Nelson Mandela (Versöhner, schwarzer)
Nelson Mandela, „das Idealbild des Menschen“ (Die Welt), stirbt, und namens der Menschheit trauert die deutsche Presse um den „friedlichsten Menschen der Welt“ (BILD). Anlässlich seines Todes lassen die Nekrologe noch einmal die einzigartige Mischung aus Weisheit, Güte und visionärer Kraft hochleben, mit denen er im diesbezüglichen Ranking nach fast einhelliger öffentlicher Auffassung sogar Mahatma Gandhi mindestens ein-, vielleicht auch überholt hat. Wir lesen u.a.:
Statt die verängstigten Weißen in die Ecke zu drängen, suchte der ANC-Chef seine Kerkermeister für die Vision der Regenbogennation zu gewinnen: Er wusste, dass das Experiment des Multikulti-Staats nur unter Beteiligung der wirtschaftlich dominanten Minderheit gelingen konnte.“ „Mandelas weiser Umgang mit den alten Feinden, das Unterdrücken jeder Rachegefühle, die sich in 27 Jahren Haft mit Sicherheit aufgestaut hatten, war der Schlüssel für Südafrikas Weg von der Tyrannei zur Demokratie, einer Demokratie, der nicht eine blutige Revolution voranging, sondern die auf Überzeugungsarbeit und Einsicht beruht. Wenn Südafrika heute ein weitgehend stabiles und tatsächlich demokratisches Land ist, dann ist das Mandela zu verdanken. Sein Lebenswerk ist ein Staat, in dem die Unabhängigkeit der Justiz garantiert ist, in dem Meinungsfreiheit herrscht und freie und faire Wahlen die Norm sind.“ (FAZ, 5.12./ FR, 6.12./ FAZ, 6.12.13)
In dieses Urteil des im Wesentlichen gewaltfreien Übergangs von gewalttätiger Apartheid zu im Wesentlichen gewaltfreien Verhältnissen darf man – es geht schließlich um Afrika! – ein bisschen Bürgerkrieg während der Anfangsphase, den einen oder anderen niedergeschossenen Bergarbeiterstreik neueren Datums, weltrekordmäßige Gewaltkriminalitätsraten u.ä. großzügig einpreisen. Denn im Großen und Ganzen ist es dem Führer des ANC gelungen, die schwarzen Südafrikaner auf seinen Weg mitzunehmen: den Weg der Versöhnung mit „verängstigten Weißen“, die abgesehen von Gemütsverfassung und Hautfarbe ganz nebenbei auch noch die Eigenheit aufweisen, die „wirtschaftlich dominante Minderheit“ in Südafrika zu sein. Und im Hinblick auf diesen Umstand liegt die eigentliche Wundertat, so schön, dass man sie gar nicht oft genug erzählen kann:
Als erster schwarzer Staatspräsident Süddafrikas von 1994 an hatte sich Mandela entgegen vieler Befürchtungen zu einem pragmatischen Kurs in der Wirtschaftspolitik entschlossen. Ursprüngliche Hauptanliegen der sozialistisch ausgerichteten Widerstandsbewegung Afrikanischer Nationalkongress (ANC) wurden nach seiner Wahl sehr schnell fallen gelassen. Auf einer vielbeachteten Rede auf dem Weltwirtschaftsforum 1991 in Davos betonte Mandela stattdessen die wichtige Rolle privaten Eigentums und versprach Investoren eine ‚sichere Rendite‘, ohne Angst vor Enteignungen haben zu müssen.“ (FAZ, 10.12.13)
Das Ziel des gefeierten Übergangs ist also der Grund für die Feier seines friedlichen Ablaufs: Der große Versöhner hat sich mit dem aus der besiegten Apartheid überkommenen Kapitalismus, seinen ANC mit diesem Abschied von allen sozialistischen Flausen und den Rest seines schwarzen Volkes mit der Perspektive versöhnt, dass seine Befreiung mit der gleichberechtigten Zulassung zu diesem Kapitalismus vollendet ist.
In den Augen seiner Bewunderer strahlt Mandelas Licht umso heller, als ihnen selbst einfällt, dass der Erfolg und die dauerhafte Sicherung der Einordnung der ehemals rassistisch Ausgegrenzten und ökonomisch Verelendeten in den neuen Regenbogenkapitalismus keineswegs selbstverständlich waren und auch gegenwärtig eher nicht sind:
Vier von zehn schwarzen Südafrikanern verlassen heute die Schule ohne Abschluss und sind mangels Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt chancenlos. 10,3 Millionen Menschen und damit 20 Prozent der Gesamtbevölkerung in Südafrika leben von Sozialhilfe. Das Gehalt einer Kassiererin im Supermarkt reicht nicht aus, um eine Krankenversicherung zu bezahlen. Die staatlichen Krankenhäuser sind derart heruntergewirtschaftet, dass dort Heilung mehr mit Glück als mit medizinischer Kompetenz zu tun hat. In diesem unverschämt reichen Land gibt es zahllose Kinder, die noch nie gesehen haben, wie Wasser aus einem Hahn fließt.“ „Mit dem Tod Mandelas verliert das Land eine Symbolfigur, auf die Millionen Südafrikaner auch die Hoffnung auf wirtschaftliches Wohlergehen nach dem Ende des Apartheid-Regimes projizierten.“ (FAZ, 7.12.13)
Die Frankfurter Allgemeine beschwört Misswirtschaft und sozialen Sprengstoff mit einer eindeutigen Stoßrichtung: Dass justizielle Gleichstellung und demokratische Bürgerrechte der politisch-rechtliche Modus sind, in dem die Massen eigentumsloser Schwarzer ihre Benutzung fürs kapitalistische Eigentum südafrikanischer
und ausländischer Investoren oder eben ihre Nutzlosigkeit für deren Unternehmen praktisch zu bewältigen und geistig-staatsbürgerlich zu verdauen haben – das ist so. Und das spricht nicht gegen diese Art der Befreiung und Versöhnung, sondern für den Führer, dem sie darin bisher immer gefolgt sind.
Und dafür, dass sich möglichst schnell als Ersatz für die „Symbolfigur“ eine „Führungspersönlichkeit seines Formats“ (ebd.) findet, die das schwarze Volk bei der Stange hält. Damit die westliche Öffentlichkeit auch weiterhin mit dem antirassistischen Befreiungswerk Mandelas versöhnt bleiben kann.