Auch demokratisch gereifte Völker können viel falsch machen, wenn man sie machen lässt. Jedenfalls nach Auffassung der deutschen Regierung, und gemessen an den Maßstäben der herrschenden deutschen Staatsräson. Die Briten machen europapolitisch einen unverzeihlichen Fehler und erteilen der EU, kaum bittet man sie um ein verbindliches Votum, eine Absage. Die US-Amerikaner benehmen sich weltpolitisch daneben und wählen einen Mann zum Präsidenten, der die EU schlecht findet, Deutschlands Überschuss im Amerika-Handel reduzieren will, von Weltoffenheit und abweichenden Meinungen nichts hält und einen schlechten Charakter hat. Die Deutschen machen seit dem verlorenen Krieg zwar absolut mehrheitlich alles richtig und folgen, wenn man sie zur freien Wahl bittet, dem Wahlspruch ‚Keine Experimente!‘ oder ‚wagen‘ äußerstenfalls ein bisschen ‚mehr Demokratie‘; aber alle paar Jahre folgt dann doch eine ganze Menge von ihnen rechtsradikalen ‚Rattenfängern‘; im Osten des wiedervereinigten Vaterlands, und nicht einmal nur dort, macht eine Minderheit ausländerfeindlicher ‚Wutbürger‘ mit einem Wahlvotum für eine europafeindliche ‚Alternative für Deutschland‘ den C-Parteien den Monopolanspruch auf rechtsnationale Gesinnung streitig. Und das alles zu Beginn eines Jahres, in dem das Volk in etlichen Ländern schon wieder Entscheidungen zu treffen hat, für die es nach den Regeln der einzig wahren repräsentativen Demokratie eigentlich gar nicht kompetent ist, weil sie mehr betreffen könnten als die Frage, wer die Welt und die in ihr nun einmal herrschenden, für Deutschland so ertragreichen Verhältnisse im Sinne eines ‚Weiter so!‘ regieren soll. Da droht bei Wahlen in den Niederlanden ein Triumph des antieuropäischen Patriotismus. Bei Präsidentenwahlen in Frankreich steht die Zukunft des gesamteuropäischen Großmacht-Nationalismus überhaupt auf dem Spiel. Und wenn alles schiefgeht, ist noch nicht einmal sicher, ob und wie die als Höhepunkt des demokratischen Geschehens fällige Bundestagswahl in Deutschland die Welt wieder in Ordnung bringen kann. Für die Regierenden in Berlin gibt es jedenfalls ziemlich viel prekäre Weltlage in deutschem Interesse zu verarbeiten und dem Wahlvolk in deutschem Sinn zu erklären.
1. Merkel beantwortet die K-Frage – im Sinne Europas, der Welt und ihrer höchsten Werte
Als Erste – das fällt noch ins vorige Jahr und findet hauptsächlich auf dem eigens dafür einberufenen CDU-Parteitag statt – erklärt die Kanzlerin, warum Deutschland in ihren Händen ganz großartig aufgehoben ist und weiterhin von ihr regiert werden soll. In der Hauptsache argumentiert sie mit dem demokratischen Standardargument einer amtierenden Regierung, nämlich der Alternativlosigkeit ihrer Politik, die im Wesentlichen schon dadurch bewiesen ist, dass die Regierung die politischen Fakten setzt, Alternativen nicht real werden lässt, diese also nach Lage der Dinge, gemäß der ‚normativen Kraft des Faktischen‘, nicht realistisch sind. Zu allem Überfluss regiert Merkel schon ziemlich lange, was umgekehrt bedeutet, dass das Volk sich von ihr ganz willig hat regieren lassen, womit es – jeder Zweifel daran wäre geradezu ehrenrührig! – nicht falsch gelegen haben kann. So wird aus der schieren Tatsache gelungener Unterordnung auf der einen, unbestrittener Herrschaft auf der anderen Seite der über jedes ‚Warum‘ und ‚Inwiefern‘, über jede sachliche Begründung und damit auch über jeden Einwand erhabene Beweis, dass das auch in Ordnung geht und nicht geändert werden sollte. Beglaubigt wird dieser Qualitätsnachweis durch die auf dem Parteitag offenkundige Tatsache, dass ihre eigene Partei keine Alternative zu Merkel zu bieten hat. Freilich versteht sich damit nicht mehr ganz von selbst, dass auch ihre Politik das bislang immer ins Feld geführte Gütesiegel ‚alternativlos‘ verdient; dazu hat sie mit ihrem penetranten Moralismus der Weltoffenheit und Humanität in der Flüchtlingsfrage, der ideellen Überhöhung des deutschen Auftritts als ordnende Macht in heiklen Globalisierungs- und Bürgerkriegsangelegenheiten, die ausgerechnet im Milieu der CDU-CSU-fernen, von rechts geschmähten ‚Gutmenschen‘ gut angekommen ist, insgesamt und nicht zuletzt gerade in den eigenen Reihen zu viel Ausländerfeindschaft mobilisiert; und außerdem hat sie den schweren politischen Fehler gemacht, beim Wegdrücken der Opposition von rechtsaußen nicht wirklich erfolgreich zu sein. Da trifft es sich gut, dass seit der Trump-Wahl in Amerika ein ganz neues Licht auf sie und ihre Politik fällt. Ohne dass sich in der Sache etwas geändert hätte – die ‚globalisierte‘ Welt mit ihren Opfern, die Kriege und Bürgerkriege unter westlicher Zuständigkeit, die Verelendung in weiten Teilen Europas sind ebenso dieselben geblieben wie die gar nicht erfolglosen Bemühungen der deutschen Regierung, eben daraus für das nationale Wirtschaftswachstum und für die eigene politische Erpressungsmacht Profit zu schlagen –, blickt die Welt, aus deutscher Perspektive jedenfalls, voll verzweifelter Hoffnung nach Berlin und auf die Kanzlerin als die letzte, standhafte Säule der etablierten Verhältnisse, an denen auf einmal nichts anderes zählt als ihre Idealisierung zu einem großen Reich der Liberalität, des Wohlstands, der volksfreundlichen Freizügigkeit für Gelehrte, Freihändler und Kapital etc. Mit ihrem Standpunkt, dass sich in den Berliner Machtverhältnissen nichts ändern sollte, steht Merkel da als die perfekt gelungene Synthese von Nüchternheit und freiheitlicher Prinzipientreue, Realismus und abendländischen Werten – und vor allem als Verkörperung der hohen weltpolitischen Bedeutung der deutschen Nation.
Einiges bleibt ihr dennoch zu tun. Zum einen im Hinblick auf den aufgeregten Nationalismus im eigenen Land, den als ‚Flüchtlingskrise‘ offiziell anerkannten Ausländerhass, den die AfD gegen die Christenherrschaft in Berlin wendet und die bayrische Schwesterpartei als betreuungswürdige Spielart einer Heimatliebe, die eigentlich gar nicht beißen will, adoptiert. Hier wendet Merkel die Kunst des doppelten Zynismus an: Sie praktiziert und demonstriert Härte gegen Zufluchtsuchende und Migranten, die nicht in die immer restriktiver definierte und gehandhabte Kategorie der ‚wirklich bedrohten‘ Flüchtlinge ohne ‚heimische Fluchtalternative‘ fallen, speziell mit der Abschiebung als gut integriert geltender Menschen nach Afghanistan; und sie dementiert, auch das ganz praktisch durch nett arrangierte Treffen mit freiwilligen Flüchtlingsbetreuern, dass sie damit von ihrer so heftig angefeindeten Linie in der Flüchtlingsfrage abrücken würde. So wäre ihre ‚Willkommenskultur‘ schon immer gemeint gewesen: ein Gesamtkunstwerk aus Vernunft, inklusive der leider gebotenen Strenge, im Umgang mit den bedauerlichen Kollateralschäden der für Deutschland unverzichtbaren Globalisierung und jener weltoffenen Großherzigkeit, für die Ex-Präsident Obama, und der christlichen Fürsorglichkeit, für die Papst Franziskus sie lobt. Die Herzen ihrer xenophoben Parteirechten und der bayrischen Leitkulturexperten gewinnt sie damit zwar nicht. Aber deren Machtwille ist allemal so groß wie der der Chefin und deswegen groß genug, dass sie ihren gar nicht befriedigten ausländerfeindlichen Säuberungsstandpunkt für hinreichend bedient erklären und sich hinter ihre nunmehr anerkanntermaßen alternativlose Kandidatin stellen.
