Vorweihnachtliche Wohltätigkeit
Spendenaktionen gehören zur Vorweihnachtszeit wie Glühwein und Adventskalender. Kirchen und Wohlfahrtsverbände, Fernsehmagazine und Tageszeitungen rufen auch heuer wieder dazu auf, bedürftigen Mitmenschen mit größeren oder kleineren Geldbeträgen unter die Arme zu greifen. Dieser vorweihnachtlichen Mildtätigkeit geht seit Jahrzehnten das Material nicht aus: Arme gehören zu dieser Gesellschaft offensichtlich ebenso dauerhaft wie Banken und Bundeswehr. Warum das so ist, soll man sich beim Spenden nicht fragen, und als Einwand gegen die Effektivität der freien Marktwirtschaft soll das nicht genommen werden, auch nicht, wenn die Armut, so wird mitgeteilt, nicht weniger, sondern immer mehr wird.
„Die Zahl der Hilfsbedürftigen steigt, die Hilfsmittel aber werden immer weniger: Mit diesem Satz ließe sich ein regionaler Armutsbericht zusammenfassen. Es war insgesamt kein gutes Jahr für sozial schwache Menschen.“ (Stuttgarter Zeitung)
Die Armut nimmt zu
Das Lob der „Wohlstandsgesellschaft“, in der angeblich die Armut, obwohl permanent vorhanden, eine schicksalhafte Ausnahme darstelle, ist leiser geworden. Armut, so heißt es heute, ist ein notwendiges Massenphänomen, das der Erfolg des Geschäftsstandorts Deutschland zwingend erfordert. Während im Lokalteil die „immer größer werdende Not um uns herum“ (St.Z.) beklagt wird, verlangen Politiker, Unternehmer und Wirtschaftexperten in der gleichen Zeitung Lohnsenkungen bei verlängerter Arbeitszeit und Verbesserung der betrieblichen Kostenstrukturen durch Stellenstreichungen. Löhne und Gehälter mögen das einzige Lebensmittel sein für die, die sie kriegen, für die Betriebe, die sie auszahlen sind es Kosten und als solche niedrig zu halten. Schließlich errechnetsich der Profit, auf den es in dieser Gesellschaft ankommt, aus der Differenz zwischen den Produktionskosten und den Verkaufserlösen.
Im Zeitalter weltweit durchgesetzter Marktwirtschaft mit freiem Kapitaltransfer über den gesamten Erdball und einer Produktivität, die menschliche Arbeitskraft zum Handlanger computerisierter Produktionsabläufe gemacht hat, konkurrieren deutsche Arbeiter kostenmäßig mit den Armen zwischen Ungarn und Südafrika. Deren Lohnniveau wird ihnen ganz praktisch als Vergleichsmaßstab aufgemacht, wenn deutsche Unternehmen Standortverlagerungen und/oder Lohnsenkungen beschließen.
Dass der kostensparende Umgang mit den Arbeitnehmern kein Novum ist, zeigt die mehr als 100-jährige Geschichte der Sozialkassen, mit denen der Staat dafür sorgt(e), dass die ganz normalen „Wechselfälle des Lebens“ nicht zum sofortigen Ruin des lohnarbeitenden Teils seiner Bevölkerung führen. Schon in den Zeiten, in denen er Lohn bezieht, kann dieser Bevölkerungsteil Krankheit, Unfall, Ehescheidung, Kinderreichtum, Wohnungsverlust… finanziell nur schwer oder gar nicht bewältigen. In Zeiten, in denen er wegen Entlassung, Invalidität oder Alter nichts (mehr) verdient, hat er auch nichts (mehr) zum Leben. Weil das so ist, hat der Sozialstaat Zwangsversicherungen eingerichtet, in die Lohnteile zwangsabgeführt wurden. Aus diesen Beiträgen aller Lohnarbeiter werden die Hilfszahlungen an die finanziert, die vom „Schicksal“ ereilt werden. So erzwingt die sozialstaatliche Armutsverwaltung durch Umverteilung von Lohnbestandteilen, dass der Lohn der nationalen Arbeiterklasse für ein Überleben auch in den Notlagen ausreicht, die die Marktwirtschaft so zu bieten hat.
