Das Wachstum

„Wir brauchen dringend wieder Wachstum“ (Angela Merkel)

Es herrscht große Besorgnis: Das Wachstum ist weg; die Wirtschaft schrumpft. Der Staat hält milliardenschwere Konjunkturprogramme für notwendig, damit die Wirtschaft wieder anspringen und uns mit positiven Wachstumszahlen erfreuen möge. Zeit für die Fragen: Was ist das Wachstum und warum ist es so wichtig? Und v. a.: Wer ist das Wir, das laut Merkel dringend wieder Wachstum braucht?

Die Verfechter der Marktwirtschaft behaupten, deren besonderer Vorzug bestehe – und das hätten schließlich auch die früheren Ostblock-Staaten eingesehen – in der umfangreichen Versorgung mit schönen und nützlichen Gütern, und dafür bräuchte es das Wachstum. Dann ist aber die zurzeit herrschende Besorgnis nicht zu verstehen. Wenn es wirklich um die Bereitstellung von ausreichend vielen nützlichen Gütern geht – wo ist das Problem? Fünf Prozent weniger Wachstum, das entspräche in etwa der Wirtschaftsleistung des Jahres 2006 – und das galt als ein gutes Jahr. Niemand sprach damals von einem Mangel an Computern, Autos, Dienstleistungen usw. Und es wird wohl keiner leugnen, dass man mit derselben Produktion, sofern es denn wirklich um die Versorgung mit Gütern ginge, auch im Jahr 2009 ganz gut über die Runden kommen würde. Aber das ist natürlich eine müßige Überlegung.

Wie jeder weiß, besteht das Wachstum, um das sich alle Welt jetzt solche Sorgen macht, nicht in der Zunahme nützlicher Güter, sondern in der Zunahme des Bruttosozialprodukts – das ist die entscheidende Kennziffer. In dem werden nicht Stücke, Kilos oder Kalorien zusammengezählt, sondern Preise, und diese Summe, also die Addition von lauter Geldbeträgen, muss von Jahr zu Jahr mehr werden. Da geht es also nicht um Güter, mit denen die Menschheit versorgt werden kann, sondern um Waren. Vor jeder Versorgung steht der Zwang, die Waren bezahlen zu müssen; es geht nicht um Bedürfnis oder Bedarf, sondern ob man über Geld verfügt: Das will der kapitalistische Produzent sehen, bevor er seine Waren herausrückt, und selbstverständlich muss für ihn ein Gewinn herausspringen. Ob Güter produziert werden, hängt also gänzlich davon ab, ob sie als Waren auf dem Markt gewinnbringend verkauft werden können, und was ein Unternehmer produziert, interessiert ihn ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt.

Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Nutzen eines Gutes zeigt sich am schlagendsten, wenn der Unternehmer, weil anderswo ein höherer Gewinn winkt, seine Produktion aufgibt und sein Kapital in eine andere Sphäre wirft. Selbst die eine oder andere Naturkatastrophe oder ein Anstieg der Autounfälle können dem Wachstum sehr förderlich sein, weil das jedes Mal für Kapitalisten eine Geschäftsgelegenheit ist: Da werden zwar Werte vernichtet, aber an ihre Stelle treten Waren oder Dienstleistungen, also Verkäufe von Kapitalisten, mit denen sie ihr Kapital verwerten, und die Verkäufe lassen das Bruttosozialprodukt anschwellen.

Die Kapitalisten sind die Akteure und Repräsentanten dessen, was in dieser Gesellschaft Reichtum ist: nicht die Anhäufung nützlicher Güter, sondern das Geld, zu dem diese Güter verkauft werden. Alles gesellschaftliche Leben – die Versorgung von Bedürfnissen – sind der Privatmacht des Geldes unterworfen und dienen dessen Zweck, aus Geld mehr Geld zu machen. Das Geld, das der gewöhnliche Mensch in der Tasche hat, ist dazu da und reicht, wenn er Glück hat, sich die Waren zu kaufen, die er fürs Leben braucht – sein Geld ist dann weg und landet mit eherner Regelmäßigkeit bei dem, der diese Waren hergestellt hat. Der setzt seine Produktion fort, wenn sich durch den Rückfluss dieses Geldes seine Geldsumme vermehrt hat, wenn nicht, dann lässt er es bleiben.

