Deutsche Drangsale auf dem Weg zur globalisierten Nation
Der anhaltende Zustrom und die Menge der schon angekommenen Flüchtlinge aus zahlreichen Kriegs- und Armutsregionen der Welt regt Deutschland ziemlich auf. Den Forderungen nach Schließung der Grenzen und Änderung der Asylpraxis, Ausweisung illegal Eingereister oder zumindest Einführung einer Höchstzahl für Einwanderer hält die Bundeskanzlerin seit Monaten ihren Standpunkt entgegen: Eine Abschottung der deutschen Grenzen sei praktisch nicht machbar und politisch nicht erwünscht, der auch von ihr als problematisch erachtete Massenzustrom müsse langfristig, mit den Partnerstaaten in und außerhalb der EU geregelt werden, eine Obergrenze für Zuwanderer könne und wolle sie deshalb derzeit nicht benennen; zumal sie weiterhin der Überzeugung sei, „dass wir das schaffen“.
I. Von Asylfragen zur Bewältigung des Weltflüchtlingsproblems
All die Besorgten, die eine Überforderung Deutschlands mit den bevorstehenden Aufgaben der wirtschaftlichen, sozialstaatlichen und sittlichen Eingliederung befürchten, vor allem die des deutschen Volkes beim Aushalten so vieler zusätzlicher Fremder, verweist die Kanzlerin auf einen übergeordneten Gesichtspunkt, der den Bedenkenträgern die Alternativlosigkeit ihrer Politik klarmachen und verdeutlichen soll, was da eigentlich in Gestalt der Flüchtlingswelle auf sie zukommt: „Wenn die Globalisierung zu uns kommt, können wir uns nicht wegducken.“
Die Bewältigung der Probleme mit den schon angekommenen und noch auf dem Weg befindlichen Flüchtlingsmassen, die auf ein Aufgehen ihrer verzweifelten Berechnungen vor allem im Geltungsbereich des deutschen Asylrechts hoffen, ist für die Kanzlerin als deutsche Konfrontation mit einem Weltproblem zu deuten, das wir zu lösen haben. Diese Beurteilung der Flüchtlingsströme als Moment einer weltumspannenden Entwicklung sieht Deutschland betroffen, schreibt der Nation aber offenbar fraglos ein weltpolitisches Format zu, das es für sie unumgänglich macht, sich den Ereignissen aktiv zu stellen.
Ein Grundrecht für alle Fälle
Dass die Beantwortung inländischer Asylrechtsfragen – wäre eine Obergrenze für Asylsuchende verfassungsgemäß? Kann man überhaupt „ultra posse“, über das eigene Können hinaus, aufnahmepflichtig sein? – dabei eher eine untergeordnete Rolle spielt, macht schon der Verweis Merkels auf den entschieden supranationalen, ja globalen Charakter der Problemlage klar, der für sie die Perspektive deutschen Handelns vorgibt. Dabei ist aber der imperialistische Blick in die Welt von Hause aus dem Asyl-Grundrecht als sein speziell abgefeimtes Konstruktionsprinzip eigen: So hat etwa das antikommunistische Nachkriegsdeutschland dieses „subjektive“, also von jedermann wahrnehmbare Grundrecht im Prinzip der ganzen Menschheit geschenkt. Vor allem aber war es natürlich dem Teil der Menschheit gewidmet, der damals im kommunistischen Völkergefängnis einsaß, bisweilen und in überschaubarer Anzahl in den Westen rübermachte und dort als Kronzeuge demokratischer Freiheit und sowjetisch-illegitimer Herrschaft gerne aufgenommen wurde; womit stets aufs Neue die schöne Verwobenheit von individuellem Grundrecht und politisch subversiver Einmischung in der immerwährenden Anklage gegen die Herren des Gulag zum Tragen kam.
Selbstverständlich waren es nie die menschenrechtlichen Ideale des Asylrechts, die den demokratisch verfassten Staaten eine kritische Haltung zu den Herkunftsländern der Asylsuchenden aufnötigten. Die ideelle Zuständigkeit, die sie sich mit dem Grundrecht auf Asyl für die Beurteilung und gegebenenfalls Delegitimierung auswärtiger Herrschaften herausnehmen, ist eben etwas anderes als deren Anwendung, die sich immer aus aktuellen Berechnungen ergibt und deren Gewicht ganz an der Macht hängt, die dahintersteht, und an der Weltlage, die das erfordert und zulässt. Und beides ist noch einmal etwas anderes als die Abwicklung einer Massenmigration mit den hergebrachten Verfahrensweisen des Asylrechts, die absurde Züge annehmen, wenn in millionenfachen rechtsstaatlichen Einzelfallprüfungen individuelle Asylgründe ermittelt werden sollen…
Die deutsche Weltflüchtlingsmacht entwickelt Ordnungsbedarf
Auch für Merkel sind es nicht asylrechtliche Drangsale, die ihre Agenda bestimmen, wenn sie an der Spitze der deutschen Regierung beschließt, den nicht bestellten massenhaften Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland und Europa auf ein neues weltpolitisches Niveau zu heben. Der Formalismus des Asylrechts – es sieht keine Obergrenze bei Asylbewerbern vor – dient da umgekehrt und noch nicht einmal entscheidend als ein Argument bei der politischen Definition der eigenen Auftragslage.
In der ist die derzeitige großräumige Fluchtbewegung aus Afrika, Nahost und dem westlichen Asien eingeordnet als Anlass für die Neuordnung der Weltlage, die sie hervorgebracht hat, und als lebendiger Beweis für ihre Dringlichkeit, die über das bloße Verteilen, Verstauen und Versorgen der wandernden Massen weit hinausgehen soll. Indem die Berliner Regierung ihr Flüchtlingsproblem, das der Chef aller Ungarn unlängst einfach zu einem „Problem der Deutschen“ erklärt hat, zum Weltflüchtlingsproblem und dieses zu einer Erscheinungsweise der Globalisierung hochstuft, die die Völkergemeinschaft solidarisch zu bewältigen habe, positioniert sich Deutschland im Rahmen dieser globalen Gemeinschaftsaufgabe als Führungsmacht: Es präsentiert sich als einer der Hauptbetroffenen von den Lasten, die die Problemlage mit sich bringt, deshalb zuständig für die Anleitung dringend anstehender Regelungen sowie bereit und angesichts seiner Potenzen in der Lage zu substantiellen Beiträgen dazu.
