Vorhaut zwischen Seelenheil und Körperverletzung
Ein Kölner Gericht sieht im religiös motivierten Abschneiden der Vorhaut bei Jungen eine strafbare Körperverletzung – und entfacht damit einen größeren Aufruhr in der nationalen Öffentlichkeit, ja sogar internationale diplomatische Irritationen. Die Kanzlerin sorgt sich um das Ansehen der Nation im Ausland, die Regierung legt ein Sondergesetz vor und der Bundestag macht sich im Eiltempo an dessen Verabschiedung. Über ein kleines Stückchen Haut sind zwei Instanzen aneinander geraten, die beide nicht mit sich spaßen lassen, was ihren Anspruch auf absolute Gültigkeit ihrer höchsten Normen und Werte angeht: die großen Religionsgemeinschaften und der bürgerliche Staat.
Der religiöse Inhalt der Kulthandlung
Zwar sind nur Juden und Muslime von dem Urteil des Kölner Gerichts unmittelbar betroffen. Das hat aber die unbeschnittene christliche Abteilung nicht daran gehindert, sich mit den beschnittenen Brüdern solidarisch zu erklären, was die unbehinderte Ausübung ihrer religiösen Riten angeht. Die verdanken sich schließlich den Geboten des von ihnen jeweils ausgedachten Allerhöchsten, der per Definition über allen staatlichen Gesetzen steht. Was die Identität jeder religiösen Gemeinde ausmacht, ist das Selbstbewusstsein, keinen Geringeren als den obersten Weltenlenker persönlich zum Chef zu haben – den bzw. das beansprucht jede Gemeinde exklusiv für sich. Durch die Unterwerfung unter dessen Gebote erweist sich ein Mensch als guter Jude, Muslim, Christ und damit als Mitglied im Club der von seinem Gott Auserwählten. Wer sich als Mensch so entmündigt, dass er sich als Erfüllungsgehilfe eines lebenslänglichen Auftrags begreift, wer sich so erniedrigt, dass er verglichen mit seinem Herrn und Schöpfer eine gottserbärmliche Kreatur darstellt – ein derart ohnmächtiger Knecht erhöht sich genau dadurch, dass er dem konkurrenzlos Allmächtigen dienen darf, dem alle unterworfen sind, selbst die, die das nicht wissen oder glauben. Daraus speist sich das unerschütterliche Rechtsbewusstsein des Glaubensmenschen, im Leben zwar manchen Fehltritt tun zu können, dank seiner Zugehörigkeit zum einzig richtigen Glaubensverein und in seinem Gottesdienst aber einem unfehlbaren Weg und Willen zu folgen.
Diese eigentümliche, sinnstiftende Dialektik von Unterwerfung und höchstem Rechtsbewusstsein bestimmt nicht zufällig auch die Initiationsriten als solche: Wie die christliche Taufe wird die Beschneidung am Kind vorgenommen, bei den Juden am neugeborenen, bei den Muslimen auch etwas später. Dieser Vollzug am unmündigen Subjekt erfüllt seinen Tiefsinn als vorbewusster, vorwillentlicher Akt jenseits jeder Berechnung, als den ihn die Eltern am Novizen vollstrecken lassen, so wie er an ihnen selbst vollstreckt wurde. Die Beschneidung soll, indem sie die Markierung durch ein bleibendes Körpermal setzt, der Zugehörigkeit zur religiösen Herde zudem die unabänderliche Qualität des Biologischen, die Authentizität des Naturmerkmals verleihen.
Egal, wie weit die jeweilige Initiation geht, der Religionsbeitritt ist in den Augen des Gläubigen nichts Willkürliches, sondern erhält in der Kulthandlung den Symbolgehalt des Auftrags von ganz oben, des Auserwählt-Werdens. Was den Willen des Herrn angeht, verbietet sich der Verdacht der Willkür sowieso, weshalb die Gläubigen in der Verantwortung stehen, sich der Gnade dieser Auswahl durch ihre Gottesfurcht würdig zu erweisen, sie sich verdienen zu müssen. Wer so in der Pflicht ist, kann mit dem Opfer als Beweis seiner Dienstbarkeit nicht früh genug anfangen, am besten, bevor er selber das überhaupt will. Diesbezüglich mag die Beschneidung, die angeblich in der abrahamitischen Tradition von Menschenopfer und Kastration bereits eine vergleichsweise zivile Aufweichung darstellt, manchem modernen Glaubensmenschen immer noch als archaisch roh und unzeitgemäß erscheinen, aber der Stellenwert von Demut und Opferbereitschaft im religiösen Menschen- und Weltbild sollte auch ihm vertraut sein.