Anders ausgedrückt: Ein Kapitalist veranstaltet eine Produktion nur zu dem Zweck, sein Kapital zu vermehren; ob und welche Güter hergestellt werden, hängt ganz und gar davon ab, ob sie den Dienst der Kapitalvermehrung leisten. Und noch anders ausgedrückt: Die zuvor als müßig bezeichnete Überlegung, dass die Gesellschaft mit der Produktion des Jahres 2006 doch auch ganz gut bedient wäre, ist für den Kapitalisten eine Absurdität: Damit wäre sein Zweck überhaupt nicht erfüllt, im Gegenteil: Wenn sich sein Kapital nicht vermehrt, ist das für ihn gleichbedeutend mit der Vernichtung seines Kapitals.

Eben das passiert in der Krise und geht logischerweise einher mit einer Absurdität eines ganz anderen Kalibers: Da hat er zu viele, also unverkäufliche
Waren, und darin liegt für ihn das eigentliche Problem: Sein Kapital, das er investiert hat, verwertet sich nicht, also ist auch das zu viel. Natürlich denkt er nicht im Traum daran, diese Waren zu verschenken. Sein Umgang mit seinem Problem – alle anderen würden sich über kostenlose Waren, also Güter freuen – ist ein anderer: Er legt die Waren auf Halde, nimmt also lieber einen Qualitätsverlust in Kauf; er geht mit dem Preis herunter, was aber schon eine ziemliche Notmaßnahme ist; und darum fährt er dann die Produktion herunter oder stellt sie ganz ein. Er legt also schon geschaffenen Reichtum und Quellen des Reichtums lahm, weil sie sich nicht als Geldquellen bewähren. Das heißt, dass es auch zu viel Arbeit gibt, nämlich in Gestalt der Leute, die für die Warenproduktion nicht mehr gebraucht werden und deswegen ihren Lebensunterhalt verlieren. Um auf die anfänglich zitierte Behauptung der Freunde der Marktwirtschaft zurückzukommen: Es stimmt nicht nur nicht, dass es das Wachstum wegen der bestmöglichen Versorgung mit Gütern bräuchte, es steht sogar – in der Krise wird es oberdeutlich – in direktem Gegensatz zu dieser Versorgung.

Eine zweite Behauptung, die die Verfechter der Marktwirtschaft in die Welt setzen, lautet: Mit dem Wachstum und nur mit ihm gibt es einen „Wohlstand für alle“. Voraussetzung dieses „Wohlstands“ ist eine florierende Wirtschaft, also der wachsende Reichtum der Kapitalisten. Dass „wir alle“ dann davon auch abhängig sind, steht damit fest, und eben deswegen soll und muss man sich auch Sorgen machen und dafür sein, dass es mit diesem Wohlstand klappt, die Kapitalisten ihr Wachstum hinkriegen. Dafür müssen sie günstige Bedingungen vorfinden. Eine günstige Bedingung, die die Arbeitgebervertreter ständig anmahnen und deren sich der Staat tatkräftig annimmt, widerspricht freilich dem „Wohlstand für alle“ ganz entschieden: Die Arbeitskraft, die die Unternehmer benutzen wollen, muss rentabel sein, das heißt: sich den Gewinnansprüchen unterwerfen, mit entsprechenden Konsequenzen für Leistungsanforderungen und Lohnansprüche.