Dieser Finanzierungsgrundsatz hat schon immer dafür gesorgt, dass es sich in der„sozialen Hängematte“ herzlich unbequem liegt. Die Zahlungen für Arbeitslose reichen kaum zum Lebensunterhalt und „motivieren“ zur dringenden Suche nach bezahlter Arbeit, und um von der Rente einigermaßen über die Runden zu kommen, ist eine „Rentenbiographie“ nötig, die die flexible Arbeitswelt nur den wenigsten beschert. Und dieser Finanzierungsgrundsatz ließ sich noch nie auf die gesamte Armenpflege anwenden. Wer dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgemustert ist, dem teilt der Staat Sozialhilfe zu. Die ist zum Sterben zwar zu viel, zum Leben aber zu wenig, weil im Sozialstaat die schönen Steuergelder zum Füttern von Bedürftigen viel zu schade sind. Aus dieser Gesellschaftsgruppe stammten also ebenfalls schon immer die Adressaten für vorweihnachtliche Mildtätigkeit.
Nun wird alles „immer schlimmer“, denn diese Gesellschaftsgruppe wird immer größer. Das ist kein unglücklicher Zufall, sondern systemkonform. Geschäftstüchtig wie sie sind, haben sich deutsche Unternehmen den Erfordernissen der globalen Konkurrenz gestellt, sie haben rationalisiert, d.h. Lohnstückkosten gesenkt und Arbeiter entlassen und/oder keine mehr eingestellt und denen, die sie weiter beschäftigt haben, weniger Lohn bezahlt. Deshalb steht nun einer drastisch gestiegenen Anzahl von Anspruchsberechtigten eine drastisch gesunkene Summe von Sozialabgaben gegenüber. Um das Prinzip, die Sozialkassen aus dem Lohn der (noch) Beschäftigten zu finanzieren, beibehalten zu können , müsste man glatt den Bruttolohn erhöhen, und das, so hört man allenthalben, verträgt der deutsche Standort nicht. Vom Nettolohn., also dem, was die Leute für den täglichen Lebensunterhalt ausgeben können, wird zwar weiter fleißig abkassiert, aber das reicht eben nicht. Also wird „reformiert“: mit der Agenda 2010 und Hartz I – IV (s. VERSUS Nr.1 Nov. 2004) werden Ansprüche gestrichen und Teile der bisher Anspruchsberechtigten in die staatliche Armenfürsorge übernommen, sofern sie glaubhaft nachweisen können, dass sie wirklich gar nichts mehr haben. Das macht die Lohnarbeiter ärmer und die „sozial Schwachen“ auch und liefert Material für die diesjährigen Spendenaufrufe.
Die Armut ist Schicksal
„Tatsächlich ist die Gesundheitsreform für viele ärmere Menschen eine ernsthafte Bedrohung geworden. … Auch die pauschalierte Sozialhilfe macht den Menschen weiter zu schaffen. Den allermeisten gelingt es nicht, die geringe Pauschale von rund 30 Euro im Monat anzusparen, um damit unvorhergesehene Ausgaben zu decken. … Doch nicht nur für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger ist es schwerer geworden, mit dem Geld auszukommen. In vielen Betrieben müssen die Arbeitnehmer Lohnverzicht üben oder den Ausfall des Weihnachtsgeldes hinnehmen. Den sinkenden Realeinkommen stehen aber steigende Ausgeben etwa für Heizöl und Lebensmittel gegenüber. Viele Menschen plagt die Sorge, ob sie sich weiter die Miete leisten könnte, ob die Schulden sie auffräßen, wie lange ihr Job noch sicher sei. … Erstmals seit vielen Jahren ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Stuttgart wieder auf mehr als 24 000 Menschen gestiegen …“ (St.Z.)