Über den imperialistischen Gehalt ihrer Selbstpräsentation lässt die deutsche Führung den Rest der Welt nicht im Zweifel. Deutschland ist längst mehr als die notorische Weltexportmacht: Es hat als Rettungsanker der Euro-Zone seine Erpressungsmacht bei der Rettung der zweiten Weltwährung und der Disziplinierung europäischer Schuldenstaaten bewiesen, für die Zuordnung der Ukraine zur EU offensiv den Konflikt mit Russland gesucht und beim Aushandeln des Iran-Deals auf Augenhöhe mit den anerkannten Weltordnungsmächten agiert. Durch die interkontinentalen Fluchtbewegungen sieht sich Deutschland auf den Plan gerufen und auch dafür zuständig, Verantwortung für die Folgen der Kriege der USA zu übernehmen: Den davon in Bewegung versetzten Teilen der Weltbevölkerung sind endlich neue Plätze anzuweisen und Perspektiven für die Zukunft ihrer alten Heimatländer zu geben.
Deutschland trachtet danach, sich die praktisch wirksame Definitions- und Exekutionsgewalt einer echten Ordnungsmacht über Teile der Weltlage zu erwirtschaften, indem es das ausdrückliche deutsch-europäische Interesse an der Flüchtlingsfrage in den weltmächtigen Gremien der G7, G20 und der UN vorlegt, zum global wichtigen Verhandlungsgegenstand macht und bei Flüchtlingsfragen längst nicht Halt macht: Schließlich weiß man, dass der Syrienkrieg eine der Hauptquellen des Flüchtlingsstroms nach Europa ist, weshalb der deutsche Außenminister längst mühelos von Flüchtlings- zu Kriegsfragen gefunden hat und nicht nur dazu aufruft, endlich „Schluss mit dem Drei-Fronten-Krieg“ in Syrien zu machen, und „Syriens IS-Gegner vereinen will“, sondern seine Appelle durch eine intensive Reise- und Konferenz-Diplomatie unterstützt. Mit dem Übergang von der nationalen Betroffenheit als Fluchtpunkt der Armuts- und Kriegsflüchtlinge zur imperialistischen Generalzuständigkeit für eine internationale Problemlage, die die halbe Welt betrifft, kommen nicht nur Definitionen dessen in die Welt, worin demnächst die Agenda der wichtigen und weniger wichtigen Weltordner in und außerhalb der EU zu bestehen hätte, sondern auch lauter neue Bestimmungen und Kategorien von Staaten, von denen die selbst zuvor noch nie gehört haben: Das vom Krieg der westlichen Sponsoren und ihrer regionalen Parteien zerstörte Syrien gerät da in den Blick als ein Land, in dem – wie auch in vielen afrikanischen Ländern – zwar sonst nicht viel, dafür aber massenhaft Fluchtgründe produziert werden, weshalb endlich über den dortigen Staatschef und das Schicksal der zerstrittenen Opposition zu befinden wäre. Der Türkei, die uns als Flüchtlingsaufbewahrungsland gute Dienste erweist, wird vorderhand sogar ihr totalitärer Wahlsultan nachgesehen und der mit Geld und EU-Perspektiven zu weiterer konstruktiver Flüchtlingsverwaltung angehalten. Europäische Peripherie-Staaten werden ganz ihrer Funktion als Grenzgemarkungen des Schengen-Raums subsumiert, die Staaten des „Westbalkan“ als Transitstaaten eingeordnet und alle werden reichlich mit gut und sehr ernst gemeinten Vorschlägen zur Verbesserung des Flüchtlingsmanagements und zur funktionellen Verwendung ihrer Staatsmacht versorgt, deren Nichtbefolgung sie sich gut überlegen sollten…
Das erhellt mit Bezug auf das Asylrecht, dass der mit seinen Rechtskriterien ins imperialistische Werk gesetzte kritisch sortierende Blick auf die „Herkunftsstaaten“ der Welt mit der neuen Lage wenig zu tun hat. Wer als Ordnungsmacht an entscheidender Stelle ein „Weltflüchtlingsproblem“ regeln und Platzanweiser für vertriebene Teile der Weltbevölkerung sein will, der sortiert ihre alten Heimatländer eben nicht mehr vorrangig danach, ob ihm die dortigen Herrschaften mit ihrem jeweiligen, dort gepflegten Regierungsstil passen, sondern danach, welche Probleme sie mit ihrer Herrschaft für die Benutzungs- und Sicherheitsbedürfnisse der Weltordnungsmächte aufwerfen.
II. Die Flüchtlinge im Gastland:
„Ein Zustrom, der Deutschland verändern wird!“
Die Massenmigration, die Deutschland zum Gegenstand seiner weltpolitischen Verantwortung macht, landet im Inland als eine große Zahl von Fremden. Die müssen nach dem Willen Frau Merkels von Staat und Bevölkerung auf- und angenommen werden, was eine Herkulesaufgabe sei, die das Land auf Jahre hinaus beschäftigen werde, vergleichbar nur mit der Wiedervereinigung oder der Eingliederung der 13 Millionen Volks- und Reichsdeutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und Osteuropa vertrieben wurden.
Merkel: „Wir schaffen das!“ – und beweisen uns damit als mitfühlende und global verantwortliche Nation
Die Kanzlerin, die ihrem Land die große Aufgabe stellt, bekennt sich mit keinem Wort zu einem Kalkül, das sie mit der Aufnahme der Flüchtlinge verbinden würde. Sie präsentiert sie als eine durch fremde Not begründete menschliche Selbstverständlichkeit, bei der sich politische Berechnungen ebenso verbieten wie Klagen über die damit verbundenen Belastungen. Sie will da nichts begründen oder rechtfertigen müssen:
„Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Das Warum und Wozu der Aufnahme der Flüchtlinge sieht sie mit dem Verweis auf die Unaufhaltsamkeit des Migrantenstroms sowie auf das freundliche Gesicht, das ihr Land sich schuldig sei, abschließend beantwortet. Deutschland hat da keine Wahl: Es muss der Lage und seinem eigenen Humanismus gerecht werden. Alles Problematisieren hat sich konstruktiv um die Bewältigung des Ansturms zu drehen, zu der sie eben ihre optimistische Parole ausgibt.
