Altersarmut

Alt zu werden können sich Normalverdiener einfach nicht leisten

Wer heute 25 ist, hat gute Chancen auf 50 bis 60 weitere Lebensjahre – statistisch gesehen. Fest steht allerdings jetzt schon, dass er oder sie im Alter sehr arm sein wird, wenn der Lebensunterhalt aus Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung bestritten werden muss. Deren Niveau (= das Verhältnis einer „Standardrente“ zum durchschnittlichen Einkommen der arbeitenden und Rentenbeitrag zahlenden Bevölkerung) sinkt kontinuierlich und mit zunehmender Geschwindigkeit: „Die Neurenten befinden sich seit Jahren im rasanten Sinkflug“ klagt der Sozialverband VdK. Bis 2030 sei eine Absenkung des Rentenniveaus auf 43 % geplant. Anders ausgedrückt heißt das, dass dann bei einem Einkommen von 3000 € 35 Jahre lang eingezahlt werden muss, um eine Rente in Höhe der heutigen Armutsgrenze (760 €) zu bekommen. (VdK-Zeitung 28.10.151)

Der „Generationenvertrag“, eine staatlich eingerichtete Zwangsumlage

122908_1_org_image_8061266713c0959b1a0e62770331ce97Dass viele Rentner schon jetzt und künftig fast alle von ihrer Rente nicht leben können, liegt ganz grundsätzlich an der politischen Konstruktion der Rentenversicherung, in der alle abhängig Beschäftigten während ihres Arbeitslebens und nach ihrem Eintritt ins Rentenalter als Angehörige einer Klasse organisiert sind: In dem 1957 eingeführten „Umlageverfahren“, dem sog. „Generationenvertrag“, werden die Renten direkt aus den Beiträgen finanziert, die von den aktiven Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt werden. Diese Beiträge müssen alle Lohn- und Gehaltsempfänger (und ein paar freiberuflich tätige Berufsgruppen) in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe entrichten; sie sind Zwangsbeiträge und dieser Zwang ist sehr nötig. Bei Einkommen, die unter der Beitragsbemessungsgrenze liegen, ist nämlich nicht zu erwarten, dass fürs Alter genug zurückgelegt wird. Das liegt nicht daran, dass die, die damit ihr gegenwärtiges Leben bestreiten müssen, fürs Alter nicht sparen wollen, sondern daran, dass ihnen ihr Arbeitgeber dafür von sich aus nichts gibt. Der bezahlt sie dafür, dass sie bei ihm Arbeit verrichten, wobei er bekanntlich zugunsten seines Profits die Löhne und Gehälter möglichst sparsam kalkuliert. Ob das reicht, ein Arbeitsleben durchzustehen, kommt in der kapitalistischen Lohnkalkulation nicht vor, und ein Leben nach dem Arbeitsleben ist in ihr erst recht nicht vorgesehen, damit also auch nicht vereinbar. Mit der als Zwangsversicherung eingerichteten Rentenkasse macht der Staat das dennoch möglich. Er tritt einer zerstörerischen Konsequenz kapitalistischen Rechnens entgegen, indem er ihre Bewältigung den Mitgliedern der armen Klasse zur Pflicht macht: Sie haften zwangssolidarisch füreinander, obwohl und gerade weil sie arm sind. Vom Lohn, der für den Einzelnen immer zu wenig ist, wird vor der Auszahlung ein gesetzlich vorgeschriebener Prozentsatz abgezogen – hälftig aufgeteilt als Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil. Die Lohnempfänger müssen mit den Prozenten, die ihnen verbleiben, zurechtkommen, und diejenigen, die das Rentenalter erreicht haben, müssen mit dem auskommen, was von den aktuell ausgezahlten Löhnen in die Rentenkasse abgeführt wird. So ist nicht nur das Leben der Lohnempfänger, sondern auch das der Rentenbezieher abhängig gemacht von der Lohnsumme, die die Unternehmen als lohnend kalkulieren. Die Rentner teilen also auch im Alter das Schicksal der lohnabhängigen Klasse, der sie während ihrer aktiven Jahre angehört haben.

