Freies Meinen und Glauben
Meinen dürfen
Meinungsfreiheit ist ein „Wert“ der höheren Art, ein Gut nach dem kein Mensch einfach von sich aus ein Bedürfnis verspürt. Wer etwas meint und das auch äußern will, der will das tun und nicht dürfen: der fällt ein Urteil, das er für richtig hält und für wichtig genug, um es anderen mitzuteilen; oder er meldet ein Interesse an, an dessen Realisierung ihm liegt und für das er Unterstützung will. Mit der Äußerung geht es ihm um eine Auseinandersetzung: der Angesprochene soll dem geäußerten Urteil zustimmen oder es widerlegen, also den vorgetragenen Gedanken ernsthaft prüfen; das durch das Urteil begründete Interesse soll er unterstützen oder begründet ablehnen. Darum geht es und nicht darum, den Mund aufgemacht zu haben und nicht daran gehindert worden zu sein. Wenn die Meinungsfreiheit hochgehalten wird, wird aber genau das positiv vermerkt: dass man überhaupt etwas sagen darf. Auf die Idee, das für toll zu halten, kann man nur kommen, wenn man an eine über einem stehende Gewalt denkt, die einem schon das bloße Meinungsäußern verbieten könnte. Aber immerhin, könnte man jetzt sagen – ist doch besser, wenn man die eigene Meinung äußern darf, als wenn selbst das verboten ist. Wenn es einem auf das eigene Urteil bzw. Interesse praktisch ankommt, will man doch nicht schon im Vorfeld niedergebügelt werden. Eine Instanz, die einem schon die bloße Äußerung verbietet, müsste man also bekämpfen als Voraussetzung dafür, dass Einsicht und. Interesse wirksam werden können. Eine ganz andere Sache ist es aber, bei so einer Instanz, die Macht, Gewaltmittel und auch ihre Gründe hat, ihren Untergebenen das Maul zu stopfen, um das Recht auf Meinungsäußerung nachzusuchen. Damit ist billigend anerkannt, dass man einer Macht unterworfen ist, die Rechte dieser Art entziehen oder erteilen kann. Wenn die einem dann das Reden nicht verbietet, ist für die Durchsetzung des eigenen Urteils und Interesses noch gar nichts erreicht. Dafür hat man sich eingehandelt, dass man sogar beim bloßen Reden den Kriterien des Machthabers unterliegt, der einem diese „Freiheit“ großzügig gewährt.
Bloß meinen dürfen
Das ist nämlich die andere Seite jeder staatlich gewährten Freiheit und nicht nur des Rechts der freien Meinungsäußerung (Art. 5.1 GG): Die Instanz, die diese Freiheit gewährt, behält sich auch vor, den Gebrauch, den die damit Beschenkten von dieser Freiheit machen, nach ihrem Ermessen zu beurteilen und zu regulieren (Art. 5.2 GG).
Dementsprechend wertet der demokratische Staat manche Meinungsäußerung als verbalen Übergriff gegen sich selbst oder ein anderes von ihm als schutzwürdig beurteiltes Interesse und verbietet sie oder stellt sie unter Strafe. Viel grundsätzlicher allerdings greift er in sämtliche Verstandes- und Willensäußerungen ein, indem er jede Äußerung darauf verpflichtet, sich als Meinung vorzutragen und allen Meinungen prinzipiell gleiche Gültigkeit garantiert. Damit macht er es jedem, der das Recht in Anspruch nehmen möchte, sich frei zu äußern, zur Pflicht, alle anderen Meinungen – auch diejenigen, die seiner widersprechen – als genauso gültig wie die seine anzuerkennen. (Fast) jeder darf (fast) alles äußern was er will, er darf aber nicht die praktische Durchsetzung des Gemeinten verlangen oder gar selbst in Angriff nehmen. Da meinen nämlich andere etwas ganz anderes, das die gleiche Berechtigung zugesprochen bekommt, ohne dass die Richtigkeit des einen oder anderen überprüft werden müsste. Jede Äußerung, ob sie nun richtige Einsichten oder den größten Blödsinn ausdrückt, wird mit jeder anderen gleich gültig, dann ist sie aber auch gleichgültig. Diese gleiche Gültigkeit und damit Ungültigkeit aller Meinungen, die im Recht auf deren freie Äußerung enthalten ist, zielt weniger auf die belanglosen Ansichten, mit denen die Menschen einander unterhalten, obwohl sie auch da praktiziert wird. Beinahe jedes Urteil, das im zwischenmenschlichen Alltag fällt, wird mit „ich mein ja bloß“ oder vornehmer „meines Erachtens“ für einerseits beachtenswert, weil meines, andererseits aber für praktisch irrelevant erklärt. Anwendung findet diese prinzipielle Relativierung auch und gerade bei den sachlichen Interessensgegensätze, die die bürgerliche Gesellschaft beherrschen. Die Vertreter dieser Interessen dürfen meinen, die Entscheidung darüber, welche Interessen wann, wie und wo realisiert werden fällt die Staatsmacht. Die meint nicht, sondern legt fest, was gilt. Und auch dazu dürfen sich ihre Staatsbürger eine freie Meinung zulegen. Wenn sie wollen, sogar eine schlechte.