Dabei ist es wirklich nicht so, dass Flüchtlingsabwehr, Sortierung der nicht Abgewehrten und Abschiebungen unterbleiben würden. Und was den nicht gestoppten Strom von Zuwanderern via Türkei und Balkanroute betrifft, so gibt es genügend wichtige Politiker im Land, die Menge und Tempo des Zustroms zu hoch finden. Die Überprüfungsverfahren werden beschleunigt, rechtliche Barrieren gegen Abschiebung beseitigt, Hindernisse für bislang erlaubten Familiennachzug geschaffen und weitere erwogen, Subventionen lockergemacht für den „Schutz der EU-Außengrenzen“ und die Einrichtung von Außenlagern, in denen Migranten und Bürgerkriegsflüchtlinge gemäß ihrer unveräußerlichen Menschenwürde wirklich nur verstaut werden… Umso auffälliger ist die Weigerung der Chefin, eine Obergrenze für die Zahl der „Zufluchtsuchenden“ festzulegen; die Zurückstufung ihrer Grenzöffnung zu einem begrenzten, ausnahmsweisen Akt der Schutzgewährung lässt sie nicht zu und auch nicht das Bekenntnis, dass der Zustrom Deutschland überfordert. Wenn sie konzediert und man sich einig wird in Berlin, dass die Zahlen in den kommenden Jahren im sechsstelligen Bereich bleiben müssen, nachdem im laufenden Jahr die Millionengrenze schon überschritten ist, und wenn eine der zukunftsweisenden Maßregeln lautet, man wolle aus illegaler Massenzuwanderung eine legale nach Kontingenten machen, dann zeugt das von einem Konsens darüber, dass die Republik sich auf eine anhaltende Zuwanderung aus gewissen „Krisengebieten“ einzustellen hat: Die ist nicht bestellt, aber da. Und sie soll, wie gesagt, bewältigt werden.
Was damit gemeint ist, das machen die mittlerweile geplanten, zum Teil bereits ins Werk gesetzten Maßnahmen unter dem Motto „Wir schaffen das!“ schon recht deutlich, erst recht die acht Milliarden, die dafür im Bundeshaushalt bereits eingeplant sind; und die Vorwürfe, es fehle ein der Lage angemessener „Masterplan“, bestätigen es: Für die Masse der Flüchtlinge geht es nicht, wie immer mal wieder gefordert, um abschreckende Aufbewahrung bis zu einer „zeitnahen“ Abschiebung, sondern um Integration. Auch wenn deren Aufenthaltsrecht formell erst einmal auf – immerhin – drei Jahre begrenzt ist: Man rechnet damit, dass die einmal Aufgenommenen zum großen Teil bleiben werden, lässt sie deshalb Deutsch lernen und bringt ihnen deutsche Gesetzestreue und landesübliche Sitten bei. Kitas, Schulen und Unis werden darauf vorbereitet, eine ganze Generation von Fremden ins Alltagsleben der Republik einzubauen. Vielsagend der Beschluss, das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ unter einer einheitlichen Führung mit der Arbeitsagentur zusammenzulegen: Die Neuankömmlinge sollen arbeiten; nicht nur, weil sie für sich selbst sorgen und der Staatskasse möglichst wenig zur Last fallen sollen, sondern weil die Regierung davon ausgeht, dass die Erwerbsarbeit von entscheidendem moralischem und erzieherischem Wert, eben die eigentliche Integration ins Volk ist und die beste Gewähr dafür bietet, dass die Einwanderer keine Parallelgesellschaften bilden.
Das alles ist mehr als eine defensive Reaktion auf eine Notlage. Bei allem Geseufze über die Last, die der Flüchtlingsstrom darstellt: Faktisch bezieht sich die Staatsgewalt darauf als einen nicht unbedeutenden, nach vorne offenen Zuwachs an Volk. Sie rüstet Deutschland ein Stück weiter auf – auch wenn die C-Fraktion das noch immer nicht in einem Gesetzestext lesen will – zum Einwanderungsland. Und sie findet dafür expliziten Zuspruch weit über den Kreis bunter Aktivisten einer „Willkommenskultur“ mit „freundlichem Gesicht“ hinaus. Arbeitgeber können mit den Flüchtlingen allemal etwas anfangen – besonders wenn man ihnen die Bezahlung des Mindestlohns erlässt. Die Bundeswissenschaftsministerin erinnert anlässlich der Entdeckung von Akademikern unter den Fremden an das grobe Missverhältnis, dass Deutschland, die weltweit viertgrößte Wirtschaftsmacht, kaum mehr als 1 % der Weltbevölkerung besitzt und deswegen Zugriff auf die Intelligenzia der Welt braucht. Bevölkerungswissenschaftler und Praktiker des Arbeitsmarkts „begrüßen“ mit Nachdruck Zuwanderung jeglicher Art: Nur sie könne die alternde Gesellschaft verjüngen, das „demographische Problem“ lösen, dem Pflegenotstand und dem Facharbeitermangel entgegenwirken. Der Finanzminister höchstpersönlich gibt nicht bloß Geld, sondern programmatisch bekannt:
„… denken wir auch daran, die demographische Entwicklung ist das mit Abstand größte Strukturproblem für unser Land, für die Wirtschaft und für die sozialen Sicherungssysteme. Ich weiß gar nicht, wie wir damit klarkommen wollten ohne Zuwanderung. Wir brauchen also Zuwanderung.“ (Schäuble in der FAZ vom 14.9.2015)
Und die Kanzlerin entschließt sich auch noch zu einem gewissen Klartext, wenn sie den Zustrom so vieler Ausländer aus den Niederungen partikularer und spezieller Nutzenerwägungen heraushebt und in einen denkbar grundsätzlichen Zusammenhang einordnet:
„Ich plädiere dafür, dass wir unter den Bedingungen der Globalisierung uns in gewisser Weise öffnen müssen und auch verschiedene kulturelle Prägungen kennenlernen müssen. Wir haben inzwischen Zuwanderungsregeln ja auch als CDU akzeptiert für viele Mangelberufe, wo wir selbst Fachkräfte brauchen. Trotzdem ist das natürlich nochmal zu unterscheiden jetzt von den Flüchtlingen, die vor Bürgerkrieg fliehen. Ich gehöre nur zu denen, die sagen: Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist, dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken und muss natürlich versuchen, auch faire Verteilung in Europa zu haben und Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Aber mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang.“ (Merkel im Deutschlandfunk)
Ohne ihren skeptischen Anhang aus dem Auge zu verlieren, arbeitet die Kanzlerin sich von dem defensiven Gesichtspunkt der zu schulternden Last hin zur Einsicht in eine Notwendigkeit höherer Art: Deutschland ist zu groß und zu mächtig, ist viel zu sehr Aktivist und Profiteur der „Globalisierung“, als dass es in der Bevölkerungsfrage auf Abschirmung setzen könnte. Sie macht einen Standpunkt geltend, der die Zusammensetzung des deutschen Volkskörpers ohnehin schon seit längerem bestimmt: Eine Weltmacht, die in jeder Hinsicht über ihre nationalen Grenzen hinaus ausgreift, muss auch hinsichtlich ihrer menschlichen Ressourcen offen sein. Unter diesen Standpunkt – das ist der innenpolitische Gehalt ihrer Ansage „Wir schaffen das!“ – will sie, so wie bisher schon Millionen eingedeutschte Türken und Russen, auch den neuesten Flüchtlingsstrom subsumiert wissen. Dafür macht Frau Merkel Stimmung, auf ihre Art: Ihre xenophoben Parteigenossen sollen „nicht hadern“, und die guten Deutschen insgesamt sollen Stolz entwickeln auf ihr wunderbares Land, das sich weltweit als Vorbild an Humanität präsentiert und das auch über die Mittel und die bürokratische Effizienz verfügt, die edle Gesinnung in die Tat umzusetzen. Eine Million Zuwanderer im Lauf eines halben Jahres halbwegs erträglich unterzubringen: Welches Land kann das noch? Merkel stellt ihren Bürgern das Kompliment vor Augen, das die Flüchtlinge diesem „gelobten Land“ machen: „Deutschland ist das beliebteste Einwanderungsland geworden!“ „Das war nicht immer so!“ setzt sie hinzu und empfiehlt den Beliebtheitswandel ihres Vaterlandes seit den Tagen, als die Welt vor den Deutschen davonlaufen musste, als guten Grund, sich mit ihm zu identifizieren. Die vielen Freiwilligen, die bei der Aufnahme der Flüchtlinge mit Hand anlegen, stellt sie den Landsleuten als Vorbilder hin: Was immer deren Mitgefühl und Hilfsbereitschaft motiviert haben mag, die Kanzlerin präsentiert sie als Repräsentanten des zeitgemäßen Nationalgeistes: Das sind die wahren Deutschen, die ohne Vorurteile gegen Menschen aus anderen Ländern, tolerant gegen fremde Sitten und Religionen mit anpacken, wo Not am Mann ist, die weltoffen sind und internationale Verantwortung übernehmen. Diese Selbstauffassung des nationalen „Wir“ wird der globalen Rolle des Landes gerecht.
