Streiken für veredelte Konkurrenz in Schule und Hochschule
Da gibt es die Forderung nach „kostenloser Bildung für alle“ bzw. nach „gesetzlich verankerter Gebührenfreiheit von Bildung“. Woran ist dabei gedacht? Wenn arme Familien ihren Kindern keinen Computer, kein Arbeitszimmer oder keine Nachhilfe finanzieren können, wenn sie nicht in der Lage sind, die Studienkosten aufzubringen, dann stehen deren Chancen im Bildungswesen schlecht. In der Tat. Man weiß also – wie zuletzt PISA gezeigt hat –, dass Kinder aus unteren Schichten der Gesellschaft nach ihrer Ausbildung mehrheitlich wieder in den Lebensverhältnissen landen, aus denen sie stammen. Man weiß also um die „sozial ungerechte“ Sortierung dieser Gesellschaft nach Arm und Reich, die im Bildungswesen ständig bestätigt wird. Doch was greift die Forderung nach „kostenloser Bildung für alle“ an? Geht es darum, dass Notebook, Klassenfahrt und Studienmaterialien kostenlos sind – wogegen es wirklich keinen Einwand gäbe –, oder wird dafür plädiert, dass der Geldbeutel der Eltern wenigstens nicht schon in der Schule den Kampf um Erfolge und Misserfolg entscheidet – wo sich am Geld doch sonst alles entscheidet. Soll es darum gehen, dass über den Zugang zu weiterführender Bildung und Studium nicht die Einkommensdifferenzen, sondern nur die Resultate der Leistungskonkurrenz entscheiden? Soll die weiterhin, nur eben durch keinerlei soziale Unterschiede verzerrt, den Nachwuchs nach Siegern und Verlierern sortieren? Wäre es denn wirklich „sozial gerechter“, wenn Kindern aus „bildungsfernen Schichten“ der Zugang zu besser gestellten Positionen eröffnet würde, dafür sich aber umgekehrt Akademikerkinder vermehrt mit der Perspektive der Fabrikarbeit oder Hartz IV anzufreunden hätten? Bei Bildungspolitikern würde man damit offene Türen einrennen. Die möchten, dass das Bildungswesen für alle Jobs der Gesellschaft den passenden Nachwuchs bereitstellt. Dabei wollen sie weder Arbeiterkinder vom Studium ausschließen, noch halten sie es für grob ungehörig, wenn etwa per Studiengebühren bestehende Einkommensunterschiede in der Konkurrenz um Studienplätze und ‑abschlüsse wirksam werden. Für sie zählt letztlich allein das Resultat der Bewährung im groß angelegten Leistungstest im Bildungssystem.
Der Druck, den sie mit ihren Reformen dafür Schülern und Studenten machen, ist ebenfalls Gegenstand von Beschwerden. Gegen die „Schulzeitverkürzung – wie das G‑8-Abitur“, gegen „Kurzstudium und Dauerprüfung“ wird protestiert und die „Aufstockung des Lehrpersonals“, „mehr Lehrer und kleinere Klassen“ gefordert. In der Tat. Unter Leistungsdruck wird das Lernen und Studieren immer stressiger. Doch exakt das ist gewollt: Schneller und kostengünstiger soll der Nachwuchs durch das Bildungssystem geschleust werden, früher soll er sich nach Gymnasium und Restschulen sortieren, eher, flexibler, länger und billiger soll er dann den Arbeitsmärkten zur Verfügung stehen. Genau das ist der Beitrag, den die deutsche Politik vom Bildungswesen für die nationalen Erfolge in der Standortkonkurrenz gegen andere „Industriestaaten“ erwartet. Und die Verschärfung des Konkurrenzdrucks ist dafür ein probates Mittel. So wird dem Nachwuchs Beine gemacht! Deswegen fragt sich auch hier, was die Schüler und Studenten mit ihren Forderungen angreifen wollen: Die Empörung über zunehmenden Leistungsdruck scheint wenig wissen zu wollen von den unschönen Zwecken, die mit ihm verfolgt werden. Wer „kleinere Klassen und mehr Lehrer“ fordert, sich dabei auf „unhaltbare Zustände“ beruft, wie sie auch Lehrerverbände beklagen, der entdeckt allenthalben immer nur ein Versagen der Schulbehörden, die doch „das mit uns nicht machen können!“. Aber dieses Versagen liegt nicht vor. Die Reformer haben ihre politischen Gründe und die Reformen haben Sinn und Zweck – nur eben nicht jene freundlichen, die Schüler und Studenten den Bildungspolitikern unterstellen möchten.