Problematischer ist die Widerspenstigkeit der EU-Kollegen, nicht nur, aber vor allem im östlichen Zuerwerbsgebiet der Union, gegen die Politik der europaweiten Migranten-Zuteilung, die Brüssel, erkennbar auf Antrag und im Auftrag Berlins, betreibt. Da triumphiert nicht nur gesinnungsmäßig auf ziemlich breiter Front die mit Hassgefühlen aufgeladene Moral des ‚Ausländer raus‘-Patriotismus über das heuchlerische und erst recht über jedes ehrlich gemeinte Ethos der Humanität und Barmherzigkeit. Im Zustrom abgehängter Teile der Weltbevölkerung in das große imperialistische Zentrum Europa haben die mit Deutschlands Führerschaft im Club unzufriedenen regierenden oder oppositionell mitregierenden politischen Häuptlinge der lieben Nachbarländer die Gelegenheit entdeckt, gegen die Berliner Richtlinien für Europas Umgang mit der Globalisierung und ihren Folgen wirksam Widerstand zu leisten und so ein bisschen Aufstand gegen ihre von Deutschland dominierte Union zu proben. Um eine Antwort ist die Merkel-Regierung aber auch hier nicht verlegen. Sie reagiert nicht als angegriffene Partei, sondern als über den Streitparteien stehende Instanz: Sie erkennt in aller Form ‚die Migrationskrise‘ als Problem für die Mitglieder der EU an, äußert viel Verständnis, sogar für nationale Be- und Empfindlichkeiten anderswo, weist jeden Willen zur Bevormundung, geschweige denn Erpressung ihrer Partner weit von sich – die Erinnerung an das deutsche Geld, das gewisse Nachbarn für ihren Haushalt brauchen, bleibt der freien Öffentlichkeit überlassen –; damit definiert sie den Umgang mit der Fluchtbewegung, der durch Wegschauen nicht beizukommen sei, als europäisches, nur in gemeinsamer Anstrengung aller EU-Länder zu lösendes Problem, empfiehlt sich dafür als unverzichtbarer, weil reicher und mächtiger Helfer und erwirtschaftet sich darüber Anerkennung als Weltflüchtlingsmacht mit europäischer Richtlinienkompetenz. Diese Rolle des tonangebenden EU-Mitglieds, an dessen ebenso humanitären wie politisch grundvernünftigen Entscheidungen kein Flüchtling, aber auch kein Partnerstaat vorbeikommt, weder die Herkunfts- noch die Transit- oder Zielländer des reisefähigen globalen Elends, die gefällt dann auch wieder den imperialistisch aufgeklärten Nationalisten vom rechten Flügel der Merkel-Partei.
2. Schulz will Kanzler werden – mit sozialer Gerechtigkeit und ganz viel Siegeswillen
Während Deutschlands christliche Politiker alles tun, um ihr Alleinvertretungsrecht auf rechte vaterländische Gesinnung von den fundamentaloppositionellen Rechten zurückzuerobern und den Ausländerhass, geistig-moralisch geläutert, wieder bei sich zu beheimaten, befasst sich der sozialdemokratische Koalitionspartner mit dem sozialen Berufungstitel der rechtsradikalen Ausländerhetze im Land: der vielfältigen Armut, die AfD und Gesinnungsgenossen den ungebeten anwesenden Fremdvölkischen zur Last legen und den Regierenden ankreiden, die aus ihrer Sicht ihr treudeutsches Volk nicht leiden können und lieber Terrorismus-anfällige Mohammedaner regieren. Unter dem Titel ‚Zeit für Gerechtigkeit‘ kommt also durchaus offiziell zur Sprache, was Deutschlands fortschrittlicher Kapitalismus mit seinem Welterfolg am eigenen Standort an Verelendung produziert. Und zwar wie: Auf dem Parteitag zur Eröffnung des großen Wahljahrs reanimiert die SPD den Alleinvertretungsanspruch der Sozialdemokratie auf die ‚Sorgen der kleinen Leute‘, wendet ihn offensiv gegen die politische Zweckentfremdung der materiellen Unzufriedenheit im Land durch die Rechten und auch durch die Linkspartei und reklamiert alle ‚sozialen Fragen‘ exklusiv für sich als ihr ureigenes politisches Betätigungsfeld. Damit tritt der neue SPD-Chef und -Kanzlerkandidat an; mit dem Bonus, dass er, anders als seine Partei, die Gründe für Armut und Unzufriedenheit nicht persönlich mit herbeiregiert hat und sich deswegen, nach allen Regeln demokratischer Redlichkeit ganz glaubwürdig, von jeder politischen Miturheberschaft distanzieren kann; ganz persönlich umso glaubwürdiger, als aus ihm, dem einstigen Bürgermeister von Würselen, dem Mann aus einfachsten, ja schwierigen Verhältnissen, der sich aus eigener Kraft nach oben gearbeitet hat, die Stimme des ‚hart arbeitenden‘ Volkes spricht, so wie die SPD-Wahlkampfleitung sie sich wünscht und zurechtstilisiert. Dass er kein ‚Provinzfuzzy‘ geblieben, sondern einen europaweiten Wahlkampf geführt, das Amt des EU-Parlamentspräsidenten errungen und gleichwohl kein ‚abgehobener Brüsseler Bürokrat‘ geworden ist, dass er also mit wohlverdienter Prominenz und zudem nicht aus der Opposition heraus, sondern als Repräsentant der linken Hälfte der großen Regierungskoalition zur Wahl antritt, das bewahrt ihn dabei vor dem Verdacht auf unerlaubte Kritik am System. Ganz in diesem konstruktiven Sinn stilisiert sich der nette Herr Schulz mit ein paar zarten Verbesserungsvorschlägen zur Sozialpolitik zum leibhaftigen Versprechen der Befriedigung jedes nur denkbaren sozialen Korrekturbedarfs und stellt zugleich dem Gemeinwesen mit seinen marktwirtschaftlichen Überlebenskämpfen und sozialpolitischen Gemeinheiten, das er regieren will, in puncto Armut und Armutsbetreuung das denkbar beste Zeugnis aus: Jede Not darf sich angesprochen fühlen; wirklich angesprochen werden ein paar Sonderfälle des sozialdemokratisch inspirierten Hartz-Systems, denen vor allem mit einer Qualifizierungsoffensive für altgediente Arbeitslose beizukommen wäre. Ebenso eindrucksvoll geißelt er, ohne dem ehrbaren Beruf des Kapitalisten zu nahe zu treten, einige Exzesse bei der Bereicherung der Reichen im Land; das regt das empfindliche Gerechtigkeitsgefühl sozialdemokratischer Machart allemal wirksamer auf als die Armut, für die ein ‚so reiches Land wie Deutschland‘, diese wunderbare Heimat des proletarischen Wunschtraums von den ‚sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen‘, sich schämen sollte.