Seehofer und die CSU:
„Die Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft nicht überfordern!“
Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin verändert ihrer Ankündigung zufolge das Land. Wie sehr und vor allem in welcher Hinsicht, das ist mehr dem Widerstand zu entnehmen, der ihrer Politik je länger desto härter entgegenschlägt, als ihren Stellungnahmen, in denen vorwiegend menschliche Hilfsbereitschaft und das freundliche Gesicht einen Platz haben. Der Widerstand kommt aus ihrer eigenen Fraktion, besonders von der bayrischen CSU und ihrem Chef.
Auf den ersten Blick muss man die Forderungen des Ministerpräsidenten Seehofer so verstehen, dass er Merkels Zuwanderungspolitik stoppen, Flüchtlinge von den Landesgrenzen fernhalten und schon eingereiste möglichst zahlreich zurückschicken möchte. Die von der CDU/CSU-Fraktion seit dem Sommer durchgesetzten oder geforderten gesetzlichen Maßnahmen zur Vergrämung der Migranten – Einschränkung der Bewegungsfreiheit bestimmter Flüchtlinge, Reduktion der für sie bestimmten Leistungen, Ausschluss des Familiennachzugs, konsequentes Abschieben derer, bei denen das rechtlich möglich ist, Erklärung immer neuer Fluchtregionen zu sicheren Herkunftsländern – gehen in diese Richtung und sollen vom Publikum, an das die C-Parteien sich richten, auch so verstanden werden.
Die Hauptforderung allerdings, die Seehofer immer wieder ultimativ stellt, ist ambivalent: Er will eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen – und das, ohne dass er sich auf Zahlen, also auf eine bestimmte Grenze festlegt. Dazu kommt, dass er die weltpolitische Positionierung der Kanzlerin nicht zurückweist: Natürlich müssen „Wir“ als ein reiches Land Flüchtlinge aufnehmen; Bayern – betont er gerne – leiste da Vorbildliches. Das aber habe nach einer Maßgabe zu geschehen, die Deutschland festlegt und die berücksichtigt, was gut und verkraftbar für das Land ist. Unerträglich findet er, was er „Chaos an unseren Grenzen“, einen „Kontrollverlust des Staates“ nennt, der nicht mehr wisse, wer da alles ins Land kommt. Die Kollegin mit der Richtlinienkompetenz lasse zu, dass die Staatsorgane das Geschehen nicht im Griff haben, und vergeige damit die allerwichtigste Staatsleistung, auf die das Volk ein Recht hat: die Souveränität der Macht und die Sicherheit der Nation. Der Staat kann im eigenen freien Ermessen Not leidenden Ausländern schon eine Gunst erweisen, aber es geht nicht an, dass er dabei nicht Herr der Lage ist und die Flüchtlinge selbst über ihre Einreise bestimmen. Nicht statt der Einwanderung, sondern bei der Einwanderung hat der Staat nach seinem Bedarf und im Interesse seiner Bürger zu entscheiden und darf sich nicht – da nimmt Seehofer die defensive Tonlage der Kanzlerin in polemischer Absicht ernst – dem unaufhaltsamen Strom der Flüchtlinge ergeben.
Die feste Obergrenze fordert er als den Prüfstein, an dem sich zu beweisen hat, dass die Regierung sich von den Flüchtlingen nichts diktieren lässt, sondern umgekehrt die „Grenzen der Belastbarkeit“ der aufnehmenden Gesellschaft im Auge behält. Auch die darf man erst einmal ganz praktisch verstehen: Als Fälle von Überforderung präsentiert Seehofer gestresste Behördenleiter aus den Grenzregionen, Bürgermeister, die keine ungenutzten Immobilien mehr auftreiben können, und Helfer am Ende ihrer Kräfte. Dass die Überforderung, die er wirklich meint, auf einer anderen Ebene liegt als seine lokalen Beispiele, macht er selbst deutlich, wenn er im Bereich seiner Zuständigkeit vorführt, wie dehnbar Grenzen der Flüchtlingsverwaltung sind, sobald der Staat sie mit Geld, neuem Personal und Bürokratie ausweitet. Die Grenze der „Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft“ ist etwas anderes, die will er nicht verschieben, sondern respektiert sehen. Sie ist gezogen von der Bereitschaft der Deutschen, Ausländer als Nachbarn, im Alltag und im Stadtbild auszuhalten. Was hat es mit dieser offenbar nicht sehr strapazierfähigen Toleranz auf sich?
