifikationskriterien dieses Standes, der über Aufnahme oder Nicht-Aufnahme entscheidet, nur deswegen, weil der Staat diesen Kriterien Rechtsförmlichkeit verliehen hat; weil Professoren über Karrieren nicht deswegen entscheiden, weil sie große Denker sind, sondern weil ihnen ein Amt verliehen wurde. Letzter Garant des Pluralismus ist der Staat, der die Wissenschaftler und ihre „Regeln“ autorisiert, und ihre „Erkenntnisse“ gelten auch nur deswegen.
Die „zornige“ Gemeinde hält dem Staat vor: Schadest du dir nicht selbst, wenn du die „Regeln“ deines Standes, die in ihrer ganzen Strenge der Seichtigkeit des Eventmarketings die Stirne bieten, gröblichst missachtest?! Das hat die politische Elite akzeptiert, aber nicht aus Respekt vor „anderen Gesetzen als denen des Eventmarketings“, sondern weil sie an sich denkt: Sie würde sich selbst desavouieren, wenn sie eine von ihr eingesetzte Elite desavouiert, insbesondere würde sie sich aber einen Klotz ans Bein binden, wenn sie einem überführten Betrüger aus den eigenen Reihen nicht zumindest eine Denkpause verordnete. Das hat den Ruf der Gemeinde wieder aufpoliert.