Und dann geht’s weiter wie jedes Jahr. Mildtätige Menschen zeichnen sich mit erschreckender und abstoßender Hartnäckigkeit dadurch aus, dass sie die Beseitigung der Gründe für die von ihnen festgestellt Armut nicht für ihre Aufgabe halten. Genaugenommenhalten sie das für niemandes Aufgabe, weil sie die guten Gründe für die – verschärfte -Armut selber einsehen:
„Arbeitsplätze und Gesundheit, das kann auch die Weihnachtsaktion der Stuttgarter Zeitung nicht herbeizaubern(!) – ein wenig Hoffnung aber schon.“ (St.Z.)
Das kapitalistische Grundprinzip, dass wer nichts hat, nur dann ans Lebensnotwendige kommt, wenn ihn ein Geschäftsmann, der was hat, profitbringend für sich arbeiten lässt, leuchtet ihnen als quasi naturgegebene Konstante dermaßen ein, dass sie Änderungen daran für eine Frage magischer Kräfte halten. Dass das Lebensnotwendige fehlt, wenn man sich für das Geschäft der Besitzenden nicht (mehr) nützlich machen kann – „nach 30 Jahren Bau sind die Knochen ruiniert“ (St.Z.) – oder wenn sich kein Geschäftsmann findet, der sich von der Beschäftigung der Habenichtse einen Profit verspricht, das ist die selbstverständliche Grundlage der Wohltätigkeit. Die täglichen Spendenaufrufe zählen „Schicksale“ auf, die sich erstens dadurch auszeichnen, dass irgendein Schicksalsschlag den Spendenbedürftigen daran hindert sich für Geschäft und Standort nützlich zu machen. Alter ,Krankheit, Unfall, Invalidität, pflegebedürftige Angehörige, frühzeitige Schwangerschaft, ein prügelnder Ehemann, all das gilt auf dieser Basis als zwar bedauerlicher, aber eben auch nicht zu vermeidender Grund für nackte Armut. So werden die Armen, die durch die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse vom Reichtum ausgeschlossen sind, zu Opfern von unglücklichen Launen des Geschicks erklärt. Zum Zweiten tauchen unter den „Menschen in Not“ – sehr zeit- und konjunkturgemäß – Personen auf, die sich durchaus eines geregelten Arbeitsverhältnisses erfreuen, davon aber auch bescheidenst nicht leben können.
„Familie G. hat fünf Kinder, die alle noch zur Schule gehen. … Zwar arbeiten beide Elter halbtags, aber trotzdem(!) reicht das Einkommen nicht aus, um davon den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten.“ „Frau A. freut sich zwar auf den Ein- Euro-Job, den sie demnächst antreten soll, weil er ihr hilft, den Tag zu strukturieren. Doch(!) finanziell werden die beiden auch in Zukunft eingeschränkt(!) sein.“ (St.Z.)
Da mag mit „zwar“ und „trotzdem“ so getan werden, als sei Lohnarbeit im Prinzip die Verhinderung von Elend, die moderne Arbeitswelt des globalisierten Kapitalismus zeigt da inzwischen eine andere Normalität. Das Abrutschen in spendenwürdige Armutsverhältnisse gehörte schon immer zu den „Lebensrisiken“, die die Marktwirtschaft für Lohnarbeiter bereit hielt. Vorsorge für Notfälle ist eben von einem Einkommen, das grade bis zum Monatsende reicht, nicht drin. Die moderne,nicht mehr ganz so soziale Marktwirtschaft, schafft darüber hinaus immer mehr Arbeitsverhältnisse, in denen der gezahlte Lohn weit vor Monatsende verbraucht ist und für das blanke Überleben aufstockende Maßnahmen aus der Sozialkasse erforderlich sind. Arbeiten und auf Sozialhilfeniveau leben, das sind die Biografien, die die Spendenaufrufe in diesem Jahr bereichern. „Schicksale“ eben!
Die Armut ist unverschuldet
Ein zusätzliches Kriterium müssen die vom Schicksal derart gebeutelten allerdings noch erfüllen, um sich des Mitgefühls anständiger Bürger als würdig zu erweisen. In einer Gesellschaft, in dem keinem etwas geschenkt wird und alle ein Recht darauf haben, dass das auch so bleibt, hat ein „echter“ Hilfsbedürftiger nachzuweisen, dass er kein Faulenzer ist, der sich aus dem Mitleid anderer Leute einen faulen Lenz macht. Der gegen jeden Armen ins Feld geführte Generalverdacht, er lasse es an Anstrengung oder gar Bescheidenheit fehlen, will erst entkräftet werden, bevor ihn gute Mitmenschen mit Spendengroschen bedenken.
