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Münteferings Kapitalismuskritik

Kapitalismus gut, Kapitalisten böse!?

Die deutsche Nation befindet sich in einer „Kapitalismusdebatte“. Nachdem es jahrzehntelang gedankliches Gemeingut war, dass es Kapitalismus spätestens seit Ludwig Erhards „sozialer Marktwirtschaft“ gar nicht mehr gibt, es sich bei der freien Marktwirtschaft vielmehr um die beste aller möglichen Wirtschaftsformen handelt, in der Wettbewerb freier Unternehmer für allgemeinen Wohlstand sorgt, äußern sich seit zwei Wochen Unternehmer, Politiker, kirchliche Würdenträger und Wirtschaftskommentatoren zur Frage, ob und wie viel „Kapitalismuskritik“ erlaubt, angemessen oder gar geboten sei. Wie konnte es dazu kommen? Losgetreten hat das Ganze eine Rede des SPDParteivorsitzenden Franz Müntefering. Der Mann hat genug davon, dass das Ausbleiben des versprochenen Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger Belebung des Arbeitsmarktes, seiner Partei als „Versagen“ in die Schuhe geschoben wird. Schließlich tut die rot-grüne Regierung ihr Bestes, um die Geschäfte deutscher Unternehmen zu befördern. Sie senkt die Unternehmenssteuern, reformiert „Arbeitsmarkt“ und Sozialstaat, um die „Lohnnebenkosten“ abzubauen, deren Name ja schon besagen soll, dass sie eigentlich nicht zum Lohn gehören. Die Leistungen sämtlicher Sozialversicherungen werden dafür herz- bzw. hartzhaft zusammengestrichen, fast sämtliche bisherigen Sozialhilfeempfänger für arbeitsfähig erklärt und alle Arbeitsfähigen darauf verpflichtet, jeden Job zum „ortsüblichen“ Billiglohn (-20 %) anzunehmen. Den Gewerkschaften droht sie „gesetzliche Maßnahmen“ an, falls sie dem Ansinnen der Unternehmer nach „Öffnung der Tarifverträge“ zur Anpassung von Lohn und Arbeitszeit an die Gewinnerwartungen nicht ausreichend nachkommen. Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerung propagiert sie als Gebot der Stunde, was – deutsche Gewerkschaften sind da sehr einsichtig – die gewünschte Wirkung zeigt und den „kurzfristigen Profitinteressen“ vielerorts sehr auf die Sprünge hilft. Weitere „Umstrukturierungen“ und „Reformen“ sind in Arbeit, das Diätprogramm zur „Verschlankung des Staates“ ist in vollem Gange. Da muss sich die Regierung den Vorwurf aus dem Unternehmerlager, sie sei „reformmüde“, hielte immer noch viel zu sehr am überkommenen Sozialstaat fest und verhindere mit unnötiger Bürokratie den Aufschwung, nicht gefallen lassen. Findet jedenfalls Müntefering und weist sein Wahlvolk darauf hin, dass die Schuldigen für das Ausbleiben des angestrebten Wirtschaftserfolgs ganz woanders sitzen:

„So positiv die Idee und noch mehr der Begriff der Demokratie belegt ist, so schwer tut sich das Land mit dem Staat. Mancher putzt sich gerne die Füße an ihm ab und macht ihn zum Synonym für eine Krake und für Bonzen, für Bürokratie und für Unfähigkeit. … Sie fordern den schlanken Staat und wären doch nicht böse, wenn er verhungerte. Ja sie legen es darauf an. … Der Sozialstaat ist nicht entbehrlich. … Wir wissen, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Politik einerseits und den ungehemmten Regeln des Marktes andererseits gibt. Diese Spannung gilt es auszuhalten und produktiv zu nutzen. Deswegen wollen wir soziale Marktwirtschaft und nicht Marktwirtschaft pur. … Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns. Denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeit ganzer Unternehmen und Regionen aus dem Blick. Und die Handlungsfähigkeit des Staats wird rücksichtslos reduziert. Im Ergebnis wird damit die Reputation des Staates bei seinen BürgerInnen dramatisch belastet, weil er nicht mehr in der Lage ist, die von ihm erwartete Interessenwahrung hinreichend zu leisten.“ (Rede vom 13.04.2005)

Die Öffentlichkeit erschauert. Obwohl deutlich ersichtlich ist, dass es dem Redner um die „Zukunftsfähigkeit“ des deutschen Wirtschaftsstandorts mit seinen Unter- und Arbeitnehmern geht und um das Ansehen seiner Regierung bei den Wählern, hört sie im ersten Moment nur eines: Kapitalistenschelte. Das, so erste Kommentare, gehört sich nicht und bringt dem Redner und seinem Verein den Vorwurf ein, die Lehren des alten Marx aus der Mottenkiste ziehen zu wollen. Das Wort „hemmen“ im Zusammenhang mit den „Regeln des Marktes“ in den Mund zu nehmen, die „Macht des Kapitals“ nicht umstandslos mit dem Wohl des Staats und den Interessen seiner Bürger in eins zu setzen, das gehört sich nicht und unterliegt – da muss man Marx nicht gelesen haben – dem Kommunismusverdacht.

Auf diese Anwürfe setzt Müntefering noch eins drauf. In einer erläuternden Stellungnahme zu seiner Rede bekräftigt er seinen Vorwurf: Schuld an Standortschwäche und Arbeitslosigkeit seien profitgierige Raubtier-Kapitalisten. Beispielhaft führt er den Chef der deutschen Bank Ackermann an, bei dem, so der Vorwurf, die Unternehmensethik nicht mehr stimme, „wenn er eine Eigenkapitalrendite von 25 % zum Ziel erklärt und bei gewachsenen Gewinnen am selben Tag (!) ankündigt, 6400 Menschen zu entlassen. So etwas deprimiert die Menschen und raubt ihnen das Vertrauen in die Demokratie.