Die religiöse Sittlichkeit im Volk ist bei der wirklichen Herrschaft im Prinzip gern gesehen. Die Zeiten, zu denen sich die reale Macht ihrerseits mit Gottes Gnadentum legitimiert hat, sind hierzulande zwar vorbei, dennoch kann auch der bürgerliche Staat mit einer religiös-irrationalen Geistesausstattung seiner Bürger etwas anfangen. Er weiß sie zu schätzen als Bindemittel zwischen Volk und Herrschaft. In der Freiheit, sich die Welt religiös zu deuten, unterwirft sich der Gläubige zwar einem anderen, seinem absoluten Herrn, schafft es aber zugleich, sich auf seine Lebenswirklichkeit einen Sinn zu reimen, der im Normalfall seine Loyalität auch zur realen Obrigkeit einschließt. Wer sich nämlich eine höchste überirdische Instanz einbildet, die in einer Welt voller Not, Elend und Gewalt alle irdischen Geschicke in der Hand hat; wer an einen göttlichen Plan glaubt, der gerade auch dann, wenn der Mensch ihn nicht begreift, einem höheren Wozu und Weißwarum folgt; wer sich in dieser Vorsehung aufgehoben weiß: Der macht seinen persönlichen Seelenfrieden mit Gott und der Welt. Insofern und solange diese Spielart der Affirmation funktioniert, hat der Glaube daran, in der speziellen Mission eines Außerirdischen unterwegs zu sein, ihren anerkannten Platz im bürgerlichen Gemeinwesen.
Die Vorhaut als staatliches Rechtsgut
Angesichts des einvernehmlichen Verhältnisses, das Staat und Religion pflegen – man weiß, was man aneinander hat –, fragt sich, was denn Vertreter deutschen Rechts an der Beschneiderei stört, für deren religiösen Gehalt durchaus Respekt angemahnt und bezeugt wird. Wo es den Veranstaltern der Kulthandlung um die göttliche Gnade ewigen Seelenheils zu tun ist, wo sie das Signum der Auserwähltheit zelebrieren, sprechen weltliche Richter von Körperverletzung, die der Staat, für den sie tätig sind, verboten hat. Sie fassen auftragsgemäß den religiösen Akts als Tatbestand des Rechts. Wenn sie den religiösen Ritus ins Visier nehmen, werden da nicht einfach Vorhäute beschnitten, sondern mit ihnen Rechte. Die von Staat gewährte Religionsfreiheit hat sich an einem anderen Grundrecht, dem auf körperliche Unversehrtheit, zu relativieren. Auf Rechtsdeutsch heißt das „Kollision zweier Rechtsgüter“ – und die wird von der staatlichen Rechtssprechung entschieden und nicht von religiösen Oberhäuptern. Wenn die sich vom Staat nicht die Leviten lesen lassen wollen und sich richterliche Einmischung in ihr gottgewolltes Treiben verbitten, dann missverstehen sie das Recht auf freie Religionsausübung.
Mit diesem Grundrecht, das der Staat der Religion zugesteht, legt er sie nämlich auch auf den Gebrauch dieser Freiheit fest, und diese Festlegung hat es in sich. Zwar darf jeder glauben, an wen oder was er will, wie er auch meinen darf, was er mag. Damit gilt die religiöse Meinung aber genau so viel, nämlich nicht mehr als eine unter vielen Meinungen, die im doppelten Wortsinn gleich gültig, also gleichgültig und auf praktische Folgenlosigkeit festgelegt sind. Der weltanschauliche Absolutismus der Religionen verträgt sich im Grunde schlecht mit so einem Relativismus und Pluralismus, aber sich in eben diese Gleichgültigkeit der Religionen einzureihen, mutet der säkulare Staat den von ihm zugelassenen Kirchen zu. Sie dürfen die Selbstfeier der Frömmigkeit ihrer Schafe organisieren, ihnen vorbeten, dass ihr Gott über allem steht, und sich als seine Vertretung auf Erden vereinsintern sonst was anmaßen. Klar muss aber sein, dass sie dabei nur eine private Lebensanschauung vertreten und betreuen, während die staatliche Hoheit als solche unangetastet über all den sinnhaltigen Weltbildern steht. Als Freiheit, als staatliche Erlaubnis, sie ausüben zu dürfen, ist die Religion somit herabgestuft, ist die Kirche dem Rechtsstaat untergeordnet und so fürs bürgerliche Gemeinwesen funktionalisiert.