Womit Schulz allerdings den meisten Eindruck macht, zuerst auf seine Partei, die ihm das mit einem 100-%-Votum und einer gewissen Hysterie – „Martin, ich will eine Regierung von dir!“ – honoriert, dann aber auch auf die christliche Konkurrenz, die sich Ähnliches von ihrer Kanzlerin wünscht, und deswegen am Ende auch auf die Meinungsumfragen, in denen das Volk über seinen politischen Willen informiert wird: Womit er überhaupt den entscheidenden guten Eindruck macht, das ist sein frech und offensiv vorgetragener Machtwille – er „setzt auf Sieg“, „will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden!“ Und das ist dann doch mal eine Anmerkung wert. Denn das fällt schon auf: Dass eine demokratische Wahl ein Akt der Ermächtigung ist, also die Selbstverpflichtung des Wählers zum Gehorsam gegenüber dem Gewählten, eine freiwillige Unterwerfung unter das damit etablierte Regime, das lassen wahlberechtigte Bürger für sich überhaupt nicht gelten. Fachleute des politischen Gewerbes erklären die Instrumente effektiver Regierungsmacht unter dem Titel checks and balances zur wohltätigen Verhinderung herrscherlicher Willkür und Herrschaft überhaupt für abgeschafft, seit das bürgerliche Gemeinwesen die Legitimation der Macht durch den wohlverstandenen wahren Willen des beherrschten Volkes zu einem ganzen System demokratischer Verfahrensweisen ausgearbeitet hat. Gerade zu Beginn des großen europäischen Wahljahrs gibt die vom türkischen Präsidenten anberaumte Volksabstimmung über eine neue präsidiale statt parlamentarische Staatsverfassung den Apologeten der hiesigen Demokratie Gelegenheit, am offenbar sehr einfach machbaren Übergang von dem einen zum anderen Herrschaftsverfahren einen enormen Gegensatz zwischen Freiheit und Knechtung zu entdecken. Gleichzeitig ist völlig klar: Für das Regierungsamt, über dessen personelle Besetzung in demokratischen Wahlen entschieden wird – und in anständigen Wahlen nur über die –, empfiehlt sich Kandidat resp. Kandidatin durch nichts als den glaubhaften ganz persönlichen Willen, die mit dem Amt verbundene Herrschaftsgewalt tatkräftig zu gebrauchen. Dass selbst die höchste Entourage, um wie viel mehr also das niedere Volk, dem Chef oder der Chefin aufs Wort gehorcht, dass die Figur an der Spitze ihren Willen glatt durchsetzt – ‚durchregiert‘ –, das ist das entscheidende Qualitätskriterium für Politiker, die gewählt werden wollen. Die entscheidende Bedingung, an die demokratische Wähler ihre Bereitschaft zu bedingungslosem Gehorsam knüpfen, ist erklärtermaßen die ‚starke Persönlichkeit‘, jemand also, der von der Macht über die Lebensbedingungen der Wahlberechtigten rücksichtslos Gebrauch zu machen versteht und verspricht. Und wenn die Herrscherfigur ganz persönlich mit der Macht ihres Amtes verwachsen ist, dann wird ihr das gemäß der herrschenden Leitkultur als „Charisma“ lobend angerechnet. Was in der SPD Begeisterung für einen offen machtgeilen Chef weckt, ist eine Untertanengesinnung, die es fertigbringt, sich zur Herrschaft zu bekennen und sich gleichzeitig übers Beherrscht-Werden zu betrügen. Die ist es auch, die auf Seiten der Merkel-Gefolgschaft den Wunsch wachruft, die Chefin sollte jetzt gefälligst auch mehr Begeisterung zeigen und damit bei ihren Anhängern erzeugen – und wofür? Für die Macht, die sie hat, und dafür, dass sie die hat und deswegen auch unbedingt behalten will. Das verlangt vor allem der Parteinachwuchs, der an ihrer Machtausübung entlang in die Rolle der nationalen Herrschaft ‚hineinwachsen‘, im Klartext: sich in die Führungspositionen der demokratischen Herrschaft hinein und hinauf konkurrieren will!
3. Die Wahl in den Niederlanden: Rutte macht es richtig – im Sinne eines deutschen Europas
Die Niederländer sind das erste Volk mit einer richtigen Wahl im europäischen Superwahljahr. Und sie machen es richtig, zur großen Erleichterung Deutschlands und seiner Demokraten. Denn sie erteilen dem Gespenst, das durch Europa geistert, dem antieuropäischen Populismus, hier in Gestalt des Islam-Hassers Wilders, eine Abfuhr, indem sie ihm zwar mehr Parlamentssitze verschaffen als zuvor, aber mit Abstand nicht die meisten.
Die Erleichterung ist so groß wie die Befürchtung, die Niederländer könnten mit einem Mehrheitsvotum für Wilders der EU eine Absage erteilen, so ähnlich wie die Briten, und damit die Zerstörung dieses wunderbaren Friedensbündnisses weiter vorantreiben. Dass das ganz schlimm wäre, steht für die deutschen Interpreten des Weltgeschehens fest, ohne dass sie sich in Argumente dafür und in Gründe dagegen weiter vertiefen müssten. Für das ‚Pro Europa‘ reichen ein paar Phrasen über Europas überraschend lange Friedenszeit, die von keiner Ahnung davon getrübt sind, welches Zeugnis sie damit ihren Nationalstaaten und sich als deren willigen Insassen ausstellen; das ‚Contra‘ wird mit der Ächtung des rechten Hetzers als rechter Hetzer hinreichend erledigt. Immerhin war und ist zwischendurch immer mal wieder von der nationalen Souveränität die Rede, auf die viele Niederländer wie so viele andere antieuropäisch gesinnte Patrioten im Reich der EU übertrieben viel Wert legen, obwohl doch längst feststeht, dass mit Souveränität auf Kleinstaat-Niveau in der Welt von heute mit ihren drei bis fünf Großmächten, eine davon eben die EU, überhaupt kein Staat mehr zu machen ist. Und das ist dann doch eine Auskunft über die Sache, die vom deutschen Standpunkt aus so selbstverständlich ist, dass man über sie gar keine Rechenschaft abzulegen braucht und schon gar nicht über die Gründe, aus denen sie so prekär ist. Was immer die Niederländer sich über ihre staatliche Souveränität einbilden mögen: Deutschland findet sich zu klein; deswegen will und braucht Deutschland um sich herum eine EU mit Oberhoheit über seine formell noch immer souveränen übrigen Mitglieder; deswegen ist für Deutschland das Beharren der kleineren Nachbarn auf ihrer Autonomie ein Ärgernis und eine Gefahr – eben für Deutschlands großes Ziel, sich per EU mit den beiden anderen Giganten der globalen Mächtekonkurrenz messen zu können. Das Problem ist, dass die anderen, die kleineren Partner ein Problem damit haben, und zwar ganz folgerichtig ein umso größeres, je mehr die Union um Deutschland herum zum imperialistischen Subjekt gleichen Ranges wie die USA und die VR China ‚zusammenwächst‘, ihre Selbständigkeit für ein Projekt aufgeben zu sollen, dessen Richtlinien setzendes Subjekt sie nicht sind, jedenfalls viel weniger als das Monstrum in der Mitte des „zu seinem Glück vereinten“ Kontinents. Dass dieses Problem mit friedlichen Mitteln, weder denen des Binnenmarkts noch denen eines gemeinsamen Grenzschutzes, nicht aus der Welt zu schaffen ist, liegt am Widerspruch der Konstruktion einer gesamteuropäischen Macht ohne wirkliche förmliche Liquidierung der Souveränität ihrer Mitgliedsmächte. Aus der interessierten Sicht Deutschlands stellt sich dieser Widerspruch freilich als irrationaler Widerstand unaufgeklärter Nationalisten gegen eine große gemeinsame Zukunft dar. Den hat man im Fall der niederländischen Wahlen bei Wilders verortet. Und deswegen nimmt man am Wahlergebnis nichts weiter wahr als, hocherfreut, dass es gegen Wilders ausgefallen ist.