„Was können wir ihnen versprechen für ihr Geld? … Dass wir zusammen mit den (sozialen und kirchlichen) Organisationen jeden Fall genau prüfen werden, bevor wir mit Ihrem Geld einen Scheck ausstellen.“ (St.Z.)
Armut alleine qualifiziert noch nicht für weihnachtliche Mildtätigkeit. Die edlen Spender haben einen Anspruch darauf, dass die Bedürftigkeit der Spendenempfänger groß genug, also die Armut wirklich „echt“ ist; und sie haben Anspruch darauf, dass sie unverschuldet ist. Im Unterschied zum Bettler an der nächsten Straßenecke verfügen die Einzelschicksale, die im Rahmen von Spendenaktionen vorgestellt werden über ein diesbezügliches Zertifikat. Da wird kein Fall vorgestellt, bei dem nicht eigens betont wird, dass der Bedürftige sich a) jahrzehntelang „in einem Betrieb abgerackert“ hat, b) momentan dazu wirklich nicht in der Lage ist –„in seinem erlernten Beruf konnte er nicht mehr arbeiten“ – und c) zur Verrichtung jeder möglichen „Erwerbs“tätigkeit bereit ist:
„Doch auf keinen Fall will Herr. R. seine Ansprüche beim Sozialamt geltend machen. Stattdessen sammelt er jeden Tag stundenlang leerePfandflaschen in der Stadt auf.“!
Und ebenso regelmäßig wird darauf verwiesen, dass die Betroffenen keineswegs große Ansprüche stellen
„Meist sind es eher kleine Beträge, die wir in ihrem Sinne weitergeben“ (ST.Z.)
Ein Einkaufstrolley, ein Winterpullover, ein Badezimmervorleger, ein Kinderbett, das sind die Spenden, mit denen die Notleidenden „unterstützt“ werden sollen und für die Geld gesammelt wird.
Den Armen wird geholfen
An eine Beseitigung der Not kann und soll bei dieser Sorte „dringend notwendiger Hilfe“ also keineswegs gedacht werden, noch nicht einmal die nackte Existenz wollen weihnachtliche Spendenaktionen irgendjemandem garantieren. Dass die milde Gabe bald aufgebraucht sein muss, die Armut also ebenso groß bleibt, wie anlässlich des Spendenaufrufs geschildert, ist bekannt und stört weder Spender noch Spendeneintreiber! Denen geht’s um Höheres. „Ein wenig Hoffnung“ wollen sie „herbeizaubern“: nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben, noch nicht einmal dafür taugen die erbärmlichen Gaben, sondern die Hoffnung darauf, als auch dauerhaft Armer von den lieben Mitmenschen nicht ausgegrenzt, sondern als anständiger Bürger anerkannt zu sein. Darauf haben die notleidenden Nachbarn Anspruch und – nur – das kriegen sie. Unter den genannten Bedingungen und wenigstens in der Vorweihnachtszeit! Die Spender erhalten ihrerseits Gelegenheit, An- und Wohlstand zu demonstrieren. Zum einen können sie sich mit ihrem Scherflein in die Reihe der Menschen, die guten Herzens sind eingliedern, zum andern dürfen sie den eigenen Geldmangel an der Not der als spendenwürdig vorgeführten Armen messen. An armen Nachbarn kann und soll man sehen,
„wie schnell einer heutzutage durch das soziale Netz dieser Gesellschaft fallen kann“ (St. Z.).
Gegen diese Gesellschaft soll das nicht sprechen, sondern dafür, dass man in ihr immer noch allen Grund zur Zufriedenheit hat, solange man zu den privilegierten Arbeitsplatzbesitzern gehört. Als solcher soll man sich, auch ohne Weihnachtsgeld, als – noch – relativ reich fühlen.
Na dann, frohes Fest!