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„Sittenwidrige Löhne!“

– das Hinterletzte aus der durchgeregelten Klassengesellschaft

Auf faz.de (1.10.13) ist nachzulesen, dass inzwischen „jeder fünfte Deutsche für einen Niedriglohn arbeitet.“ Doch jetzt bekommen die Geringverdiener unverhofft Schützenhilfe vom Staat: „Im Kampf gegen sittenwidrige Löhne müssen Beschäftigte nicht mehr alleine vor Gericht ziehen. Diese Arbeit erledigen inzwischen immer häufiger die Arbeitsagenturen für sie. Für Schlagzeilen etwa hatte ein Fall in der Uckermark gesorgt, bei dem ein Pizza-Lieferservice in Prenzlau und in Schwedt Stundenlöhne von nur 1,50 Euro und 2,50 Euro gezahlt haben soll. Das Jobcenter Uckermark hatte vor dem Arbeitsgericht Eberswalde auf Rückzahlung der erstatteten Aufstockungsleistungen in Höhe von 11 000 Euro geklagt und Mitte September recht bekommen.“ (pnn.de, 10.10.13)

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Geht doch: Billigarbeitskräfte für Unternehmen, ohne die Arbeitsagenturen zu belasten

Das zuständige Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit verkündet dazu, dass das offensive Vorgehen gegen Lohndumping ein wichtiges Signal sei, um ein Unrechtsbewusstsein auf Seiten der Unternehmer zu schaffen. So kommt die Behörde ihrem Auftrag nach, „den pflichtbewussten Umgang mit dem aus Steuermitteln finanzierten Arbeitslosengeld II sicherzustellen und alle Arbeitgeber zu schützen, die anständige Löhne zahlten.“ (ebd.)

Stundenlöhne von 1,32 Euro: Der Sozialstaat hat es nicht leicht!

Erst will der Sozialstaat Dauerarbeitslosigkeit abbauen und Arbeitslose in Beschäftigung bringen. Dafür scheut er keine Mühe und stellt seine ganze Kompetenz hinter diesen Zweck: Er fördert geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, befreit die Leiharbeit von Schranken, radikalisiert die Zumutbarkeitskriterien und korrigiert das Arbeitslosengeld so weit nach unten, dass es mehr denn je eine versachlichte Forderung ist, das nächstschlechte Jobangebot anzunehmen. Die Verweigerung von als zumutbar definierten Beschäftigungsangeboten wird mit Minderungen des Arbeitslosengeldes bestraft. Der Sozialstaat rechnet damit, dass diese Maßnahmen Lohnverhältnisse hervorbringen, von denen die Eingegliederten nicht existieren können. Ihm ist nämlich klar, dass ein großer Teil der Arbeitslosen nur dann in Arbeit kommt, wenn der Verdienst für sie keinen Lebensunterhalt abwirft. Deshalb stattet er Niedriglöhner großzügig mit dem Fürsorgeanspruch aus, nötigenfalls ihren Lohn bis zum staatlichen Existenzminimum aufgestockt zu bekommen, auf das sie auch ohne Arbeit einen Anspruch hätten.

Dann sieht der Sozialstaat sich mit dem Erfolg seiner Hartz-Reformen konfrontiert: Je mehr die Maßnahmen ziehen und die Arbeitslosigkeit sinkt, desto mehr werden seine Arbeitslosen zu „Beschäftigten“, die von ihrem Lohn nicht leben können und auf seine Aufstockungsleistungen angewiesen sind. Unternehmer verwenden sein Billigangebot an Arbeitskräften ausgiebig für sich und verlassen sich dabei darauf, dass der notwendige Lebensunterhalt ihrer Arbeitskräfte durch den Staat gewährleistet wird. So waren die Reformen aber nicht gemeint: Der Staat will nicht einfach Profite subventionieren und den Unternehmern einen Vorteil verschaffen, sondern mit dieser Subventionierung seine Arbeitslosen einer rentablen Beschäftigung zuführen und so seine Ausgaben für sie reduzieren. Wo die Kassen seiner Jobcenter mit laufend steigenden Kosten für das Aufstocken strapaziert werden, zieht er den messerscharfen Schluss, dass beim Gebrauch seiner Leistungen reger Missbrauch am Werk sein muss.

Die sozialstaatlichen Ausführungsorgane – die Jobcenter – gehen diesen Widerspruch, den sich der Sozialstaat einhandelt, in der Weise an, in der er sie betrifft: Sie sehen ihr Budget strapaziert und entdecken im Rahmen ihrer Befugnisse einen Weg, Unternehmern in der exzessiven Beanspruchung ihrer Finanzen Schranken zu setzen.

Der Rechtsstaat weiß sich zu helfen!

Er verfügt nämlich längst über ein Maß – auf der Ebene des Rechtsgeschäfts. Als überparteiliche Instanz, die hoheitlich definiert, unter welchen Umständen Verträge in Ordnung gehen, kennt er das Kriterium der sittenwidrigen Löhne. An dem scheidet sich rechtsgültig eine ordentliche arbeitsvertragliche Entgeltvereinbarung von der „Ausbeutung einer Zwangslage“(BGB § 138), welche die vereinbarte Arbeitsvergütung ungültig macht und Nachzahlungen fällig werden lässt. Nach gängiger Rechtsprechung befinden sich Beschäftigte in dieser unsittlichen Zwangslage, „wenn die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Tariflohns erreicht.“ (BAG, 2009, 5 AZR 436/08) Die gute Sitte wird also dort eingehalten, wo ein Lohn – wie erbärmlich er auch immer sein mag – ortsüblich ist; beziehungsweise nicht mehr als ein Drittel darunter gedrückt wird.

Die Jobcenter entdecken die rechtliche Regelung der sittenwidrigen Löhne, die es zum Schutz wehrloser Arbeitnehmer gibt, für sich und beanspruchen sie für den Schutz ihrer Kassen. Weil das von Arbeitgebern nachzuzahlende Entgelt für die Arbeitnehmer den von den Jobcentern ausgezahlten Aufstockungsleistungen entspricht, geht es unmittelbar an sie über.

Für die FAZ ist die Moral der Geschichte sonnenklar: Es handelt sich dabei um einen wohltätigen Dienst an den sittenwidrig Beschäftigten im Niedriglohnsektor: „Im Kampf gegen sittenwidrige Löhne müssen Beschäftigte nicht mehr alleine vor Gericht ziehen. Diese Arbeit erledigen inzwischen immer häufiger die Arbeitsagenturen für sie.“ Wie gütig! Die sittenwidrig entlohnten Arbeiter müssen gar nicht selber vor Gericht ziehen, damit der Staat sein Geld wieder bekommt!