Die entsprechenden Komplimente kriegen die Nachbarn an der Nordsee natürlich nicht im Namen des deutschen Interesses am Fortgang des imperialistischen Großprojekts EU überreicht, sondern für ihre grundvernünftige Widerstandskraft gegen die populistische Verführungskunst der Rechten. Und da ist es ganz interessant, dass und wie man sich in Deutschland diesen hochwillkommenen Akt demokratischer Räson erklärt, nämlich als Effekt opportunistisch berechnender Effekthascherei. Erstens – heißt es – hat der überraschende Wahlsieger Rutte dem EU-feindlichen Nationalpopulisten Wilders schon einen ganzen langen Wahlkampf hindurch seine ausländerfeindlichen ‚Argumente‘ geklaut, hat z.B. alle Fremdvölkischen mit der Alternative ‚Anpassung ohne Wenn und Aber, freiwillige Ausreise oder Rauswurf‘ bekannt gemacht und in allen Auseinandersetzungen mit dem rechten Original den Regierungsbonus ausgespielt, dass er die richtigen, sachgerecht maßvollen Entscheidungen zu treffen hat, während die Opposition von rechts, weil nicht an der Macht, nur Gerede bieten kann. Zweitens hat ihm der türkische Kollege mit seinen auf etliche EU-Länder ausgedehnten Werbefeldzügen für sein Verfassungsreferendum eine Steilvorlage für die Konstruktion eines Feindbildes geliefert, mit dem er sich als heldenhafter Verteidiger der niederländischen Freiheitsliebe in Szene setzen konnte: Auf die Behinderung seiner Kampagne hat Erdoğan, schon fertig stilisiert zum islamistischen Totengräber der türkischen Demokratie, die dem Niederländer bekanntlich seit jeher ein Herzensanliegen ist, mit wüsten Pöbeleien gegen das EU-Mitglied reagiert; da ist Rutte als amtierender Anwalt der erstens nationalen, zweitens demokratischen Ehre der Niederländer zu großer Wahlkampfform aufgelaufen und hat seine Patrioten mit einer Absage an die in Erdoğan personifizierte islamisch-türkisch-autoritäre Versündigung an der abendländischen Demokratie bedient. Drittens schließlich hat ihm der Auftritt einer türkischen Ministerin kurz vor der Wahl die schöne Gelegenheit geboten, den Triumph niederländisch-demokratischer Gesinnungsfestigkeit per Abschiebung einer Symbolfigur über die niederländische Ostgrenze zu inszenieren; das hat ihm nach Auffassung der Fachleute, die aus den analphabetischen Wahlstimmen des Volkes lauter elaborierte politische Urteile herauszulesen verstehen, die letzte Extraportion Zustimmung eingebracht – auf Kosten seines radikal gleichgesinnten, aber nicht regierenden Widersachers. So hat Rutte exemplarisch vorgemacht, was Merkels Anhänger von ihrer Chefin erwarten: den Rechtsextremen ihren Standpunkt weggenommen, die Kritik am Handeln der Regierung praktisch widerlegt, die Ausländer- und Islamfeindschaft dadurch von ihrem oppositionellen Radikalismus gereinigt, also ins Recht gesetzt und damit das Volk betört.
Dass er damit eine weitere Zersetzung der EU einstweilen abgewendet, in der Bildsprache der Experten: das ‚Viertelfinale‘ im europäischen Wahljahr vor dem ‚Halbfinale‘ in Frankreich und dem ‚Finale‘ in Deutschland für die EU gewonnen hat: Das macht aus Ruttes Wahlkampfmanöver die Heldentat, die aus Deutschland uneingeschränktes Lob verdient.
4. Ein Etappensieg im Saarland und ein Achtungserfolg in Washington
Auf den Erfolg der europäischen Friedensordnung in den Niederlanden folgen gleich zwei schöne Erfolge der Kanzlerin als Repräsentanz der weltpolitischen Vernunft in Person sowie ihrer Stellvertreterin in Deutschlands westlichster Provinz.
Im Saarland triumphiert, schon wieder in freier Wahl, ein tiefer konservativer Widerwille gegen einen Wechsel der Herrschaft, der zu gehorchen das wahlberechtigte Volk sich gewöhnt hat. Er triumphiert in der Person der in großer Koalition schon seit längerem regierenden Ministerpräsidentin. Und zwar erstens über die rechtsradikale Alternative zum etablierten Parteienproporz; die gewinnt zwar aus dem Stand 9 %, aber mit Blick auf die vorherigen Befürchtungen kann das gut als ein ‚bloß‘ verbucht werden. Ob zu diesem Erfolg Kramp-Karrenbauers Einfall beigetragen hat, das niederländische Vorbild freiheitlich-islamfeindlicher Erdoğan-Kritik zu kopieren – demonstrativ wurde Werbeauftritten türkischer Regierungsleute, die freilich gar nicht geplant waren, ein Verbotsriegel vorgeschoben –, darf gern offen bleiben; gewonnen hat auf jeden Fall die Elementargleichung des demokratischen Staatsbürgerverstandes, dass, wer die Macht schon hat, sie dann offenbar auch verdient. Gewonnen hat sie auch gegen das zarte Bündnis der beiden ortsansässigen Sozialdemokratien; damit bekommt der hoffnungsvolle SPD-Kanzlerkandidat gleich indirekt den Bescheid, dass womöglich sogar er zu alternativ ist für Europas maßgebliches Wahlvolk.
