Eine merkwürdige Frage: Darf man Hitler „menschliche Züge“ verleihen?
Wer bei Hitler das tut, was Geschichtsschreiber, Biographen, Filmemacher sonst bei jeder historischen Figur machen, nämlich seine Gründe, Motive, Gefühle zu ergründen, fängt sich einen herben Vorwurf ein. Sonst genießen Historiker und Schriftsteller, die sich in die von ihnen dargestellte Figur hineinzufühlen und deren persönliche Beweggründe publikumswirksam darzustellen wissen, höchste Anerkennung. Bei Hitler aber gilt dies als gefährlich: Den hat man als abgrundtief bösen (Un )Menschen mit einem verbrecherischen Charakter zu verurteilen. Die Moralhüter der Geisteswelt geben damit zu, worum es sich bei ihren und ihrer Kollegen historischen Darstellungen handelt: keine objektiven Erklärungen dessen, was die großen und kleineren Gewalttäter der politischen Geschichte so angerichtet haben, sondern verständnisinnige Einfühlung in deren Motive. Einfühlen in die Gedankenwelt des Helden wird gleichgesetzt mit verstehen und verstehen mit billigen. Und das tut zumindest ein Stück weit jeder ehrbare bürgerliche Historiker, ganz zu schweigen von Dichtern und Filmemachern, deren Publikumserfolg damit steht oder fällt, dass sie die „Großen“ der Geschichte dem Zuschauer als Personen auspinseln, deren Motive ihm selbst dann irgendwie als verständlich einleuchten, wenn die Moral der Hauptfigur nicht über alle Zweifel erhaben ist. Diese Ehre darf Hitler nicht erwiesen werden. Deshalb gibt es in der demokratischen „Vergangenheitsbewältigung“ die Pflicht zur Verfälschung. Die „Vergangenheit“ darf politisch korrekt ausschließlich entlang des Leitfadens „bewältigt“ werden, dass es sich beim Faschismus um das verbrecherische Werk eines bösen (Un )Menschen handelt. Der Charakter dieses Menschen wird als „dämonisch“ beschrieben. Wenn man dann behauptet, dass es dieser Charakter sei, der die Vorhaben und Taten des Faschismus zu verantworten habe, dann sind diese – Ausgeburten eines Bösen schlechthin und ihre „Erklärung“ fällt in die historisch einmalige Besonderheit dieser kriminellen Persönlichkeit. Da hat man dann moralisch empört und menschlich und entsetzt den Kopf zu schütteln und immer nur zu wiederholen: „Wie konnte so etwas bloß geschehen?“ Die Antwort auf diese Frage war und ist deshalb immer schon klar: Dieser „Dämon“ hatte kein politisches Programm, sondern er hat die Politik für die Abgründe seiner Person missbraucht, seinen nackten Machttrieb damit befriedigt und mit dem 3. Reich seinen Wahn Gestalt werden lassen. Dass er dafür noch ein ganzes Volk gewonnen hat, verdankt sich nach diesem Erklärungsmuster einer grandiosen „Massenverführung“ – womit dieser Abschnitt deutscher Geschichte seine umfassende Würdigung gefunden hätte: Da ist ein einziger, riesiger Unglücksfall der – deutschen – Geschichte passiert. Und da begeht der Film „Der Untergang“ auf den ersten Blick tatsächlich so etwas wie einen Tabubruch, wenn der Mensch Hitler ein wenig ent-dämonisiert wird, weil damit nach obiger Logik auch seine Taten ein wenig mit ent-dämonisiert werden.
Zu Recht hat sich die Aufregung über diesen Tabubruch aber ziemlich schnell gelegt, weil dieser Film durchaus fest in der Tradition der bundesdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“ verankert ist: Auch er befasst sich ja mit nichts anderem als dem rätselhaften Wesen des Menschen Hitler und trägt dazu nichts weiter bei als ein paar „menschliche“ Facetten. Und wenn sich die ganze Debatte nur darum dreht, ob man am Bild vom „Führer aller Deutschen“ als dem bösen Menschen schlechthin ein bisschen herummachen darf, dann bleibt der Kernbestand der „Vergangenheitsbewältigung“ gewahrt, ja, wird sogar unterstrichen: Mit dem, was Politik genannt werden darf, hat der Faschismus nichts gemein, und Hitler war kein Politiker.