Jetzt ist Krise, was aber für die Arbeitskraft in dieser Hinsicht nur bedeutet, dass alles, was auch sonst kapitalistisches Gebot ist, nun – im Namen der Überwindung der Krise – erst recht greifen muss: niedrige Lohnabschlüsse, flexible Arbeitszeiten, Kurzarbeit, Entlassung von Zeitarbeitern und was es sonst so an kapitalistischen Zumutungen gibt. Zugunsten des Wachstums haben die eigenen Wünsche und Bedürfnisse immer hintanzustehen. Bescheidenheit wird eingefordert, damit die Wirtschaft vorankommt, der „Wohlstand für alle“ ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf den eigenen Wohlstand.

Bescheidenheit als praktischer Zwang und als eingeforderte Tugend: Kommt nach der Krise die „Erholung“, verträgt die auf gar keinen Fall irgendwelche Lohnforderungen. Und wenn die Wirtschaft so richtig boomt und die Preise auf breiter Front steigen, dann gibt es von Seiten der Arbeitgeberverbände und der Wirtschaftsweisen ein wahres Trommelfeuer: Dieser eine Preis, nämlich der Lohn, darf auf keinen Fall steigen, denn das würde den schönen Boom kaputt machen, und die Bundesbank steuert noch das hochklassige Argument der „Lohn-Preis-Spirale“ bei: Wenn bei allgemein steigenden Preisen auch noch der Lohn steigt, dann können die anderen Preise gar nicht anders, als noch mehr steigen – wenn man also als arbeitender Mensch von steigenden Preisen verschont bleiben will, dann muss man seinen eigenen Preis niedrig halten. Für alle Phasen des Wachstums gilt also die Maxime: „Lohnzurückhaltung!“ Und in allen Phasen gibt es ein und dieselbe Begründung, warum das für die lohnabhängig Beschäftigten gut ist: Nur das sichert die Arbeitsplätze! Das ist ein interessantes Eingeständnis: Wenn sich die Lohnabhängigen etwas vom Wachstum erwarten können, dann ist es eben das – ein Arbeitsplatz. Darin besteht dann ihr „Wohlstand für alle“ und für den haben sie sich unablässig Zurückhaltung aufzuerlegen. Zusammengefasst: In allen Phasen des Geschäftsgangs werden sie als Leute angesprochen, deren höchstes Glück es ist, einen Arbeitsplatz zu „besitzen“, und in dieser trostlosen Figur einer abhängigen Variablen der Kalkulationen derer, die die Arbeitsplätze wirklich besitzen, weil sie sie eingerichtet haben, hat man sich dann auch einzurichten.

P.S.

Eine sehr einseitige und verzerrende Darstellung, werden die Verteidiger der Marktwirtschaft sagen. Lohnzurückhaltung hin, Abhängigkeit vom Arbeitsplatz her – der „Wohlstand“ mag nicht übermäßig sein, aber der Lebensstandard dieser Bevölkerung hat sich in den letzten Jahrzehnten doch wohl verbessert. Das sei einem sogenannten „trickle-down Effekt“ zu verdanken: Es tröpfelt oder sickert etwas vom Reichtum von oben nach unten durch. Den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung einmal unterstellt, indem die Augen fest zumachen und nicht auf das schauen, was um uns herum wirklich passiert – zwei interessante Auskünfte sind das allemal: Erstens ist der Maßstab immer die Armut von gestern, und falls eine Besserung eingetreten ist, darf man von Glück reden; als Maßstab kommt nicht in Frage, welche der vielen schönen Güter, die es nun mal gibt, man brauchen könnte. Zweitens, und genau passend dazu, muss man also dafür sein, dass die Reichen immer reicher werden, die vielbeklagte „Kluft zwischen Arm und Reich“ immer größer wird, denn nur so kann man auf ein Heruntertröpfeln und – man stelle sich vor – womöglich auf ein zunehmendes hoffen. Auch eine Art, den „abhängigen Variablen“ Trost zu spenden.

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