Die Kanzlerin selbst absolviert derweil, fern von jedem Wahlkampf-Engagement und in der ihr eigenen wahlwerbewirksamen Nüchternheit, ihren großen Auftritt als die ziemlich letzte, jedenfalls wichtigste Bastion weltmarktwirtschaftlicher Besonnenheit und strategischer Vernunft in der ‚Höhle des Löwen‘, bei der Weltmacht in Person ihres neuen, aus deutscher Perspektive in jeder Hinsicht – welthandels- wie weltordnungspolitisch, sicherheitsstrategisch, menschenrechtlich und überhaupt charakterlich – fragwürdigen Managers und Dealmakers Trump. Als leibhaftigen Ausweis der machtvollen, weltweit respektierten Gleichung von deutschem Reichtum, gegründet auf deutscher Kapitalproduktivität, deutscher Liberalität und deutscher Verantwortung für eine menschheitsdienliche Globalisierung nimmt Merkel deutsche Spitzenmanager mit nach Washington; die dürfen der neuen Administration aus Laien und Milliardären erklären, dass deutsches Kapital gar nicht nur per Export an Amerika verdient, sondern auch mit einer Großtat, auf die auch ‚America first‘ unmöglich verzichten kann, nämlich indem es Hunderttausenden amerikanischen Eingeborenen ihren American Dream erfüllt und sie für deutsche Konzernprofite als hard-working Ausbeutungspersonal in Dienst nimmt. Mit diesem Auftritt beim US-Präsidenten dokumentiert die Kanzlerin einerseits Deutschlands zweite große Sorge neben dem drohenden Zerfall der EU, nämlich, dass auch die andere entscheidende Grundlage seiner Staatsräson zerbröckelt: die bislang von den USA unverbrüchlich garantierte freihändlerische Weltwirtschaftsordnung einschließlich freiem Zugang zum größten Kapitalstandort der Welt sowie Amerikas globales Abschreckungsregime, das dem freien Westen den bedingungslosen Zusammenhalt und die unbedingt nötige Kooperationsbereitschaft der restlichen Regime auf der Welt garantiert. Denn selbst mit ihrer EU als Multiplikator deutschen Reichtums, deutscher Macht und deutschen Einflusses in der Welt ist Merkels Nation bis auf Weiteres einfach zu klein, um ohne die transatlantische Schutzmacht den eigenen Ansprüchen auf Reichtum, Weltgeltung und Sicherheit durch militärische Überlegenheit genügen zu können. Als abhängige Variable ist Merkel andererseits nicht aufgetreten. In aller Gelassenheit, undramatisch, aber auch ohne jede falsche Bescheidenheit hat sie dem US-Präsidenten im Namen Europas und der ganzen kapitalistischen Welt die Botschaft überbracht, dass es in Amerikas wohlverstandenem existenziellem Eigeninteresse liegt, sich auch weiterhin so ‚offen‘ zu zeigen und die eigene Weltmacht so ordnungsdienlich zu betätigen, wie Deutschland es braucht und die Welt es gewöhnt ist. Im direkten Personenvergleich beim öffentlichen Beieinander-Sitzen im Weißen Haus hat sie es gut geschafft, mit dem Gestus vorurteilsfreien Entgegenkommens bei gleichzeitiger weltordnungs- und welthandelspolitischer Prinzipienfestigkeit die deutsche Staatsräson der unerbittlichen Geschäfte und der eigennützigen Inanspruchnahme amerikanischer Abschreckungsmacht als Forderungen der reinen Vernunft rüberzubringen; der Mann des ‚America first‘ mit seinem verweigerten Händedruck hat sich daneben aus deutscher Sicht wie ein Sinnbild der Ahnungs- und Konzeptionslosigkeit ausgenommen. Was einerseits gefährlich ist, andererseits Deutschland als europäische Führungsnation noch wichtiger macht.
5. Ein Referendum in der Türkei und die Sorgen, die dessen Ausgang deutschen Freunden der Demokratie bereitet
Das europäische Superwahljahr geht weiter mit der Abstimmung in der Türkei über eine neue Präsidialverfassung. So richtig zu Europa gehört die Türkei zwar nicht, und zur EU schon gar nicht. Doch nur umso mehr trägt das Referendum bei zu Deutschlands schwerer Führungsverantwortung für Europa und Europas Nachbarschaft, und außerdem zur Entwicklung der leitkulturellen politischen Stimmung im Land. Denn die Türkei und ihre Türken gehören nun einmal zum angestammten Zuständigkeitsbereich deutsch-europäischer Demokratie-Aufsicht.
Grundsätzlich geht es der deutschen und der von Deutschland maßgeblich mitdefinierten europäischen Türkei-Politik um Einbindung und Auf-Distanz-Halten zugleich; zusammengenommen um eine Zuordnung des Landes zur EU, die seine ökonomische und strategische Ausnutzung durch den europäischen Machtblock sichert, ohne den türkischen Machthabern umgekehrt Einfluss auf die oder gar in der EU zuzugestehen. Für diese Politik hat sich der Parteichef, Ministerpräsident und schließlich Präsident Erdoğan mit seiner ziemlich erfolgreichen ‚Türkei zuerst‘-Strategie je länger, je mehr als Hindernis erwiesen; seine Eigenständigkeit und die Macht, die ihm dafür zu Gebote steht, sind gewachsen; und in demselben Maß ist er auf der Skala demokratischer Tugendhaftigkeit, die angibt, inwieweit Europa den Chef der Türkei noch als ‚ihren Mann am Bosporus‘ verbuchen kann, schwer nach unten gerutscht. Dass die deutsche Kanzlerin ihn erfolgreich in ihre Politik der gesamteuropäischen Fluchtursachenbekämpfung eingebaut hat – es ging und geht um die ‚Fluchtursache‘ des freien Zugangs zum Ägäischen Meer von türkischer Seite, für deren Beseitigung Erdoğan sogar Geld für Flüchtlingscamps erhält und einzelne Migranten loswerden kann –, macht den Mann unter Europas Politikern noch unbeliebter: Die einen hassen ihn als Helfershelfer einer Berliner Migrations- und Grenzsicherungspolitik, der sie krachendes Scheitern wünschen; die anderen stören sich an der Abhängigkeit des Erfolgs dieser Politik von den Berechnungen des Chefs einer längst viel zu emanzipierten und gewichtigen Türkei. Seit der Präsident einen Putsch überstanden hat und diesen mit durchgreifenden ‚Säuberungen‘ in seinem Staatsapparat quittiert, sieht man in Europa in ihm nicht einen Notstandsverwalter, wofür man ja allenfalls Verständnis haben müsste, sondern einen autoritären Feind der Meinungsfreiheit seiner Gegner. Und gemäß dieser Einordnung erkennen Europas Demokraten in der Präsidialverfassung, mit der Erdoğan tatsächlich seinem Volk sich selbst als auserlesenen machtvollen Führer schenken will, einen unheilbaren Bruch mit allen europäischen Werten. Interessanterweise wird dieses Verdikt mit der Diagnose verbunden, dass es mit der Macht, die der ‚Pseudo-Sultan‘ sich reserviert, nicht weit her ist: Der türkische Kapitalismus ist in der Krise, zumindest demnächst, wenn Erdoğan sich endgültig das Wohlwollen westlicher Kapitalisten verscherzt haben wird; seinem Regionalimperialismus wird eine ganze Kette von Niederlagen und Schwächezeichen nachgesagt, die durch eine Kumpanei mit den Russen schon gleich gar nicht zu kompensieren seien. Deutlicher kann es eigentlich gar nicht mehr werden, dass der Vorwurf der Autokratie für den politischen Willen der EU steht, die Türkei auf keinen Fall als eigenständige respektable Macht anzuerkennen, vielmehr darauf hinzuwirken, auch durch eine Politik der absichtsvollen Schwächung, dass sie sich in die Rolle der abhängigen Peripherie, der Kapitalanlagesphäre und der ‚Brücke zum Orient‘ fügt, die die EU für sie vorgesehen hat. Dabei ist aber kein Zweifel daran erlaubt, dass diese Politik der Degradierung und Funktionalisierung der Türkei allein den lautersten demokratieidealistischen Beweggründen folgt und die Türken vor der Vergewaltigung ihrer freien Meinung retten will. In der Auseinandersetzung mit der türkischen Kampagne für eine Herrschaftsmethode, die den Volkswillen mit dem ihres großen Chefs kurzschließt, hat sich diese Erdoğan-Schelte zu einer regelrechten Gegenkampagne ausgewachsen; mit welchem Zweck und Ergebnis, das ist an der Wahl in den Niederlanden schon deutlich geworden. Der Berliner Regierung gibt diese Zuspitzung, noch einmal verschärft im Fälschungsverdacht gegen das knapp zustimmende Ergebnis des Referendums, die schöne Gelegenheit, zu allseitiger Zurückhaltung beim wechselseitigen Beschimpfen zu mahnen und daran zu erinnern, dass die Türkei weiterhin ein wichtiger Partner bleibt. So verbindet sie die Bevormundung des türkischen Staates aus Gründen freiheitlich-demokratischer Prinzipientreue mit demonstrativer Mäßigung aus Gründen außenpolitischer Vernunft und setzt sich einmal mehr als ebenso erzfreiheitliche wie diplomatisch besonnene, dabei mit ihrer wirtschaftlichen Stärke und ihren intensiven Beziehungen zur Türkei allein zu wirksamer Einflussnahme fähige Führungsmacht in Szene, richtlinienkompetent in Sachen Türkei und der angrenzenden nahöstlichen ‚Unruheregion‘ überhaupt.