Patriotische Staatsbürger finden sich allemal dadurch in ihrem Gemeinwesen gut aufgehoben, dass sie sich zum hier bestimmenden Kollektiv zählen, dessen Sitten und Lebensgewohnheiten die Normen setzen, denen der Staat dient und Geltung verschafft. Verschiedene Parteien samt Anhang im Land pflegen diesen Kollektivismus allerdings auf ganz unterschiedliche Weisen. Eine davon – und das ist die, zu deren Schutzherrn der bayrische Ministerpräsident sich erklärt – geht so, dass Menschen die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft, in der sie sich durchschlagen, in ihrer lokalen Ausprägung als die Lebensform kennen und schätzen, die zu ihnen passt, weil sie genauso wie Eltern und Ureltern sich immer schon eingereiht und angepasst haben. Diese heimatliche Verankerung sehen sie herausgefordert durch Teile der Bevölkerung, die nach anderen als den ortsüblichen Sitten neben ihnen leben und allein dadurch die Verbindlichkeit der hergebrachten Lebensart relativieren. Speziell bei „Fremden“ reicht oft schon das abweichende Erscheinungsbild – und dass man sie nicht versteht – für den Verdacht, dass sie sich nicht an die Sitten anpassen wollen, mit denen die Einheimischen zwar auch nichts anderes als ihre Unterwerfung unter die Anforderungen der herrschenden Verhältnisse bewältigen – aber so machen sie eben aus ihrer Unterwerfung eine Lebensweise, die ihnen als ordentlich und insofern zu Recht verbindlich gilt und die sie zu einer gewissen Verachtung aller anderen berechtigt, die sich zwar genauso wie sie um nichts als um Gelderwerb, beruflichen Erfolg, Kompensation in der Privatsphäre und einen Sinn im Leben bemühen, sich dafür aber andere Manieren zugelegt haben. Als bekennende Einheimische, die wie alle braven Staatsbürger die Lösung ihrer größeren Lebensprobleme von ihrer Obrigkeit erwarten, legen sie der – natürlich nicht die Sach- und sonstigen Zwänge der Konkurrenz, um die herum sie ihre heimatlichen „Normen und Werte“ stricken, vielmehr – die gefühlte Infragestellung, ja Beleidigung ihrer guten Sitten durch Fremde zur Last. Ganz gleich, ob die ihnen irgendetwas streitig machen: Leute, die nicht „von Haus aus“ dazugehören, stören schon durch ihre allemal zu zahlreiche Anwesenheit – unverdächtige Einzelexemplare lässt man sich ja allenfalls gefallen… In ihrem fordernden Glauben an ihre Herrschaft als die Instanz, die ihnen als dem durch die herrschenden Lebensgewohnheiten als das eigentliche und einzig wahre ausgewiesenen Volk verpflichtet wäre und dessen Machart gegen Überfremdung zu schützen hätte, sind sie dann oder – vor allem – geben sie sich sehr offensiv verunsichert.
Tatsächlich können derartige Friktionen zwischen einem selbstbewusst heimattreuen Volk und seiner Führung nie ausbleiben. Und das nicht wegen zufällig und unbestellt hereingeschneiten Flüchtlingen, sondern weil die politische Verwaltung eines modernen Kapitalstandorts anderen Erfolgskriterien folgt als dem volkstümlichen Ideal, sich beim Mitmachen im bürgerlichen Lebenskampf wenigstens in den eigenen heiligen Gewohnheiten nie groß umstellen zu müssen. In ihrem Einsatz für den nationalen Konkurrenzerfolg setzt die Staatsgewalt immer wieder neue Bedingungen für Arbeit und Leben unter der Regie des Kapitals; sie entzieht auch manchen etablierten Formen des Zurechtkommens bisweilen ihren Schutz, fördert andere und mutet ihrer menschlichen Ressource sogar neue Lebensmaximen zu. Irgendein Volksteil ist daher immer in seinem zur Norm verhimmelten Lebensstil irritiert und sehr geneigt, seiner Herrschaft die eigene Irritation übel zu nehmen. Und jetzt findet eben ein nicht unbeträchtlicher Teil eingeborener – und sogar ein guter Teil eingemeindeter – Deutscher, dass ein Land voller Kopftuchträgerinnen, Minarette und fremdsprachiger Passanten selbst dann nicht mehr „ihr Land“ sein kann, wenn davon gar nicht viel zu sehen ist. Ein Teil von denen fühlt sich von einer Regierung, die noch mehr Fremde ins Land lässt, im Stich gelassen; ein anderer behauptet, er wäre „das Volk“ und als solches „verraten“.
Seehofer sieht die Gefahr, dass dieses völkische Rechtsbewusstsein sich bei CDU und CSU nicht mehr gut aufgehoben findet. Wachsende Zahlen von Pegida-Demonstranten, Wahlprognosen, die der AfD 10 % und mehr zurechnen, sowie sinkende Beliebtheitswerte der Kanzlerin bestätigen ihm, dass das Vertrauen nicht unbedeutender Teile des Volkes in den Staat als Schutzmacht ihres Volkstums beleidigt und erschüttert wird, wenn der Millionen Fremde ins Land lässt, die dann auch gleich zu „uns“ gehören sollen. Diese Deutschen und ihr Recht auf Heimat darf die Regierung nicht ignorieren. Ihnen verspricht Seehofer – und das verschiebt deren Anspruch auf Vorzugsbehandlung schon auch –, beim Hereinlassen der Fremden auf Maß und Ziel und bei ihrer Integration darauf zu achten, dass die sich an uns – und wir uns überhaupt nicht an die anpassen müssen. Dass der Chef des bayrischen Politchristentums als unverzichtbaren Kernbestand deutscher Sittlichkeit so Sachen wie religiöse Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter und Respekt vor Schwulen und Lesben beschwört, ist einerseits ein Treppenwitz, in seiner Stoßrichtung andererseits selbst für das befangenste Parteimitglied leicht zu verstehen: Es geht ja nicht um seine Gesinnung, sondern darum, dem zugewanderten Moslem ein Stoppschild entgegenzusetzen und auf gründlicher Gehirnwäsche als Zulassungsvoraussetzung zu bestehen. So verkauft Seehofer seinem Publikum national-kulturellen Überlegenheitsdünkel als Palliativ gegen die Verwässerung der Heimat, die ihm in seinem weltmächtigen Deutschland nun einmal nicht zu ersparen ist.