So gut sich die Kirchen mit dieser Platzanweisung arrangiert haben, so affirmativ sie die Welt deuten und so loyal in der Regel ihre Anhänger auch der weltlichen Macht dienen – der Gegensatz ist damit nicht weg und lauert in seiner Grundsätzlichkeit im scheinbar abseitigsten Reibungspunkt und Schauplatz. Das belegt auch die Fußnote zur Debatte, dass die christliche Kirche sich in dem Fall mit ihrer jüdischen und muslimischen Konkurrenz solidarisch erklärt. Wo es um Staat gegen Religion geht, wollen die Religionen zusammenhalten.
Die Eskalation des Streits und seine salomonische Schlichtung
Für die Funktionäre des deutschen Judentums, denen ihre muslimische Konkurrenz in dieser Frage gerne den Vortritt lässt, ist mit der gerichtlich festgestellten Rechtswidrigkeit des Beschneidungsritus ein Kern ihres religiösen Lebens staatlich bestritten: das feierliche Ritual der bleibenden Besiegelung der Zugehörigkeit ihrer männlichen Kinder zum auserwählten Bund. Auf dessen unanfechtbarer Geltung beharren sie. Mit dem Verbot der Beschneidung, lassen sie wissen, „wäre jüdisches Leben in Deutschland 70 Jahre nach dem Holocaust wieder unmöglich.“
Dabei finden sie auswärtige Unterstützung durch Israel. Dieser bürgerliche Staat, der sich die Besonderheit gestattet, den jüdischen Glauben zur Staatsreligion zu erklären, sieht als politischer Arm des auserwählten Volkes von diesem Urteil im deutschen Rechtsstaat nicht nur einen Ritus, auch nicht nur eine Religion, sondern mit seiner Nationalreligion sich selbst angegriffen: Israel „werde eine solche Beschränkung jüdischer Praktiken nirgendwo tolerieren, und ganz sicher nicht in Deutschland“ (NZZ, 10.7.). Der Nachsatz ruft zudem drohend die deutsche Vergangenheit herbei und unterstellt dem aktuellen Rechtsurteil antisemitische Befangenheit, also eine Feindseligkeit gegen das auserwählte Volk, die deutsche Köpfe gleich einem bösen Erbgut offenbar nicht mehr loswerden. Auf jüdischer Seite will man sich jedenfalls „an den Holocaust erinnert fühlen“, redet vom „Tod des Judentums“ und fragt die Deutschen: „Wollt ihr uns Juden noch?“ (SZ, 15./16.9.)
Das gibt der Debatte eine Wendung, bringt sie auf eine Ebene der Eskalation, die die deutsche politische Führung rasch aktiv werden lässt. Ein Gesetz wird auf den Weg gebracht, das auf eine Art und Weise die Luft aus der Sache herauslässt, die im grotesken Verhältnis zu den Dimensionen des öffentlichen Streits um Staat und Religion steht. Der Gesetzentwurf hält nämlich jeden Bezug zum religiösen Anlass und Inhalt draußen, fasst Beschneidung generell als „Körperverletzung“, die aber – solange sie „fachgerecht“ durchgeführt wird – straffrei und den Eltern der beschnittenen Kinder anheim gestellt bleiben soll. Somit regelt der Staat die Angelegenheit, indem er die Rechtsaffäre auf eine Frage des medizinischen Handwerks bzw. der adäquaten Ausbildung der Beschneider herunterfährt.
Die jüdischen und muslimischen Glaubensfunktionäre erklären ihre Zufriedenheit, Frau Knobloch bleibt in Deutschland und der öffentliche Aufruhr legt sich wieder.