Einzahlungen in die Rentenkasse und Auszahlungsansprüche an sie passen nicht zusammen, …

Die aus individuellen „Entgeltpunkten“ und Beitragsjahren errechneten Rentenansprüche der Versicherten addieren sich zu einer Summe, die mit der aktuell eingezahlten Summe der Rentenbeiträge höchstens zufällig zusammenpasst. Seit Jahrzehnten bleiben die Einnahmen der Kasse hinter ihren Auszahlungspflichten zurück. Dieses Missverhältnis gleicht die Regierung jährlich neu aus: Erstens durch Senkungen bzw. Erhöhungen der Lohnprozentsätze, die an die Rentenkasse abzuführen sind, zweitens durch die Änderung – inzwischen eindeutig Senkung – des Geldwerts der von den Versicherten erworbenen Entgeltpunkte, und drittens, indem sie bei dann noch verbleibendem Missverhältnis Mittel des Staatshaushalts zuschießt. Letzteres begründet sie zum einen damit, dass so die „versicherungsfremden Leistungen“ ausgeglichen würden, die sie der Rentenkasse aufbürdet. (Früher geschah das ohne Ausgleich aus dem Bundeshaushalt.) Zum anderen will der moderne Sozialstaat einer Erhöhung der Rentenbeiträge enge Grenzen setzen. Die berüchtigten „Lohnnebenkosten“, zu denen der Arbeitgeberanteil an diesen Beiträgen gehört, sollen nämlich tendenziell sinken, und so die Arbeit für die Unternehmen im Land rentabler und dadurch der nationale Standort konkurrenzfähiger werden. Beitragssteigerungen zur Erfüllung der Versorgungsansprüche der Rentner, die ja zur Hälfte von den Arbeitgebern bezahlt werden müssten und insoweit die Löhne verteuern, sind in Deutschland schon lange ein Tabu. Schließlich gleicht der Staat mit seinem Steuerzuschuss konjunkturelle Schwankungen der Beitragseingänge aus, um Renten auch in schlechten Jahren nicht absolut senken zu müssen. Im Maß dieses Zuschusses weicht er vom reinen Umlageverfahren ab – stets verbunden mit der Klage über die Last, die die versorgungsbedürftigen Alten seinem Haushalt verursachen.

… schon gar nicht, wenn die ausgezahlte Gesamtlohnsumme sinkt

Mit einem konjunkturellen Auf und Ab hat das in den letzten Jahrzehnten insgesamt wachsende Missverhältnis zwischen dem Beitragsaufkommen und den Rentenansprüchen allerdings nichts zu tun; und auch nichts mit dem „demographischen Wandel“, also damit, dass zu wenig Kinder geboren werden und zu wenig Alte rechtzeitig sterben. Mehr Nachwuchs bedeutet nämlich keineswegs mehr künftige Beitragszahler. Denn der Grund für das Missverhältnis sind Maßnahmen, die die Zahl der Beschäftigten und die an sie ausgezahlten Löhne verringern: Einerseits der Umstand, dass die Unternehmen bezahlte Arbeit bei sich effektivieren und relativ zu ihren Geschäftsumfang reduzieren, was zum Überflüssigmachen von Arbeitskräften führt; andererseits die „Lohnzurückhaltung“, die die Gewerkschaften zugunsten von Wachstum und Wirtschaftsstandort gezeigt haben. Drittens die durch die Agenda 2010 herbeiregierte Zunahme „prekärer Arbeitsverhältnisse“ mit Zeitarbeit und Leiharbeit sowie das immer weiter wachsende deutsche Niedriglohn-Segment. Zusammen haben diese Faktoren den Lohn und die aus ihm gezahlten individuellen Rentenbeiträge massiv gesenkt. Der Staat selbst schmälert die Finanzmasse der Rentenversicherung, wenn er seiner Arbeitsagentur erlaubt, für Millionen ALG II-Empfänger nicht mehr nur den mickrigen, auf die Höhe der Stütze berechneten Beitrag an die Rentenkasse zu überweisen, sondern auch davon nur noch die Hälfte.

Dann kriegen die Alten eben weniger …

Dem schwindenden Rententopf tragen Regierungen seit langem Rechnung, indem sie über verschiedene Stellschrauben die Rentenleistungen absenken. Drei größere „Anpassungen“ bringen das Gros der Absenkung des Rentenniveaus zuwege und sorgen dafür, dass die Renten, auch wenn sie einmal steigenden Löhnen folgen, in aller Regel nicht im selben Maß erhöht werden wie die Löhne.