Gauck oder die große Frage: „Was ist denn das innere Band,
das ein Einwanderungsland zusammenhält?“
Die tiefgreifenden Veränderungen, die die Kanzlerin dem Land ansagt, und der politische Widerstand, den sie sich einfängt, beziehen sich weniger auf das wirkliche demographische Schicksal der Nation; das macht so oder so seine Fortschritte im Zugriff auf menschliche Ressourcen aus aller Welt; mehr auf den praktizierten Nationalismus, die Gewohnheiten und Normen des landesspezifischen Umgangs mit den Existenzbedingungen, den Zwängen und Zumutungen der ohnehin fortwährend „revolutionierten“ deutschen Klassengesellschaft. Da mag es schon so sein, dass die völkische Version des Nationalismus schlecht zu Erscheinungsbild und Alltag der globalisierten Republik passt, die ja nicht erst seit gestern Menschen aus aller Welt anzieht und in ihre Gesellschaft einbaut. Aber erstens hält eine sozial friedliche kapitalistische Klassengesellschaft es ganz gut aus, wenn unterschiedliche, zu „Lebensentwürfen“ idealisierte Anpassungsstrategien aneinander vorbei existieren und um Anhänger konkurrieren. Zweitens behält in dem Wettstreit auch die xenophobe Heimatliebe ihr Recht, darf mit ihrer Sorge um die „nationale Identität“ zu dieser beitragen und kann durchaus, wie man an Seehofer sieht, auf ihre Weise mit der „Globalisierung“ des Kapitalstandorts Deutschland Schritt halten – auch der gemäßigte Fremdenfeind gewährt, wenn sie sich bis zur Unkenntlichkeit assimilieren, friedlichen Asylanten ein Daseinsrecht. Drittens hat die Republik der Exportweltmeister, die ihre Freiheit seit vielen Jahren am Hindukusch verteidigt, schon längst die Sorte ehrlichen Nationalstolz hervorgebracht, auf die Frau Merkel sich beruft, wenn sie ‚ihrem Land‘ ein auch für Ausländer „freundliches Gesicht“ abverlangt: Genügend Leute – nicht nur die erklärtermaßen „bunte“ Szene – sind bereit, die deutsche Klassengesellschaft im Namen der in ihr herrschenden Nettigkeiten für ein Sommermärchen der Völkerfreundschaft zu halten und sich dafür von ihrer Kanzlerin loben zu lassen. Und viertens kommt es für eine demokratische Staatsgewalt – so Deutschlands höchster Repräsentant – ohnehin mehr darauf an, dass man aus dem Glauben an sie als Höchstwert seine persönliche Identität gewinnt, als auf Äußerlich- und Zufälligkeiten des Geburtsorts:
„Was ist es, das uns verbindet und verbinden soll? In einer offenen Gesellschaft kommt es nicht darauf an, ob diese Gesellschaft ethnisch homogen ist, sondern ob sie eine gemeinsame Wertegrundlage hat. Es kommt nicht darauf an, woher jemand stammt, sondern wohin er gehen will und mit welcher politischen Ordnung er sich identifiziert.“ (Rede am 3.10.15)
Immerhin ist die nationale Flüchtlingsfrage von hinreichendem Gewicht, um die Konkurrenz der patriotischen Gesinnungen zu beleben: „Heimat und Leitkultur“ oder „Humanität und Weltoffenheit“ – was steht Deutschland besser zu Gesicht? Und diese Konkurrenz ist immerhin gewichtig genug, um in der demokratisch entscheidenden, nämlich der Macht- und Durchsetzungsfrage eine ungewohnte Front aufzureißen: zwischen der Chefin der regierenden C-Gruppe und Unzufriedenen innerhalb der eigenen Partei sowie vor allem beim bayrischen Ableger. Auf einmal erscheint die „Teflon-Kanzlerin“ nicht mehr unanfechtbar und Spielraum gewonnen für ein Gezerre um die Frage, mit welchem Image und welchem Personal die große Regierungspartei sich weiter an der Spitze halten soll. Strategie und Taktik des demokratischen Machterhalts werden das Schicksal der globalisierten Republik nicht weiter durcheinanderbringen – das ihrer Flüchtlinge womöglich umso mehr.
In einem sind sich CSU und CDU untereinander und mit allen anderen Parlamentsparteien im Übrigen wieder ganz einig: Deutschland muss die Flüchtlingskrise bewältigen und kann das nur schaffen, wenn es die europäischen Partner für eine europäische Lösung gewinnt – wenn die also die verschiedenen Rollen und Funktionen übernehmen, die Deutschland braucht und ihnen zuweist.
III. Der deutsche Kampf um eine europäische Flüchtlingspolitik
Was die deutsche Führung für das eigene Land anstrebt – dem chaotischen Zustrom von Flüchtlingen mit dem Standpunkt zu begegnen, ihn in den durchlässiger gemachten Volkskörper einzubauen und dem staatlichen Gemeinwesen so neue Ressourcen zu erschließen – verlangt sie auch von ihrem Europa. Sie wendet sich mit „Hilferufen“ an die EU-Vertragsstaaten, beklagt „fehlende Solidarität“ in Europa und verweist auf die „Notwendigkeit einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge“.
Mehr Solidarität mit Deutschland!
Dieser mit wachsender Dringlichkeit wiederholte Antrag auf Unterstützung bei der Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ transportiert durchaus schwerwiegende Ansagen an die europäischen Adressaten: Auf diese Art klagt Deutschland die Kooperation der Partner für seine Rolle als Weltflüchtlingsmacht ein und kommt ihnen mit dem Ansinnen, sich von Deutschland Vorgaben für ihre Einwanderungs- und Bevölkerungspolitik machen zu lassen. Sie sollen zügig der Einladung ihrer Führungsmacht nachkommen und die von Deutschland übernommene Verantwortung teilen. Das sollen sie als Chance verstehen, teilzuhaben an der Regulierung und künftigen Bewirtschaftung einer von Krieg und Elend in angrenzenden Weltgegenden aufgescheuchten Bevölkerung, nicht zuletzt mittels der sinnreichen Einflussnahme auf Krieg und Frieden, die nur von einem in der Frage seiner imperialistischen Aufgabenstellung einigen Europa ausgehen könne. Deutschland ist der Auffassung, dass sich am Flüchtlingsthema überhaupt einmal mehr und ganz akut die Notwendigkeit eines gemeinsamen Standpunkts zu imperialistischen Problemlösungen jenseits der europäischen Grenzen zeigt; und dass die in der Migrantenfrage zögerlichen EU-Staaten endlich einsehen sollten, dass sie mit ihrer Mitgliedschaft doch schon erste Schritte zu einer „Globalisierung“ ihrer Nationen gemacht haben, denen, wenn sie politisch etwas wert sein sollen, weitere folgen müssen. Dazu gehört für Deutschland unverzichtbar die „solidarische“ Hinnahme der nationalistischen Zumutung, sich als Helfershelfer deutsch-europäischer Weltflüchtlingspolitik zur Verfügung zu stellen, die anfallenden Unkosten mitzutragen und sich dabei die Veränderung der eigenen Volkszusammensetzung gefallen zu lassen.