Einen Extrabonus für die demokratische Kultur des deutschen Wahlkampfs wirft das türkische Referendum außerdem noch ab. Von der knappen Hälfte abstimmungsberechtigter Türken in Deutschland, die sich in die großzügig zur Verfügung gestellten Wahllokale bemüht hat, haben knapp zwei Drittel für Erdoğan, also gemäß deutscher Sicht gegen Meinungsfreiheit und Demokratie gestimmt. Das lässt etliche Lehrmeister der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, nicht nur aus den C-Parteien, ernstlich an der Gesinnung dieser Mitbürger zweifeln. Dabei wird ganz direkt von mangelnder Liebe zu den demokratischen Freiheiten, die die Menschen in Merkels Republik genießen dürfen, auf mangelnde Integration geschlossen, auf willentliche oder fahrlässige Fremdheit gegenüber dem Land, in dem die reine demokratische Freiheit herrscht; so direkt, dass in dem verlangten und vermissten Ja zum Anti-Erdoğan-Höchstwert Demokratie der eigentliche und eigentlich gemeinte Inhalt kenntlich wird: Das Substanzielle an den Verfahrensregeln der Demokratie ist der Kollektivismus der Nation, die so verfährt; die Wahrheit der verlangten Freiheitsliebe ist patriotische Linientreue. Fachleute der großen Regierungspartei fordern dementsprechend, als Quittung für falsches Abstimmungsverhalten so vieler Türken, die Abschaffung des Doppelpasses, den man ihnen mal konzediert hat. Die kritische Fehlanzeige betreffs freiheitlicher Gesinnung ist eben nichts als ein Plädoyer auf Ausgrenzung, für klare Volksverhältnisse; und ausdrücklich so ist sie dann auch gemeint. Damit empfiehlt man sich in Deutschland zur Wahl.
6. Großbritannien reicht die Scheidung ein, Merkel will die europäische Familie zusammenhalten, also erneuern
Zwischendrin übersendet Premierministerin May den Brief mit der britischen Austrittserklärung an die EU-Spitze in Brüssel. An der Sache ist nichts neu. Das Volk im Vereinigten Königreich hat schon im vorigen Jahr falsch entschieden; dass die Entscheidung nicht zurückgenommen wird, steht auch fest; man hat sich allenthalben darauf eingestellt. Jetzt können die Verhandlungen also losgehen.
Was dabei aus europäischer Sicht und deutschem Interesse erreicht werden muss, ist ein Deal mit der britischen Regierung, der den EU-Ländern und ihrem Binnenmarkt möglichst gar nicht schadet, dafür den Briten die Nachteile eines Ausstiegs aus der Union deutlich und schmerzhaft fühlbar macht. Unbedingt notwendig ist Letzteres vor allem aus dem übergeordneten Grund, den restlichen Laden ungebrochen und unverbrüchlich beieinanderzuhalten: Mehr als anderswo fürchtet man in Brüssel und vor allem in Berlin, dass der Brexit Schule machen könnte. Tatsächlich geht es um nichts Geringeres, als die Lebenslüge der EU zu retten, nachdem sie vom drittwichtigsten Mitglied, so bedeutend wie 20 von den verbliebenen, gekündigt worden ist; eine Rettungsaktion, die den Widerspruch der Union quasi neu in Kraft setzt: Die nunmehr 27 Mitgliedsstaaten sollen bedingungslos zusammenhalten, sich dem in Brüssel institutionalisierten gemeinsamen Regime irreversibel unterordnen, ihre Souveränität insoweit weggeben, ohne sie wirklich und in aller Form aufzugeben, also alle Folgen ihres Zusammenschlusses national verkraften; und diesen Widerspruch sollen sie sich leisten angesichts, aber ungeachtet der Tatsache, dass seine Verwirklichung für die verschiedenen Mitglieder Gegensätzliches bedeutet – für Deutschland jedenfalls einen Zugewinn an nationalem Nutzen, eine Potenzierung seiner ökonomischen Macht und politischen Wucht, einen Zuwachs an Richtlinienkompetenz innerhalb Europas und an Dominanz in der weltweiten Konkurrenz der Mächte; für die meisten anderen die Unterordnung unter ein politisches Regime und die Funktionalisierung für einen Kapitalismus, deren Macher und Nutznießer sie selbst am allerwenigsten und am allermeisten die mächtigen Deutschen in der Mitte des Kontinents sind. Das falsche Versprechen, so kämen alle Beteiligten im Prinzip gleichermaßen auf ihre Kosten, an sonst unerreichbare eindeutige Vorteile, wären alle gleichermaßen die politischen Subjekte einer Großmacht weit größer als sie selbst, ist immer tapfer aufrechterhalten worden; freilich mit umso größeren Schwierigkeiten, je näher die Fortschritte der Union an die Alternative heranführen, dann doch förmlich auf unverzichtbare Teile ihrer Souveränität zu verzichten oder den ganzen Einigungsprozess zu stoppen. Jetzt steigt Großbritannien tatsächlich aus; und das kommt einem Spielabbruch gleich. Das Spiel wiederzueröffnen, das Konstrukt einer einheitlichen imperialistischen Macht aus Einzelstaaten, die zu ihrem Nutzen oder Schaden für sich selbst verantwortlich bleiben, neu in Kraft zu setzen, das ist der eigentliche Gehalt des Verhandlungsprozesses, in dem die 27 als unauflöslich einige Basis für die Etablierung eines neuen eindeutigen Kräfteverhältnisses zwischen der großen Europäischen Union und dem kleinen Großbritannien funktionieren sollen.
Die Berliner Regierung nimmt den Widerspruch ihres Europa-Imperialismus, der an der britischen Kündigung nicht scheitern darf, als schwierige, aber lösbare politische Aufgabe wahr. Sie nimmt sich vor, den 26 Partnern am Fall Großbritannien die Ausstiegsoption als GAU für deren wohlverstandenes nationales Eigeninteresse vor Augen zu stellen, ohne dass ihre Abschreckungspolitik als die Drohung, die sie ist und sein soll, verstanden und abgelehnt oder unterlaufen wird, und außerdem ohne Großbritannien als Partner zu verlieren, mit dem deutsche Unternehmer gute Geschäfte machen und mit dem zusammen Deutschland und auch ein deutsch formiertes neues Europa allemal mehr Gewicht in der Welt haben als ohne. Für die Lösung dieser Aufgabe trifft es sich gut, dass die Brüsseler Zentrale schon von sich aus auf harte Verhandlungen aus ist und dass sich bei manchen Partnern Ressentiments gegen ‚die Engländer‘ finden oder mit wenig deutscher Nachhilfe wecken und im Sinne einer Merkel-typischen Berechnung funktionalisieren lassen. Nämlich in der Weise, dass die deutsche Seite ihre antibritische Scharfmacherei, vorgetragen im Gewand der grundvernünftigen Maßgabe, dass es die Vorteile einer Mitgliedschaft im europäischen Club ohne die Kosten der Unterordnung unter dessen Regeln nicht geben kann, mit der Mahnung verknüpft, man dürfe den ausstiegswilligen Partner nicht bestrafen wollen. So empfiehlt man sich den Briten als übermächtiger, aber maßvoll agierender imperialistischer Akteur und zugleich allen Mitmachern als Wahrer der gemeinsamen Interessen gegen das ‚Rosinenpicken‘, das man den Briten umso mehr verwehren muss, weil es für die Mitglieder mit einer schwächeren oder negativen EU-Bilanz gar nicht erst zur wünschbaren Option werden darf. Und so rettet Merkel die europäische Friedensunion.
