Ein Lehrstück über Kultur und Gewalt – oder:
Vom Krieg gegen die Kultur zu einer härteren Kultur des Krieges
Ende Februar lassen sich IS-Milizionäre dabei filmen, wie sie im Museum von Mossul im Irak antike Statuen vom Sockel stürzen, die Bruchstücke mit Vorschlaghämmern und Schlagbohrmaschinen zertrümmern, unter „Allahu akbar” den Koran rezitieren und ihre Vorfahren von den alten Sumerern bis zu den Assyrern verdammen, weil sie „Götzen angebetet und mehr als nur einen Gott verehrt” hätten. (zitiert nach SZ, 28./29.2.2015) Ganz offensichtlich messen die IS-Soldaten den Relikten der Vergangenheit die Bedeutung einer ganz falschen nationalen Kultur zu, die ihrer monotheistischen Sittlichkeit, die sie zur Räson ihres neuen Kalifat-Staates zu machen gedenken, entschieden widerspricht. Mit dem Eifer von Staatsgründern räumen sie auch die kulturellen Prunkstücke der alten irakischen Staatlichkeit demonstrativ ab und verbreiten ihre Tat publikumswirksam als Video übers Internet.
Die christlich-abendländische Öffentlichkeit ist sich angesichts der Vorfälle in Mossul in einem sofort einig: Mit der Zerstörung der antiken Steinfiguren ist viel mehr kaputt gegangen als ein paar steinerne Zeugen vergangener Herrschaften. Sie nimmt die Zerstörungen als Kulturkampf nicht minder ernst als der IS: Die zerstörten Denkmäler sind ein Anschlag auf ‚uns‘, auf alles Gute, das wir repräsentieren und für das wir uns einsetzen. In diesem Sinne führt sie einhellig eine Art höherer Schadensbilanz auf, also Argumente, warum und inwiefern es ein Frevel allergrößten Kalibers ist, wenn altertümliche Steinfiguren und das dazu gehörige Museum mit der Spitzhacke absichtlich und demonstrativ geschleift werden:
Das Verbrechen des IS lautet erstens auf Diebstahl an der Identität des irakischen Volkes:
„Naheliegender (als die zerstörten Figuren auf dem Kunstmarkt zu Geld zu machen; d.V.) ist, dass der Kalif den Irakern mit seiner Zerstörungsorgie die Identität stehlen will. Wenn die vorislamische Vergangenheit des Zweistromlandes als von Gott verworfen dargestellt wird, bleibt den Nachfahren der Mesopotamier als Heimat nur das Kalifat.” (SZ, 28./29.2.2015)
Da kennen sich die Vertreter westlicher Leitkultur aus: Erst klaut der Kalif den Irakern ihre kulturelle Identität, und dann setzt er sich und seine islamistische Ideologie bruchlos an die frei gewordene Leerstelle, damit ihm dann die Heimatverbundenheit, also die Loyalität der Iraker, sozusagen in den Schoß fällt. Ein interessantes Menschenbild, das die Feingeister von der SZ da von den Irakern entwerfen. Wenn ein Museum kaputt ist, dann ist auch dem irakischen Volk sein ganzes Weiß-warum-und-wohin, seine „Identität” eben, sein ganzer Lebenssinn verloren gegangen. Und weil die Iraker in diesen Kriegszeiten oder überhaupt nichts sehnlicher brauchen als eine verbindliche Sinnstiftung als völkische Gemeinschaft, klammern sie sich, weil sie sonst nichts haben, sogar ersatzweise an die ganz anders gestrickte Ideologie des IS-Kalifats. Wer so manipulativ denkt, der nimmt offenbar den verlogenen Schein der nationalen Sinnstiftung, den die staatlich-pompöse Ausstellung nationaler Kulturgüter erzeugen soll, bitter ernst. Liebhaber der Kultur wollen an den Blödsinn glauben, dass sich Menschen ihre „Identität” als Völker und Nationen in einer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit von Bildern, Literatur oder eben hier von 3000 Jahre alten Steinfiguren bilden, als höhere und ganz zweckfreie Gemeinschaften. Und diese echte „Identität” macht der IS eben kaputt und nutzt den Schaden für sich unbillig aus.
Beim Missbrauch identitätsstiftender Kultur fürs irakische Volk bleibt es zweitens aber nicht. Eine Woche später fällt der SZ-Redaktion eine noch schlimmere Folge des Verlusts der kulturellen Vergangenheit ein:
„Natürlich ist es wichtiger, Leben zu retten als Tempel und Statuen. Doch wer den Menschen nur die Existenz lässt, aber ihnen ihre Vergangenheit nimmt, der degradiert sie, der tötet langsam – so wie es der IS im Irak tut.“ (SZ, 6.3.2015)
Eine interessante Abwägung, die der Autor da zwischen Leben und Tempeln trifft: Erst erklärt er die Rettung von Menschenleben zur Hauptsache – was ja selber schon eine reichlich verfremdete positive Deutung des Kriegs gegen den IS ist –, um in der zweiten Hälfte schnurstracks die Zerstörung der Kulturdenkmäler dann „doch” mit dem Angriff auf das Leben der Menschen im Irak gleichzusetzen: Ein „degradiertes” Leben in bloßer ‚nackter‘ Existenz, also ohne den Sinn, der sich einstellt, wenn man so auf seine 3000 Jahre lange kulturelle Geschichte zurückschaut, das kommt den Kulturmenschen von der SZ letztlich wie ein langsames Dahinsiechen bis zum Tod vor, quasi Völkermord auf Raten – auch so kann man auf einen Kriegsschauplatz blicken.