Ein wenig Unterstützung, Desinteresse und viel Widerstand
Von den Grenz– und Transitländern, die vom Flüchtlingsstrom betroffen sind, kommt Unterstützung für die Forderungen der Deutschen, die aber gar nicht an die von ihnen aufgemachten weltpolitischen Perspektiven einer politisch und finanziell kostspieligen, aber chancenreichen Annahme der vorliegenden Aufgaben heranreicht. Italien, Griechenland, die an der Balkanroute liegenden Länder ebenso wie Schweden oder Österreich, die selbst Zielpunkt vieler Flüchtlinge sind, sind interessiert an anderweitiger Verteilung der Flüchtlinge, drängen auf gemeinsame Finanzierung von Versorgung und Grenzsicherung und sind darüber hinaus an einer Teilhabe an der weltordnerischen Rolle, die Deutschland bietet, vorerst nicht übermäßig interessiert.
Frankreich und Großbritannien beurteilen das Flüchtlingsproblem, den Gegenstand der weltpolitischen Ambitionen Deutschlands, als nachrangig gegenüber der „Weltterrorfrage“. Die verlangt wegen der Gefahr von Anschlägen und der Kriege des Nahen Ostens, die die wirkliche oder bloß behauptete Basis der Attentäter darstellen, von ihnen als kriegsfähigen Weltmächten entsprechende Antworten. Frankreich findet sie nach den Attentaten von Paris, indem es sich theatralisch als „im Krieg“ gegen die IS-Paten des heimischen Terrors deklariert, die europäischen Staaten massiv um Unterstützung angeht, seine Kriegsführung in Syrien ausweitet und sich dergestalt als die entschlossene und wirklich schlagkräftige Führungsmacht Europas aufstellt. Die Unterstützungsanträge der Deutschen in der Flüchtlingsangelegenheit lässt Frankreich angesichts seiner demonstrativ viel ernsteren Probleme ins Leere laufen und interessiert sich allenfalls dort dafür, wo Flüchtlingswanderung und Terroristenlogistik miteinander zu tun haben könnten. Ansonsten hält Frankreich dafür, dass europäische Verantwortung in der Bekämpfung der Fluchtursachen besteht, um die es sich mit Bomben auf Irak und Syrien kümmert. Großbritannien hat ebenfalls seine eigenen Vorstellungen von seiner Weltmachtrolle, ist sich als Nation gar nicht sicher darüber, ob es dafür überhaupt eine Mitgliedschaft in der EU braucht, dafür aber umso sicherer, dass es sich von Deutschland keinesfalls in der Flüchtlingsfrage vereinnahmen und für eine neue Disziplinierung der EU-Staaten unter deutscher Führung missbrauchen lassen will.
Der härteste Widerstand schlägt der Bundesregierung allerdings aus den relativ neuen Mitgliedsländern des ehemaligen Ostblocks entgegen. Sie stehen nicht nur, wie viele der 28, auf dem Standpunkt, dass der Strom der Flüchtlinge sie nichts angeht, weil die sowieso alle nach Deutschland wollen. Sie erklären die deutsche Forderung nach gemeinsamer Flüchtlingspolitik, verbunden mit dem Ansinnen, auch sie sollten nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftsstärke errechnete Kontingente der Zuwanderer aufnehmen, zu einem Anschlag auf die Gesundheit und den Bestand ihrer Völker und sehen die Freiheit ihrer Nationen, die unter kommunistischer Herrschaft so lange für eine falsche Freundschaft der Sowjetvölker missbraucht wurde, jetzt von ihren neuen Freunden bedroht. Schließlich haben sie sich um dieser Freiheit willen nach dem Untergang der SU zu subimperialistischen Helfershelfern ihrer westlichen Nachbarn gewandelt; und müssen nun – Politiker aus Tschechien, Polen, Ungarn tun das mit großer Erbitterung – der deutschen Anführerin des freien Europa vorwerfen, sie sei drauf und dran, eben dieses zu zerstören, weil sie die europäischen Vaterländer mit ihren Flüchtlingszumutungen ihrer Selbstbestimmung und Identität beraube. Auf Geheiß der EU ein paar tausend oder zehntausend nahöstlichen Bürgerkriegsflüchtlingen eine neue Heimat zu geben, das ist für sie der Anfang einer schleichenden fremdländischen Veränderung und dann todsicher nachfolgenden Zersetzung ihrer Völker, der sie nicht früh genug Einhalt gebieten können – unzumutbar für die Eingeborenen und inakzeptabel für ihre regierenden Anhänger.
Ein Symptom für den Zustand Europas
Dass die Verteilung von einigen hunderttausend Flüchtlingen auf eine EU-Bevölkerung von 500 Millionen derart zur Prinzipienfrage hochgespielt wird, liegt nicht an den Flüchtlingen. Sie werden zum politischen Stoff eines Streits, mit dem sie nichts zu tun haben, und dabei zum Ausdruck einer fundamentalen Krise der EU. Das Bündnis, das Staaten aus freien Stücken und zur Förderung ihrer nationalen Wirtschafts- und Konkurrenzinteressen eingegangen sind, funktioniert seit der Finanz- und Eurokrise nicht mehr als Instrument des nationalen Fortschritts der verschiedenen Partner auf ihren verschiedenen Entwicklungs- und Anspruchsniveaus.
Für die erfolgreichen Kapitalstandorte im Euroland taugen die überschuldeten und ruinierten Länder der Südschiene nicht mehr als Mittel ihres weiteren Wirtschaftswachstums; sie sind nur noch Belastung ihres guten Geldes und ihres Staatshaushalts – eine Belastung, die sich durch die den Pleitestaaten aufgezwungene Austeritätspolitik vielleicht begrenzen, aber nicht zu neuem europäischem Wachstum wenden lässt. Für Griechenland, Portugal und andere ist die Teilhabe am harten Euro kein Hebel ihres Kredits und Wachstums mehr. Sie ist zur puren Unterordnung unter die Ansprüche der Gläubiger, somit der wahren Besitzer des Euro geworden; zu einer Unterordnung, die die Verarmung ihrer Völker und den Niedergang ihrer Nationen festschreibt. Nicht nationale Erfolgsperspektiven, nur mehr der womöglich noch schlimmere Schaden, den ein Austritt oder Ausschluss von Mitgliedern aus dem Euro-Verbund mit sich brächte, hält den Status quo noch zusammen. Seitdem sich das Verfahren der EU, den Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität in einen Fortschritt der Gemeinschaft umzumünzen, nicht mehr als Mittel zur Steigerung nationalen Reichtums und nationaler Macht auszahlt, bleibt von der europäischen Vergemeinschaftung nur Souveränitätsverzicht ohne oder mit sehr einseitig verteiltem Nutzen übrig. Das ist schon schwer erträglich für freie Nationen; ein Fortschreiten in diese Richtung, wie es die opponierenden EU-Länder in dem deutschen Versuch sehen, ein europäisches Flüchtlingsregime zu errichten, kommt erst recht nicht in Frage. Was anderswo in der EU noch ein rechter, zunehmend mehrheitsfähiger Oppositionsstandpunkt ist, das vertreten die Briten als ihre offizielle Linie: Sie verwerfen ausdrücklich die gültige Formel für die noch nicht fertige Staatengemeinschaft: Eine „immer engere Union“ ist mit ihnen nicht zu machen. Wie sie verteidigen immer mehr Mitglieder ihre Souveränität gegenüber einer Union, die keine Verheißung mehr ist.