Einen kleinen Beitrag zur demokratischen Kultur des Abendlands leistet die britische Premierministerin im Nachgang zu ihrem Brexit-Brief auch noch, nämlich mit der Ansetzung von Neuwahlen noch im laufenden großen europäischen Wahljahr genau zwischen dem französischen ‚Halb-‘ und dem deutschen ‚Finale‘. Ohne demokratieidealistische Heuchelei verlangt sie von ihrem Wahlvolk eine bedingungsfreie Ermächtigung, die ihr mögliche Einsprüche, von welcher Seite auch immer, gegen ihre Freiheit bei dem Versuch der Neuaufstellung des Königreichs als kleine, aber feine Weltmacht außerhalb der EU vom Hals schafft: freie Wahlen für uneingeschränkte Handlungsmacht und in der Sicherheit, dass sie die auch bekommt – ohne das Risiko eines ‚Nein‘, das z.B. Erdoğan bei seiner Volksbefragung eingegangen ist. Auf der Höhe der Berechnung der britischen Chefin steht die deutsche Würdigung dieses Zugriffs auf den britischen Wählerwillen: Mit einer Selbstkorrektur des Volkes, einer Rückkehr in den Schoß der EU rechnet niemand mehr; was jetzt ansteht, ist die Neuformierung dieser Union ohne Großbritannien. Man wägt die Chancen, die sich aus der von May beim Wähler bestellten Ermächtigung ohne Wenn und Aber für den Verlauf der Verhandlungen ergeben könnten, und spekuliert auf Vorteile im deutschen Sinn aus der erhofften Schwächung der radikalen Europa-Gegnerschaft – auch so betätigt sich der nationale deutsche Sachverstand, dem nichts so selbstverständlich ist wie Deutschlands imperialistische Staatsräson als Messlatte, seine Bedienung oder Enttäuschung als eigentlicher Inhalt des Weltgeschehens.
7. Die französischen Wähler machen es richtig – im Sinne eines deutschen Europas
In diesem Sinn ist die erste Halbzeit des französischen ‚Halbfinales‘ im europäischen Superwahljahr gut ausgegangen: Als Gegner der offenbar unvermeidlichen Front National-Chefin Le Pen hat sich der Kandidat durchgesetzt, der am besten ins Schema der deutschen EU-Richtlinie ‚proeuropäisch = antipopulistisch‘ passt. Die Erleichterung ist groß, weil mit den 10 anderen Kandidaten nicht bloß alternative Repräsentanten einer zu Deutschlands Interessen und europäischen Vorgaben passenden französischen Staatsverwaltung zur Wahl standen, sondern Varianten einer EU-kritisch und in einem gar nicht deutschen Sinn revidierten Staatsräson für die Grande Nation. Von denen konnten die zwei radikalsten, rechts- und linksaußen, sogar erschütternde zwei Fünftel der Wählerschaft auf sich vereinigen. Deswegen folgt in Deutschland der Erleichterung auch sehr rasch die Sorge, ob der definitive Sieg ‚unseres Mannes in Paris‘ in der Stichwahl auch wirklich gesichert ist. Und der Sorge folgt die tiefer schürfende Analyse, warum beim wichtigen, fürs Funktionieren der EU unentbehrlichen linksrheinischen Nachbarn so viel grundverkehrte politische Einstellung im Schwange ist. In der Sicherheit, dass die Marktwirtschaft nach dem Idealbild, das man sich vom erfolgreichen deutschen Vorbild zurechtgelegt hat, freiheitlich, vernünftig, unschlagbar effektiv, human, also alternativlos und deswegen auch für Frankreich das einzig Senkrechte ist, entwickelt man Verständnis für die soziale Unzufriedenheit, die das Pariser Establishment sich weniger mit seiner Politik als mit seinen Versäumnissen beim Kopieren deutscher Verhältnisse zugezogen hat, um gleich anschließend den radikalen Nationalismus, in den diese Unzufriedenheit von ihren politischen Anwälten ganz rechts und auch ganz links – Unterschiede sind aus deutscher Sicht unbeachtlich – überführt wird, als Irrweg, als erst recht verderbliche Nicht-Lösung zu verwerfen. Denn billigen kann man natürlich weder die bis zur Kapitalismus-Skepsis vorangetriebene Unzufriedenheit mit dem herrschenden euro-marktwirtschaftlichen Regime als solche noch die antieuropäische Stimmung im Land noch den antidemokratischen Geist, dessen sich die Populisten von links- und rechtsaußen schon insofern schuldig machen, als sie mit ihrem Veränderungswillen weit von dem abweichen, was die Berliner Führungsmannschaft als verbindlichen Konsens aller Demokraten Europas definiert.
Insoweit nimmt man also Partei; und das so entschieden, dass sogleich die Warnung laut wird, zu viel deutsche Zustimmung zu Macron könnte bei dem bekannten patriotischen Eigensinn der Franzosen und angesichts ebenso verbreiteter wie unsachlicher antideutscher Ressentiments kontraproduktiv wirken und den Halbzeitsieg des deutsch-europäischen Hoffnungsträgers noch gefährden. Man hält sich also demonstrativ zurück – und nimmt rechts des Rheins auf diese selbstbezogen interessierte Weise, mit dem Blick auf Frankreich in seiner gegenwärtigen Verfassung als noch keineswegs entschärftes Problem für Deutschland, zur Kenntnis, dass die Franzosen mit der gegenwärtigen Verfassung ihres Landes ein durch einen bloßen Personalwechsel an der Spitze gar nicht zu bewältigendes Problem haben.