Berechtigte Profitinteressen erkennt der SPD-Chef ausdrücklich an, und dass Renditen von mehr als 24 % grundsätzlich unethisch seien und Entlassungen entgegenstünden, ist nicht gemeint. Aber dass Kapitalbesitzer die moralische Aufgabe haben, die Menschen nicht nur zu entlassen, sondern für ihren Profit zu benutzen, das möchte er doch mal gesagt haben. Das ist zwar ökonomischer Unsinn, denn mehr Arbeitsleistung aus weniger Beschäftigten herauszuholen, steigert den Gewinn, und den Gewinn zu maximieren, ist die „Verantwortung“ eines jeden Unternehmers, dem seine Konkurrenzfähigkeit am Herzen liegt. Seinem Wahlvolk mutet Müntefering aber genau diesen Unsinn zu: Er tut so, als gebe es eine moralische Grenze, an der anständige Unternehmer verpflichtet seien, das Billigangebot, das gute deutsche Politiker ihnen mit der Zurichtung von Land und Leuten machen, auch anzunehmen. Und wenn sie es nicht tun, dann verdienen sie den Vorwurf, vaterlandslose Gesellen zu sein. Internationale Finanzakteure fallen „wie Heuschreckenschwärme“ über brave Unternehmen her und vernichten anständiges Geschäft und die von ihm abhängigen Arbeitsplätze. Wenn Unternehmer die erbrachten Vorleistungen von Staat und Arbeitnehmern nicht fürs Investieren und Geschäftemachen nutzen, wenn sie nicht beim Gewinnemachen deutsche Arbeitskräfte beschäftigen und in Deutschland Steuern zahlen, dann versäumen sie ihre „Bringschuld“ und verdienen die Kritik aller guten Deutschen. Mit der Anmahnung einer „Schuld“, die die Unternehmer zu „bringen“ hätten, stellt Müntefering klar, dass er sich zur Abhängigkeit der gesamten Nation von den Herren der freien Wirtschaft bekennt; dass er also alles andere im Sinn hat als bei denen, die von Arbeit immer weniger leben können, weil sie entweder keine kriegen oder vom Lohn dafür immer schlechter leben können, Zweifel in ihre Abhängigkeit von den Gewinnkalkulationen der Kapitalisten zu säen.

Die Öffentlichkeit merkt auf und wird nachdenklich. Bis auf wenige marktwirtschaftliche Wadelbeißer von der Financial Times Deutschland oder der FDP, kommt Verständnis auf. Dass von „Rücknahme der Reformen“ oder sonstiger realer Einschränkung der ruinösen Auswirkungen unternehmerischer Geschäftstätigkeit auf den Lebensunterhalt der Beschäftigten und Rausgeschmissenen nicht die Rede ist, kapiert jeder. Und dass das nationale Fortkommen und die zuverlässige Botmäßigkeit der lohnabhängigen Bevölkerung ehrenwerte Anliegen sind, wird allenthalben genauso gesehen. Und schon mehren sich die Stimmen, die der Idee von der moralischen und/oder patriotischen „Verpflichtung“ der Unternehmer etwas abgewinnen können.

Müntefering habe „nicht den Kapitalismus an sich, sondern das Fehlverhalten von Menschen kritisiert“, stellt ein katholischer Erzbischof aus Berlin fest und äußert Verständnis für das Anliegen, dass „die Marktwirtschaft sozial ist“. Ähnliche Stimmen ertönen aus dem Unternehmerlager und der CDU. Und auch das Volk nickt, glaubt man den Umfragen, mit dem Kopf: Wie hat es unser Kanzler doch so schön formuliert? Wenn der kleine Mann seine „patriotische Pflicht“ tut, indem er sich mit den ihm aufgemachten Not- und Zwangslagen ab- findet, dann hat er doch wohl Anspruch darauf, dass Patrioten auf der Unternehmerseite ihre „Pflicht“ tun und ihn für ihr Geschäft benutzen. Oder wenigstens darauf, dass seine Regierung diesen Hinweis veröffentlicht.

Denn die Pflicht des Unternehmers buchstabiert sich ja etwas anders als die seiner „Mitarbeiter“. Die besteht ausschließlich darin, die Freiheiten, die ihm die Politik verschafft, mehr Gewinn aus der Benutzung seiner Mannschaft zu schlagen, kräftig zu nutzen, und die Verschlechterung der Lebenslage der arbeitenden Bevölkerung gilt weiterhin als das Mittel dafür – schon wegen der „Billigkonkurrenz“ aus dem Ausland. Aber diese Pflicht zum Gewinnemachen für deutsche Weltmarkterfolge als ein Recht auf Ausbeutung der abhängigen Manövriermasse vorzuführen, damit will er den Gerechtigkeitssinn des deutschen Arbeitsmannes bedienen – und vielleicht hindert das so manchen guten Deutschen daran, seine Unzufriedenheit in ein Wahlkreuz für falsche nationale Alternativen umzumünzen. Wenn die menschliche Nationalressource Deutschlands seine „Kapitalistenschelte“ mit Wählerstimmen belohnt, dann hat Müntefering das, worauf es ihm ankommt: ein weiteres Mandat für seine Partei – für weitere „Reformen“ im Rahmen der „Agenda 2010“.