Drittens aber und vor allem richtet sich das Abbruchwerk der IS, dieser „Frevel von Mossul“ so gesehen gegen noch viel mehr:
„Ihre (der Altertümer, d.V.) Vernichtung bezeugt, dass der Hass des IS nicht den einzelnen Widerständigen in der Region gilt, sondern der Menschheit überhaupt. Wenn diese Altertümer zerstört werden, sind wir alle gemeint.“ (ZEIT, 5.3.2015)
Einzelne militärische Widerständler zu beseitigen, um eine Region zu erobern, ist auch nicht schön, wäre aber irgendwie nach den Maßstäben der Kriegführung noch verstehbar. Unschuldige antike Denkmäler aber so zu zerstören, da hakt es bei „uns” endgültig aus. Wer so etwas tut, grenzt sich selbst endgültig aus „der Menschheit überhaupt” aus, weil er sich am Symbol der Menschheit selbst vergreift. Offenbar machen es westliche Demokraten einfach nicht mehr unter den allerhöchsten Titeln einer Bedrohung der Menschheit, wenn es um den IS geht. Nur so ist auch der islamistische Ikonoklasmus (Bildersturm) offenbar auf der Höhe angesiedelt, wo ihn die Fachleute für Kultur und Kunst angemessen verortet haben wollen. Damit ziehen sie den denkbar dicksten moralischen Trennungsstrich zwischen den kultur- also wertlosen Barbaren des IS einerseits und uns allen andererseits als Vertreter und Hüter der menschlichen Zivilisation.
In diesem Geist präparieren die Kulturkenner dann die eigentliche Bedeutung der musealen Trümmer als „Menschheitserbe” heraus, das nun ein für alle Mal „pulverisiert” ist: Die Interpreten von ZEIT und SZ finden ohne Probleme auch an mesopotamischen Artefakten aus dunklen Vorzeiten die idealistischen Weihen für ihre Welt als Inbegriff des Menschlichen, um den Islamismus ins wertemäßige Abseits des Unmenschlichen zu stellen:
„Die Altertümer, die nichts Spezifisches darstellen, symbolisieren die Menschheit schlechthin. Sie sprechen davon, dass zu anderen Zeiten die Menschen anders lebten, anders glaubten, und also auch an jedem anderen Ort anders leben und glauben können. Sie bezeugen, dass die Menschheit viele Möglichkeiten hat und keineswegs naturbestimmt und glaubensnotwendig nach der Lebensform des Islamismus strebt.“ (ebenda)
Wer sowas an einem zerstörten geflügelten Stier aus dem Nergal-Tor entdeckt, ist über nüchterne Fragen der Archäologie, etwa zu wessen Lobpreis ein Steinmetz die Figur aus einem mesopotamischen Felsen herausgehauen hat, natürlich weit hinaus. Der europäische Kunstkenner legt in das Kunstwerk verständig hinein, was es ihm dann sagt und betreibt ganz weltoffen kulturelle Traditionspflege: Die zerstörten Altertümer stellen erstens nichts Bestimmtes dar, weshalb sie zweitens so gut wie alles symbolisieren, nämlich die Menschheit schlechthin. Drittens leitet dieser dialektische Gedanke zur Frage über, als was die Steinplastiken die Menschheit repräsentieren – sie sind die sprechenden Kronzeugen davon, dass die Menschheit, in Gestalt von uns als ihren wahren Repräsentanten, im Respekt vor dem Anderssein-Können Toleranz übt, dass die Altertümer also von einem unserer Höchstwerte künden – und den will der IS kaputt machen.
So geht kämpferischer Ahnenkult, der in der Würdigung der antiken Kulturdenkmäler diesen ablauscht, wie gnadenlos richtig und edel das eigene Verständnis von Kultur, Religion und dem menschlichen Zusammenleben überhaupt ist, weil es unter dem Stern der Toleranz steht. Wer dagegen Museen stürmt, ist ein Feind der aufgeklärten, zivilisierten Menschheit, dem entschieden entgegengetreten werden muss – keine Toleranz für die Feinde der Toleranz – und zwar mit ganz anderen Mitteln als denen des Kulturkampfs:
„Mit der Zerstörung einzigartiger Kulturgüter im Irak fordert der IS die Weltgemeinschaft heraus … die Mossuler Zerstörungsorgie könnte einen Prozess befördern, an dessen Ende eine internationale Koalition härter gegen den IS vorgeht als bisher.” (SZ, 28./29.2.)
Auch auf diese Ebene können die westlich-aufgeklärten Freunde der Kultur ihre Argumente also heben: Ihr Leiden am islamistischen Umgang mit den Zeugnissen der mesopotamischen Kultur mündet mehr oder weniger direkt in die Hoffnung auf eine Eskalation des westlichen Bombenkrieges im Irak. Sie rufen unmissverständlich nach mehr Gewalt im Namen der Kultur und „der Menschheit überhaupt“. Offenbar verstehen sich da beide Parteien dieses Kulturkampfs ganz gut auf die Übung, den uralten Steinfiguren im Besonderen und der Kultur im Allgemeinen einen Rang als sittlichem Höchstwert – so verschieden der sein mag – zuzumessen, der angelegentlich mit aller Militanz verteidigt werden muss. Und was die christlich-abendländische Seite angeht: Die hat mit der Verurteilung der Kulturschändung in ihr großes Mosaik des Anti-IS-Feindbildes einen weiteren Baustein einfügt und noch eine moralisch astreine Rechtfertigung für alle Kriegsaktionen im Irak im geistigen Gepäck.