Außerdem fragt sich, was mit „mehr Lehrpersonal“ oder „längerer Lernzeit“ eigentlich gewonnen wäre. Es mag ja sein, dass Lehrer dann mehr Zeit für Schüler haben – was immer sie auch in dieser Zeit mit ihnen anstellen. Und es mag sein, dass Schüler dann mehr lernen – was auch immer. Doch bleibt unter dem Strich kaum mehr als eine Arbeitserleichterung für das Lehrpersonal, das sich dann gut gerüstet und ohne Burnout-Syndrom an die Verteilung des Nachwuchses auf die Bildungskarrieren machen kann. Es ist nämlich eine Milchmädchenrechnung, sich von kleineren Klassen und zusätzlichem Lehrpersonal verbesserte Chancen, also gute Noten oder bessere Abi-Zeugnisse zu versprechen. Wenn sich die Lernbedingungen für alle Lernenden verändern, dann funktioniert Leistungskonkurrenz wie eh und je und verrichtet ihr selektives Werk weiter – vielleicht auf neuem „Lernniveau“.
Die Forderung „Weg mit dem mehrgliedrigen Schulsystem“ stößt sich daran, dass die Schule von vornherein sehr unterschiedliche Ausbildungskarrieren organisiert. In der Tat. Mehrheitlich wird in der Schule dieser „reichen Industrienation“ über Noten und Punkte dafür gesorgt, dass sich die Mehrheit des Nachwuchses schon nach vier Schuljahren jeden Gedanken an ein Leben ohne größere Geldsorgen abschminken kann. Auch das verdankt sich nicht einer Bösartigkeit von Politikern, sondern ihrer Kalkulation mit Bildungskosten und Anforderungen der kapitalistischen Berufswelt. Für jene Dienste, für die Haupt- und Realschulabsolventen vorgesehen sind, braucht es kein Studium, wäre folglich jede Schulzeitverlängerung unnötig und rausgeworfenes Geld. Und selbst am Studium lässt sich ja, wie die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen nebst der Erhebung von Gebühren zeigt, noch einiges sparen. Andere Kriterien fallen ihnen bei der Organisation ihres Bildungswesens erst einmal nicht ein.
Doch was wäre, wenn alle Schüler in ein und derselben Schule nach denselben Grundsätzen behandelt würden? Wäre das nicht dennoch Lernen im Leistungsvergleich, bei dem es auf eine hierarchische Differenzierung der Lernenden durch Punkte und Noten ankommt? Wenn aber Schluss wäre mit der Selektion nach vier Schuljahren, wenn gar allen der Weg zum Abitur offen stünde? Dann fände, wie gehabt, ein Hauen und Stechen um den Abi-Schnitt statt, und in der Uni ginge es nahtlos so weiter. Wenn dort, wie gefordert, wirklich gälte „Master für alle“, würde um die Qualität dieses Abschlusses konkurriert, und danach ginge die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt weiter, da aber dann so richtig!