Die Drohung gegen die Abweichler: Übernahme von Flüchtlingen und Schutz der Außengrenzen – oder Schluss mit der europäischen Binnenfreiheit
So machen vor allem einige osteuropäische Mitgliedsländer die Grenz- und Flüchtlingspolitik zum Gegenstand eines grundsätzlichen Souveränitätskonfliktes. Sie glauben, sich diesen Konflikt auch gegen den Druck Deutschlands und der EU-Institutionen politisch leisten zu können. Im Fall Griechenland hat deutsche Erpressungsmacht eine Einigung zustande gebracht; und das trotz des für keine Seite mehr förderlichen Zustands der Währungsunion und obwohl die im dritten Rettungsprogramm festgeschriebene Unterordnung Griechenlands unter das Regime seiner Gläubiger von der Souveränität und einem eigenen Nutzenkalkül des überschuldeten Landes so gut wie nichts übrig lässt. Auch da lag ein eigentlich nicht mehr einigungsfähiger Gegensatz vor – aber es ging eben ums Geld, das gemeinsame. Vom Zugang zu neuem Kredit hängt Griechenland, von der Stabilität des vergemeinschafteten Geldes hängen alle Mitglieder der Währungsunion ab. In den verschiedenen und entgegengesetzten Interessen der Partner am Geld und in ihrer Garantierolle für dieses Geld hatte die deutsche Führung das Druckmittel, ihre Bedingungen für die erneute Kreditgewährung durchzusetzen. In der Flüchtlingsfrage dagegen, wo es an einem materiellen Hebel fehlt, sehen sich die östlichen Mitglieder freigesetzt, die Sache so prinzipiell zu nehmen und die deutschen Anträge als so unsittlich zurückzuweisen, wie sie es ihrer Staatssouveränität schuldig sind. Dafür sind die Flüchtlinge ein ideales, symbolträchtiges Material, an dem sich nationalistische Elementarfragen nach den Gefahren für die völkische Identität und nach der Unterordnung unter fremdes – noch dazu deutsches – Interesse schön erörtern lassen.
Die Kanzlerin steckt allerdings angesichts des so fundamentalistisch daherkommenden Widerstandes nicht zurück, auch wenn ihr hier der griechische Geldhebel zunächst abgeht. Sie verweist auf die derzeit notleidende Rechts- und Sachlage des „Schengen-Raums“, der bislang die offenen Binnengrenzen der EU mit einem funktionierenden Schutz der Außengrenzen kombiniert. Wenn der durch die Massenmigration nicht zerstört werden soll, müssen sich die Partnerstaaten zu einer europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems bereitfinden. Sie können nun einmal keine unkontrollierten inneren Grenzen haben, ohne sich zu einem gemeinsamen Schutz der Außengrenzen und einer einheitlichen Flüchtlingspolitik zu verstehen, deren Lasten dann auch unter den Mitgliedern verteilt werden müssen. So erinnert die Kanzlerin die Widerspenstigen an die weitreichende Gunst, die doch auch ihnen mit der Europäisierung des inneren Grenzregimes zuteilgeworden sei, und damit daran, dass „Schengen“ für ein zwischenstaatliches Verhältnis steht, in dem eigentlich keine Zweifel darüber herrschen sollten, wer da wem etwas gestattet. Jetzt müssen die östlichen Flüchtlingsverweigerer und Volksschützer auf die Pflichten hingewiesen werden, ohne die solch weitreichenden Gewährungen wie die „Schengen-Freiheiten“ in einem globalisierten Europa nicht zu haben sind.
Dessen, dass Deutschland und EU-Europa über keine Druckmittel gegen ihre Obstruktion verfügen, können sich die osteuropäischen Staaten nicht wirklich sicher sein. Mit der Mitgliedschaft im Schengen-Raum sind sie immerhin Teil einer Regelung geworden, die rechtlich die Mobilisierung des europäischen Menschenmaterials für die kontinentale Binnenkonkurrenz organisiert. Da die kapitalistischen Gravitationszentren der Union im Westen liegen, ist der innereuropäische Wanderungssaldo so eindeutig wie das Interesse der östlichen Peripheriestaaten an der ungebremsten Freiheit ihrer brotlosen Massen, einem Lebensunterhalt aus deutscher Kapitalistenhand hinterherzureisen. An das in „Schengen“ organisierte Abhängigkeitsverhältnis erinnern – ganz im Sinn der Kanzlerin – der Kommissionspräsident Juncker und der Eurogruppen-Chef Dijsselbloem deshalb in einem deutschen Handelsblatt und geben den widerspenstigen Staatsmännern im Osten und anderswo Entscheidungshilfe: Sie sehen angesichts „fehlender Solidarität“ in der EU „Schengen am Ende“ und sagen voraus, dass bei einem „Schengen-Aus … auch der Euro als Gemeinschaftswährung in Gefahr“ sei. Dann müssten sich möglicherweise – so der holländische Euro-Mann – „Länder wie die Niederlande, Deutschland, Schweden, Österreich und Belgien zu einer Art Mini-Schengen zusammenschließen“; und die artreinen rechtgläubigen Völker des Ostens müssten sich dann wohl leider – das muss er gar nicht ausdrücklich dazusagen – an den Außengrenzen von Mini-Schengen zusammen mit den Flüchtlingen in die Schlangen bei der Passkontrolle einreihen.
Merkel „hofft noch auf Einsicht“ und eine Rettung von „Schengen“, und gibt in ihrer weltoffenen Art zu verstehen, dass die Kosten der Freiheit manchmal eben auch die Schaffung eines etwas poröseren Volkskörpers umfassen. Ansonsten versäumt das offizielle Deutschland derweil keine Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass seine beispielhaft zukunftsweisenden Eingemeindungsverfahren ihm inzwischen eine mehr als drei Millionen Köpfe starke türkischstämmige Bevölkerung eingebracht habe; natürlich auch manche Frage danach, ob deren Islam und die „Kopftuchmädchen“ jetzt auch zu Deutschland gehörten – ansonsten aber habe all das Deutschland überhaupt nicht geschadet. Ob diese Mischung aus Drohung und gutem Beispiel den Beschützern etwa des polnischen Volkscharakters einleuchtet, bleibt abzuwarten. Denn was nützte dem Volk die schönste Reisefreiheit, wenn es dabei an seiner Seele Schaden nähme.