Dagegen ist als erstes festzuhalten, dass Hitler einen Weg eingeschlagen hat, der zumindest hierzulande als sehr ehrenwert gilt, um das, was heutzutage und im Nachhinein als „Wahnideen“ und „kriminelle Energie“ gilt, durchzusetzen: Er „beschloss, Politiker zu werden“, gründete eine Partei und erzielte so eindrucksvolle demokratische Wahlerfolge, dass der Präsident nicht umhin konnte, ihn verfassungskonform zum Reichskanzler zu bestellen. Diese „Wahnideen“ gelangten nur deshalb zu größerer Bedeutung und Wirkung, weil er ein ausgesprochen politischer Kopf war und wusste, was er brauchte: Die Kommandogewalt über eine ganze Nation, die es ihm und seiner Partei ermöglichte, eine „innere Säuberung“ durchzuziehen, „Volksfremde“ zu beseitigen, Interessenkämpfe zu verbieten und Soldaten marschieren zu lassen. Mit seinem persönlichen Machtwillen hätte er überhaupt nichts davon erreicht, vielmehr entstammte seine Macht ausschließlich aus dem Posten, dem im Staat vorgesehenen Amt, das er angestrebt und auch bekommen hat. An dem hohen Staatsamt hängt das Verhältnis der Über- und Unterordnung, das der „Führer und Reichskanzler“ wie jeder Regierungschef zu den Angehörigen seiner Nation eingenommen hat. Wer es für selbstverständlich hält, dass ein solches Amt unabdingbar ist, und es damit auch gutheißt, der darf sich erstens nicht wundern, dass Leute wie Hitler, die an der Verfassung von Staat und Gesellschaft einigen Reformbedarf entdecken, diese Gewalt für das einzig taugliche Heilmittel halten und die Macht über die Massen und die sachlichen Mittel einer Nation anstreben. Und der hat sich zweitens in eine heillose Position manövriert, wenn eine Figur wie Hitler diesen Posten bekommt, den er zwar für eine furchtbare Fehlbesetzung, die sich aber für extrem geeignet hält: Zum Regierungsamt gehört es dazu, dass sein Inhaber auf unterlegene Proteststimmen keine Rücksicht zu nehmen braucht, Widerstand seitens der Regierten auch mit Gewalt zu brechen vermag und dazu auch befugt ist. Die Zustimmung zu staatlicher Macht schließt unwiderruflich das „Risiko“ ein, dann eben auch regiert zu werden, und zwar nach den Vorstellungen der Regierenden und nicht der Regierten.
Was seine Absichten und Ziele betraf, war Hitler als deutscher Politiker gar nicht so unnormal. Der Mann ist nämlich durchaus nicht mit dem Angebot angetreten, wahnwitzige Verbrechen zu begehen. Er hat, wie die meisten seiner damaligen Kollegen, einen Verfall der Staatsmacht im Innern und nach außen diagnostiziert. Dem Volk hat er einen Weg zur Wiederherstellung und Vergrößerung deutscher Macht gezeigt, nämlich sich und seine Partei als rücksichtslosen Anwalt deutscher Ordnung nach innen und deutscher Rechte nach außen präsentiert. Ein Versprechen, das Krieg und die Lösung des jüdischen „Ausländerproblems“ einschloss. Natürlich war das nicht ganz dasselbe wie das, was seine bürgerlichen und linken Konkurrenten versprochen haben – wie auch: Denen machte er ja gerade zum Vorwurf, auf ganzer Linie versagt haben. Einig war es sich mit ihnen freilich in dem, worin er ihnen Versagen vorwarf, im gemeinsamen Sorgeobjekt: die innere Ordnung und die Durchsetzungsfähigkeit der deutschen Nation. Lauter von ihnen anerkannte Staatsaufgaben packte Hitler an,
wenn es ihm um die Wiederherstellung von produktiven und wachstumsträchtigen Beziehungen von Kapital und Arbeit als der ökonomischen Basis der Nation ging;
wenn er eine patriotische Moral forderte und förderte, die – Stichwort „Wiedererweckung“ – die Geschlossenheit der Nation garantieren sollte;
wenn er sich kämpferisch für die Beseitigung der Schranken für Deutschlands Interessen in der Welt, die die Siegermächte des ersten Weltkriegs errichtet hatten, einsetzte.