  • Die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre (in Stufen von 2012 bis 2025) legt gesetzlich fest, dass Rentner erstens länger, also mehr einzahlen und zweitens bis zu ihrem Tod nur für kürzere Zeit, also insgesamt weniger Rente beziehen, wenn die Lebenserwartung nicht entsprechend dem späteren Renteneintrittsalter steigt. Praktisch macht sich die Verlängerung der Lebensarbeitszeit eher als Verminderung der Monatsrente geltend: Schließlich bleibt kaum ein Arbeitnehmer – aus Gründen der Gesundheit oder der betrieblichen Personalpolitik – bis zum gesetzlichen Verrentungszeitpunkt beschäftigt. Für jeden Monat des früheren Renteneintritts müssen saftige Abschläge auf die Vollrente hingenommen werden.
  • Vom Lohn, aus dem die Rentenanpassung errechnet wird, wird seit 2001 ein Vorsorgeaufwand infolge privaten Sparens abgezogen, der eine reine Rechengröße ist. Mit diesem „Riesterfaktor“ wird so getan, als hätten alle Arbeitnehmer eine private Riester-Rente abgeschlossen. Die Netto-Einkünfte der Arbeitnehmer verringern sich so rechnerisch um einige Prozente. Die Renten folgen damit einem Anstieg der Löhne nur gedämpft.
  • Der Nachhaltigkeitsfaktor, eingeführt 2004, liefert den zweiten Rechtsgrund für den gleichen Effekt: Er setzt die Anzahl der Beitragszahler, aus deren Aufkommen die Alten versorgt werden, ins Verhältnis zur Zahl der Rentner und lässt eine Verschlechterung dieser Relation gegen die Rentenhöhe ausschlagen.

Mit diesen drei großen und einer Reihe kleinerer Reformen haben die Arbeits- und Sozialminister der Republik, wie sie stolz verkünden, die Rente „zukunfts , krisen- und demographiefest“ gemacht, indem sie das Rentenniveau radikal vermindern.

… für eine ohnehin beitragsarme, weil löchrige Erwerbsbiographie

Das Ausrechnen von Durchschnittseinkommen und der Durchschnittsrente ist die eine Sache. Eine andere ist die individuelle Rente. Und da wird die auf das jeweilige Einkommen bezogene Vollrente immer öfter nicht mehr erreicht. Die Auflösung ordentlich entlohnter, kontinuierlicher, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse führt einerseits zu sinkendem Beitragsaufkommen und dem dadurch sinkenden allgemeinen Rentenniveau. Dieselbe Ursache zerstört die Kontinuität des Geldverdienens und der Beitragszahlungen in der individuellen Erwerbsbiographie. Zeit , Frist- und Minijobs, Niedriglohn mit und ohne Versicherungspflicht, Phasen der Arbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung, Scheinselbstständigkeit etc. sorgen dafür, dass das abgesenkte Rentenniveau für viele zum unerreichbaren Ideal wird: Viele Versicherte können in ihrem Arbeitsleben nicht genug „Entgeltpunkte“ für die Rente sammeln, sodass sie trotz Arbeit und Beitragszahlung im Alter eine gesetzliche Rente beziehen, die unter dem Niveau der staatlichen Grundsicherung (gegenwärtig 399 € + „angemessene“ Wohnungskosten) liegt.

Wer kein Geld fürs Alter hat, muss eben welches zurücklegen – ist das die Lösung?

altersarmut_2105765Und die Betroffenen? Die Mehrheit arbeitet und bezahlt Beiträge – und bekommt vorgerechnet, dass ihr Alter beschissen wird. Die anderen studieren erst mal in der keineswegs sicheren Erwartung, nach dem Hochschulexamen als Besserverdienende mit höheren Rentenversicherungsbeiträgen eine Anwartschaft auf eine überdurchschnittliche und damit vermeintlich auskömmliche Rente zu erwerben. Allerdings sinkt mit dem Rentenniveau auch das, was über dem Durchschnitt liegt… Allen wird erklärt, dass für sie im Ruhestand leider nicht mehr Geld da sein wird, weil die allgemeine Lohnentwicklung mehr Rente nicht hergibt und weil sie trotz schrumpfender Beschäftigtenzahl einfach nicht schnell genug sterben.

Den heutigen und viel mehr noch dem künftigen Rentnern wird klar gemacht, dass das Einkommen der durch die Pflichtversicherungsgrenze grob abgegrenzten Arbeiterklasse über ihre Versorgung im Alter entscheidet und dass dieses Gesamteinkommen für ein Leben auf bisherigem Niveau nicht mehr reicht. Ernst genommen bekommen die Lohn- und Gehaltsempfänger dieser Nation so mitgeteilt, dass die Gesamtlohnsumme für das ganze, das Alter einschließende Leben der Klasse aller Lohn- & Gehaltsempfänger nicht reicht.

Dagegen soll ein Gegenmittel helfen: Mehr individuelle Vorsorge! Ein schlechter Witz: Weil der Einzelne vom Lohn nicht für sein Alter sorgen kann, wurde schließlich die gesamte Klasse der Lohnabhängigen zur gemeinschaftlichen Versorgung der Alten gezwungen. Und wenn der Lohn dieser Gesamtheit dafür nicht mehr reicht, dann soll es nun wieder jeder Einzelne für sich hinkriegen können?

 

1 http://www.vdk.de/deutschland/pages/presse/vdk-zeitung/70223/die_altersarmut_wird_noch_groeszer_werden

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.