Wer „Demokratisierung des Bildungssystems“ fordert, stellt nicht die Zwecke des Ausbildungssystems in Frage, die ihm von oben aufgebrummt werden, sondern will mitbestimmen – wobei? Bei der Umsetzung dieser Zwecke! Mit der „Demokratisierungsforderung“ beruft er sich nicht auf seine nicht berücksichtigen oder gar verletzten Interessen, sondern darauf, dass er im Einklang mit der demokratischen Grundideologie steht: Wer von Herrschaft negativ betroffen ist, hat ein Recht darauf, dabei mitzureden. Und wie sieht das Mitreden dann aus? Man darf konstruktiv in Gremien mitwirken, in denen die von oben angeordnete Schulpolitik durchgesetzt wird. Praktisch heißt das, dass man in der Schule gegen jede ungerechte Beurteilung, jede Beleidigung durch den Lehrer, gegen jede dem Lernen abträgliche, antiquierte Arbeitsmethode und was sonst noch das gedeihliche Miteinander von Lehrern und Schülern stört, Einspruch einlegen darf. Man darf also mitwirken an der Bestimmung der Konditionen der Sortierung per Leistungskonkurrenz. – Verliert die aber dann all die in den Aufrufen zum Bildungsstreik beklagten negativen Konsequenzen?
Ähnlich ist es in der Uni: Dort dürfen sich ehemalige Gegner von Studiengebühren nach deren Einführung gemeinsam mit den Zuständigen um einen „sachgerechten“ Einsatz der Gelder bemühen. Und wer sind die Zuständigen? Das sind die Staatsbeamten in der Leitung der Bildungsanstalten, die die Direktiven von oben durchsetzen!
„Beendet den Einfluss der Wirtschaft auf Schule und Hochschule“, lautet eine weitere Forderung. „Die Wirtschaft“, da sitzen irgendwie die Bösen, die im Bereich der Bildung nichts zu suchen haben. Gemessen daran gehört „der Staat“ dann doch irgendwie zu den Guten, obwohl ihm die ganze Kritik der Schüler und Studenten gilt. Aber ist es nicht so, dass es gerade das staatliche Bildungswesen ist, das große Teile des Nachwuchses auf nichts als auf den Berufseinsatz in eben dieser Wirtschaft vorbereitet? Und wird nicht immer wieder von Lernenden „Praxisnähe“ gefordert, die doch auch nichts anderes ist als die noch engere Unterwerfung des Studiums unter ständig wechselnde Anforderungen „der Wirtschaft“? Wer also dem Einfluss der Wirtschaft auf Schule und Hochschule dort entgegentritt, wo sie auch noch penetrant als Lobby und Sponsor auftritt und wo sie schon mal durchrechnet, ob nicht aus dem Bildungswesen auch noch ein Geschäft zu machen ist, der kommt etwas spät. Oder wären Schüler und Studenten zufrieden, wenn sie sich dem geschmähten Einfluss der Wirtschaft erst nach der Ausbildung unterwerfen müssten?
Es passt schon so manches nicht zusammen in den Streikaufrufen: Da stellten die Komitees eine Reihe von Forderungen auf, in denen ihre Kritik an der staatlichen Schulpolitik zusammengefasst ist, um dann am Ende doch wieder mit einem Plädoyer für die gerade kritisierte Bildungspolitik aufzuwarten. Im Schoß des Staates scheinen sie sich letztlich doch besser aufgehoben zu fühlen als in dem der Wirtschaft – als ob man hierzulande zwischen Staats- und Geldmacht wählen könnte! Das scheint ein wenig auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Denn die positiven Reaktionen von Seiten der Bildungsverantwortlichen auf die Demonstrationen und Aktionen der Schüler und Studenten sind – natürlich bei aller Mahnung vor unerlaubtem Protest – nicht zu überhören. Einem kritischen Nachwuchs, dem es sehr konstruktiv vor allem um ein wenig Veredelung der Konkurrenz in Schule und Hochschule, um ein bisschen weniger Leistungsstress geht und der sich zudem mit seinen Forderungen beim Staat gut aufgehoben fühlt, dem können die Verantwortlichen in den Bildungsinstitutionen und die öffentlichen Meinungsbildner selbst beim Streiken schon mal bildungspolitisches Verantwortungsbewusstsein attestieren. Soll’s das gewesen sein?