Freiheit abstrakt
Die Freiheit der Meinungsäußerung gehört tatsächlich zu dem eigentümlichen Verhältnis beschränkender Anerkennung, in dem die moderne bürgerliche Staatsgewalt zu ihren Bürgern steht: Sie gewährt ihnen ein Recht auf ihr Interesse und verlangt von ihnen zugleich, es zu relativieren. Sie sollen darauf verzichten, sich untereinander über die Gültigkeit ihrer individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten wirklich auseinander zu setzen, sich auf ein Resultat zu einigen und dies dann auch praktisch werden zu lassen. Von vornherein mutet die Staatsgewalt ihnen zu, die Regelung ihrer gesellschaftlichen Beziehungen ausschließlich der höchsten Gewalt zu überlassen. So genießen die Bürger zwar die „Freiheit“, aber das Kommando über die materiellen Bedingungen dieser Freiheit liegt ganz bei der Staatsmacht. Die bürgerliche Freiheit ist also recht abstrakter Natur, weil sie von allem, was die Menschen brauchen, wollen und können, absieht. Die Verwirklichung materieller Interessen ist gerade nicht Inhalt dieser Freiheit. In diesem Verhältnis, das der Staat zu seinen Bürgern eingeht, in diesem Gewähren einer abstrakten Freiheit, ist das Recht auf freies Meinen und sich Äußern enthalten – einschließlich der Maßregel, dass der Mensch sich schon gut damit bedient finden soll, sich ungehindert verbal verbreiten zu dürfen.
Glauben, egal was
Gerade in der Auseinandersetzung mit muslimisch verfassten Staaten wird neben der freien Meinung auf die Religionsfreiheit als Qualitätsmerkmal eines freiheitlichen Staatwesens gepocht. Aufs Glauben an allerlei Allerhöchstes, verstandesmäßig Unfassliches wird da nämlich nicht verzichtet. Im Gegenteil! Die freie Religionsausübung genießt staatlichen Schutz. Allerdings geht es der Religion wie den gesellschaftlich relevanten Interessen und Meinungen der Bürger überhaupt. Es darf geglaubt und privat praktiziert werden, aber keine Glaubensrichtung darf den – eigentlich jeder Religion immanenten – Anspruch erheben, die „einzig wahre“ und deshalb allgemein verbindliche zu sein. Keine erhält den Rang einer für Regierte und Regierende gleichermaßen verpflichtenden Dienstanweisung, wie das hier früher einmal der Fall war und in manchen morgenländischen Regionen immer noch ist.
Die demokratische Obrigkeit hat befunden, dass es für den staatsbürgerlichen Gehorsam nicht nur unnötig, sondern vielfach sogar hinderlich ist, wenn sie ihren Bürgern vorschreibt, von welchem Gott sie sich den Gehorsam hienieden befehlen lassen sollen. Sie stellt es jedem frei, sich auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten den Gott auszusuchen, von dem er sich sagen lässt, dass die Unterwerfung unter das weltliche Regiment gottgefällig ist. Ja – Gipfel der Freiheit –, er braucht nicht einmal an einen Gott zu glauben, sondern darf sich ersatzweise im humanistischen Wertehimmel das höchste Prinzip auswählen, aus dem er dasselbe deduziert, nämlich dass das menschliche Zusammenleben „ohne ein staatliches Gewaltmonopol undenkbar“ sei.
siehe dazu auch: GEGENSTANDPUNKT 1-06: „Viel Lärm um ein paar Zeichnungen zum Thema ‚Mohammed‘ und ein Kreuzzug für die Meinungsfreiheit“; erhältlich im Buchhandel