Dass Hitler dann das errungene Amt für den Zweck umgemodelt hat, für den er sich hat wählen lassen, nämlich aus dem Verlierer des 1. Weltkriegs wieder ein mächtiges Reich zu machen, das sollte einen dann auch nicht mehr wundern. Und konsequenterweise hat sich weder die Mehrheit der damaligen Wähler, geschweige denn die Mehrheit seiner politischen Konkurrenten in den damaligen bürgerlich-demokratischen Parteien darüber gewundert. Selbst Letzteren hat nicht nur sein Programm eingeleuchtet, sondern auch, dass zu dessen Umsetzung die demokratischen Herrschaftsformen nicht mehr so recht gepasst haben; daher hat ihn ja auch die Reichstagsmehrheit – parlamentarisch korrekt – zu allen dafür nötigen Verfassungsänderungen ermächtigt.
Das bundesdeutsche Selbstverständnis und das der deutschen Politiker besteht jedoch darin – und beharrt unerbittlich darauf –, Hitler die politische Qualität bzw. die Berufsqualifikation als Politiker zu bestreiten, den Faschismus als eine dämonische Entgleisung zu verdammen.
Was sind Absicht und Nutzen dieser Ent-Politisierung des Faschismus? Wenn demokratische Politiker und Meinungsmacher sich mit dieser Herrschaftsform auseinandersetzen, dann sind sie sich in einem von vornherein sicher und wiederholen es unablässig: Der Faschismus kann nur das Gegenteil der von ihnen bevorzugten Art des Politikmachens sein. Umgekehrt steht damit die demokratische Herrschaftsform im Grundsatz außerhalb jeder Kritik, weil sie eben ganz und gar unvergleichlich mit dem Faschismus sei – und sie verdient darum, egal, was an jeweiliger Politik gemacht wird, und vor jeder Frage, wer von dieser Politik was hat oder – umgekehrt – davon geschädigt wird, einen ganz dicken Bonus. So darf man zwar an Taten und Programmen einer demokratischen Regierung herumkritisieren, aber für alles, was sie tut, hat sie eine unschlagbare Rechtfertigung, sie ist von der Mehrheit gewählt.
Die bundesrepublikanische „Vergangenheitsbewältigung“, zu der auch dieser Film und die Debatte über ihn ein Beitrag ist, verfährt nach dem immergleichen Schema: Es werden schonungslos die faschistischen Gräueltaten vorgeführt und es wird sich abgrundtief für eine schreckliche Vergangenheit geschämt; damit – was eben keine Analyse, sondern die Moral der Geschichte ist, auf die allein es ankommt – wird dann auf eine „Lehre“ zugesteuert: „Das darf nie wieder passieren!“ – Was eigentlich? Dass deutsche Politiker Deutschlands Macht und Weltgeltung vermehren wollen? Oder dass dabei einer, Hitler eben, mit seiner totalen Niederlage im 2. Weltkrieg, beim Gegenteil endete? Kein Wunder, dass Demokraten, wenn sie Hitler kritisieren, auf dessen Zweck, Deutschland nach dem verlorenen 1. Weltkrieg wieder mächtig zu machen und dafür das ganze Volk einzuspannen, kaum zu sprechen kommen, daran haben sie nämlich gar keine Kritik. Grundsätzlich wird ihre Verdammung des Faschismus nur durch ein bedingungsloses Lob der Demokratie: Sie ist, so wie sie steht und geht, angesichts der damaligen schrecklichen „Einmaligkeit“ eine einzige Institution zur Verhinderung solcher „schrecklichen Ereignisse“; dafür verdient sie im Kontrast zu diesem „Unerklärbaren“ ein ganz tiefes – und grundloses – Vertrauen und Lob.
Der Film „Der Untergang“ musste sich die Frage gefallen lassen: „Wird damit nicht der Faschismus verharmlost?“ Gegenfrage: Handelt es sich bei einem solchen Film und der schon routinemäßig ablaufenden „Vergangenheitsbewältigungs“-Debatte nicht um eine Verharmlosung der Demokratie?