„Die Krise“ – zum neuen Sprachdenkmal gewordene Bezeichnung dafür, dass diverse Profitansprüche momentan nicht aufgehen – frisst sich inzwischen ein gutes halbes Jahr durch alle Abteilungen unserer Wirtschaft. Jedem ist bekannt, dass noch eine ganze Reihe mehr oder weniger spektakulärer Einbrüche in der so genannten Realwirtschaft bevorstehen und mit noch mehr Arbeitslosen zu rechnen ist. Das abhängig beschäftigte Volk hält still – durchaus zur Verwunderung der politischen Klasse, die es verwaltet. Die weiß offenbar sehr gut, mit welchen Zumutungen sie ihre Massen momentan konfrontiert, und erlaubt sich den Spaß, über die Möglichkeit von „sozialen Unruhen“ zu räsonieren, die keiner wollen kann, das Volk, das sie allenfalls anzetteln könnte, zuallerletzt.
Die Krise „herrscht“ also auf unabsehbare Zeit und ihre Wirkungen entfalten sich in schöner Negativität in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft – ein beredtes Zeugnis dafür, dass und wie hierzulande alles davon abhängt, dass die Geldrechnungen der Finanz- und sonstigen Kapitalistenklasse aufgehen. Angesichts dessen stellen die öffentlichen Vordenker der Nation anscheinend eine gewisse Verlegenheit fest: Ihre Textbausteine von gestern, die die kapitalistische Marktwirtschaft als „effizientestes“, „innovativstes“ „produktivstes“ und überhaupt einfach bestes System lobpreisen, lassen sich nicht mehr wie gewohnt einfach ausschneiden und einfügen. Natürlich kann man auch stur bleiben: „Sie können sicher sein: Der moderne Kapitalismus ist garantiert auch in seiner größten Krise dem Sozialismus überlegen. Turmhoch.“ (Bild, 20.5.09) Dem gehobenen Journalismus ist diese Tour einfach zu durchsichtig. Klar – das Ergebnis soll schon so rauskommen, aber irgendwie doch ein wenig reflektierter, begründeter, nicht so plump apologetisch. Also führt man in einigen deutschen Schreibstuben eine herrliche Debatte auf hohem Niveau. In der geht es um nicht weniger als „die Systemfrage“, die sich jetzt angeblich allen stellt. Mit Verve tut man selbst in ‚Zeit’ und FAZ so, als befinde man sich gerade in einem Werbespot der „Gesellschafter“. Künstlich naiv, so als gäbe es keine durch staatliche Gewalt gültig gemachten Interessen, denken Mitglieder und Eliten dieser kapitalistischen Gesellschaft allen Ernstes darüber nach: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“(Spiegel)
Insbesondere legt sich der Spiegel kritisch ins Zeug. „Warum der Kapitalismus nicht aus seinen Fehlern lernen kann“ (Spiegel, 11.5.), titelt das Blatt und überrascht seine Leser zunächst einmal damit, alle möglichen Erklärungen, die seine Redakteure selbst ein ums andere Mal aufgetischt haben, in einem großen Rundumschlag zu widerlegen. Gier lässt sich demnach gar nicht von Profit trennen – nachdem man genau das in den letzten Monaten erbittert durchkonjugiert hat! Die Real- gegen die Finanzwirtschaft auszuspielen, ein Standardgedanke des bisherigen Krisenjournalismus – grober Unsinn, überall dasselbe Prinzip am Werk, das in die Krise führt! Den Grund für die Krise den Amis zuschustern, auch da war der Spiegel ganz vorne dabei – absolut ignorant gegenüber den allgemeinen Gesetzen der Marktwirtschaft! Also nicht Einzelphänomene, sondern, man denke nur, „System“, und was für eines: „Wer im Kapitalismus ein System sieht, das eine schöne Idee ist, die von Gierigen leider missbraucht wird, der ist ungefähr so weltfremd wie ein Marxist, der glaubt, Sozialismus sei eine gute Idee, die leider von Lenin, Stalin und Fidel Castro missbraucht worden sei.“ Selbst „die Kapitalisten wundern sich am lautesten über ihren Kapitalismus“, und eigentlich sei schon jetzt allen klar, dass der Versuch des Staates, die Krise zu bekämpfen, höchstens „ein Problem löse, indem er zwei neue produziere, mehr Staatsverschuldung und drohende Inflation“.
Mit einer in diesem Stil seitenlang aufgeblasenen Tirade , die völlig abgeklärt mit allem abrechnet, was man bis gestern behauptet hat und demnächst sicher auch wieder steif und fest behaupten wird, steuert der Artikel zielstrebig darauf hin, dass sich der Kapitalismus diesmal nicht in einer seiner üblichen Verwertungskrisen befindet, die dann die Restwelt auszubaden hat. Es ist viel schlimmer: „Die systemische Erkenntnis dieser Krise ist nicht, das der Markt systemisch zu Krisen führt, das wusste man vorher; die Erkenntnis ist, dass die ideologische Hülle der Marktwirtschaft zerstört ist, wohl für immer.“ Mein Gott! Keine Ideologien mehr zur Marktwirtschaft – das ist natürlich wirklich grässlich, nicht auszudenken und schon gar nicht auszuhalten. Wie soll es da weitergehen? „Nackt steht die Marktwirtschaft da, ein kaltes Gerüst, dem Gespött ausgeliefert.“ Schon entdeckt der Spiegel fürchterliche Tendenzen: „SAP-Gründer Hasso Plattner hat bemerkt, dass es so eine Stimmung im Land gibt, dass wir Kapitalismus eigentlich gar nicht mehr wollen, sondern was anderes, Netteres“. Bei der bisher „anachronistisch“ in der Ecke stehenden Sarah Wagenknecht ist ein Lächeln der „Genugtuung“ zu sehen angesichts der „antikapitalistischen Schlagzeilen der vergangenen Wochen“, und das Ami-Magazin „Newsweek“ behauptet „We are all socialists now“. Die Lage ist also wirklich ernst.
Aber dann doch: Entwarnung!, der Artikel biegt auf die Zielgerade ein. „Ein schlüssiges Gegenkonzept zum Kapitalismus gibt es nicht“ – das sagt ausgerechnet seine Gegnerin Wagenknecht, und die muss es ja wissen. Sonst nimmt ein Spiegel-Redakteur den „Spinnern von links“ ihre Einsichten und Kritiken zwar nicht ab, aber in diesem Fall? Eine Kommunistin als Kronzeugin dafür, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gibt – bingo! Das ist es doch, wonach man in der Krise verzweifelt gesucht hat: Legitimation ohne den Umweg über eine momentan unglaubwürdige Schönfärberei! Der Kapitalismus steht mit seiner Krise vielleicht „nackt“ da, muss aber einfach sein – ohne aufwendige Begründung, ohne großartige Versprechen, ohne lateinische Adjektive. Das System ist große Scheiße, mangels Alternative aber unumgänglich und notwendig – wenn das mal nicht ein geradliniger Schluss ist und eine Werbung für den Laden, die überzeugender nicht ausfallen kann.
PS: Was ist da bei Louis XVI. bloß schief gelaufen? Weit und breit nur Feudalismus wahrzunehmen, landauf und -ab massenweise – nein, nicht Wirtschaftswissenschafter – Pfaffen, die dem Volk predigten, dass ihre Herren „von Gottes Gnaden“ und deswegen absolut = alternativlos seien – und was macht der Plebs? Einfach eine Revolution, ohne sich darum zu scheren, das es die Alternative doch (noch) gar nicht gibt! Wo Spiegelleser doch jetzt wissen, dass so was gar nicht geht!