Der kapitalistische Fortschritt sieht in Frankreich, was seine Opfer betrifft, tatsächlich ein bisschen anders aus als in Deutschland; und der politische Umgang damit ist auch nur im Prinzip derselbe wie in Merkels Musterland. Dass Lohnarbeiter speziell in der Industrie in größerem Stil überflüssig gemacht werden, ihr über Jahrzehnte erkämpfter bescheidener Lebensstandard den Rentabilitätsrechnungen des modernisierten Kapitals an seinen führenden Standorten zum Opfer fällt, das wird dort noch weniger als in Deutschlands Zentren durch einige bessere und ganz viele ganz billige Jobs in dem Sektor, der auf die Äquivokation ‚Dienstleistungen‘ hört, kompensiert. Die Verelendung fällt nicht nur drastischer aus; sie trifft in besonderem Maß den kapitalistisch überschüssigen Nachwuchs. Und das zwar auf so ziemlich allen Karrierestufen; dabei verwahrlosen aber große Stadtrandgebiete mit jüngeren Jahrgängen ohne Chancen auf einen Gelderwerb gemäß der historischen und moralischen Norm. Dort lernen die Betroffenen den französischen Kapitalstandort als Konkurrenzkampf kennen, in dem sie aufgrund ihrer Herkunft, Rasse, Zugehörigkeit zu dadurch definierten Communities, auch solchen einer Minderheiten-Religion, keine Perspektive haben. Das prägt ihr falsches politisches Bewusstsein; und das gerade nicht durchwegs in dem Sinn, wie ihr Staat es von seiner proletarischen und subproletarischen Bevölkerung erwartet – der deutsche sogar mit viel Erfolg! –, nämlich im Sinne erst recht bemühter Anpassung. Ein erheblicher Teil reagiert mit Absagen an die unwirtliche französische Heimat bis hin zu gelegentlichen Ausbrüchen hoffnungsloser gewaltsamer Abwehr; mit einer Militanz, in der eigene Autoritäten und islamistische Agitatoren die ‚abgehängte‘ Mannschaft ebenso bestärken wie, ganz praktisch und wirkungsvoll, die heimische Staatsmacht, die auf – was sonst als auf – ‚Säubern‘ und ‚Aufräumen‘ verfällt und sich dabei, je näher am ‚Problem‘ umso mehr, an der unfranzösischen ‚Identität‘ dieser Klientel orientiert. Komplementär dazu lässt sich der andere, der im französischen Kapitalstandort traditionell und traditionsbewusst eingehauste Teil der Betroffenen des kapitalistischen Fortschritts seine Verelendung als ein großes ‚Obwohl‘ erklären: Diensteifrigen Eingeborenen geht es schlechter, obwohl sie doch ganz eindeutig waschechte Franzosen sind. Als solchen geschieht ihnen Unrecht. Damit finden sie ihre Lebenslage richtig interpretiert, ihr falsches patriotisches Bewusstsein aber noch keineswegs befriedigt. Das ‚Obwohl‘ verlangt nach einem ‚Weil‘. Und das wird ihnen von allen politischen Anwälten in unterschiedlich akzentuierten Fassungen geboten. Ursache des Elends sind demnach erstens die politisch Verantwortlichen: In eine Schuldfrage überführt, erklärt sich jedes ‚Warum‘ ganz von selbst durch den Verweis auf die Tatsache, dass es Zuständige gibt, deren ‚eigentlicher‘ Auftrag zur Besserung aller Verhältnisse umso nachdrücklicher beschworen und umso fester geglaubt, je weniger er eingelöst wird. Im französischen Fall ist diese Täuschung zu einer derart aufgeregten Absage an die gesamte regierende Obrigkeit geraten, dass sogar der amtierende Präsident das Urteil akzeptiert und erst gar nicht zur Wiederwahl antritt. Fortgesetzt wird die Identifizierung von Gründen des nationalen Elends zweitens mit dem anklagenden Fingerzeig auf den internationalen Kontext, in dem die Entrechtung der um ihre Gelderwerbschancen betrogenen Franzosen stattfindet, nämlich auf die EU und auf Deutschland. Denn nachdem klar ist, dass alles Elend und aller Jammer zutiefst unfranzösisch ist, kann die tiefere Ursache der Lage der Nation und ihrer Insassen nur darin bestehen, dass die Verantwortung für Land und Leute letztlich gar nicht mehr allein in französischen Händen ist. Bei der Fehlanzeige dürfen Linke an ein wahrhaft souveränes Parlament, Rechte an einen einheimischen Führer in Gestalt einer tüchtigen blonden Präsidentin, Konservative an eine Reinkarnation des französischen Katholizismus, Liberale und Junggebliebene an eine jugendliche liberale Identifikationsfigur des französischen Nationalstolzes denken; im Spektrum der Kandidaten ist für jeden patriotischen Geschmack etwas dabei. Zur Illustration der furchtbaren Folgen, die sich aus der Fremdbestimmung des Vaterlands unweigerlich ergeben, verweisen Rechte, Mittlere und ganz Rechte in edlem Wettstreit um die höchsten christlich-abendländischen Werte drittens auf unerwünscht zugereiste und immer noch unterscheidbare, also nicht ganz richtige Franzosen. Deren pures Da-Sein wird nicht nur als Schädigung der Eingeborenen im nationalen Konkurrenzkampf um einen Gelderwerb verbucht, so als wäre der ohne solche Mitstreiter ganz gut auszuhalten: Die werden pauschal und ganz persönlich für das Unrecht haftbar gemacht, das der Nation und ihren Insassen mit diesem Schaden angetan wird. So wird das falsche Bewusstsein der Opfer des kapitalistischen Fortschritts darüber in Kenntnis gesetzt, an wen es sich halten, gegen wen es sich austoben und vor allem von welcher echt französischen Führung es sich die Vollstreckung seines Bedarfs an sozialer Gerechtigkeit erwarten darf.
Insofern ist freilich auch klar: Das alles wirft einen modernen kapitalistischen Rechts- und Sozialstaat wie die französische Republik überhaupt nicht aus der Bahn. Vom französischen Nationalstandpunkt aus gesehen stehen jedoch die Probleme, die die Masse der Franzosen mit ihren systemgerechten Konkurrenznöten hat, für das große Problem, das die herrschende Elite selbst mit den Konkurrenznöten ihrer Nation hat, mit deren Misserfolgen im Kampf um Macht und Reichtum innerhalb der EU und mit dem so furchtbar gediegenen Nachbarn Deutschland. Die Grande Nation fällt zurück: objektiv, soweit sich das an nachzählbarem Kapitalwachstum und der Setzung europapolitischer Fakten festmachen lässt; in der Wahrnehmung der Verantwortlichen mitsamt ihrer patriotischen Anhängerschaft schon gleich, weil die die Lage an ihrem weltpolitischen Ehrgeiz und dem dadurch definierten Recht der Nation auf Erfolg messen; und das vor allem in der Frage der Führerschaft in der EU. Um das zu ändern, dafür braucht nicht bloß Frankreich ganz viel ‚Aufbruch‘; dafür müssen auch die in der EU geltenden Konkurrenzregeln korrigiert, revidiert oder, notfalls per Ausstieg aus dem Club, ganz ersetzt werden. Nicht darin, dass das nötig ist, sondern wie radikal mit der jeweils etwas unterschiedlich definierten Fremdbestimmung der Nation Schluss zu machen ist – darin unterscheiden sich die Fraktionen der nationalen Elite.
Mit diesem Problembewusstsein rühren die konkurrierenden Machtkämpfer an den Grund der für sie so unbefriedigenden Erfolgslage des Landes, das sie unbedingt regieren und in Konkurrenz vor allem zu Deutschland unbedingt wieder ganz stark machen wollen: an die imperialistische Sache, die dieser Konkurrenz ihren Inhalt gibt. Es geht – auch da wieder – um den mit jedem Fortschritt weiter zugespitzten elenden Widerspruch der EU-Konstruktion: (1) das Zusammenwirken ehrgeiziger Souveräne zwecks Potenzierung von Macht und Reichtum ihrer Nation über das national erreichbare Maß hinaus (2) um den Preis eines Opfers eigener Souveränität (3) bei fortdauernder national eigenverantwortlicher Abrechnung über und Haftung für die erzielten Resultate. Dabei ist Frankreich der eine entscheidende Betreiber dieses imperialistischen Großprojekts, nicht bloß Mitmacher; es ist unbedingt an der Einbindung des großen Nachbarn und an seiner möglichst weitgehenden Funktionalisierung für die eigene europäisierte Macht und Wirtschaftskraft interessiert, deswegen aber auf Kooperation und Rivalität, auf ein permanentes Kräftemessen mit Deutschland bei der Ausgestaltung und Ausrichtung des Gemeinschaftsunternehmens festgelegt. Bei der Fortschreibung des Widerspruchs zwischen nationalem Machtgewinn und Preisgabe von nationaler Souveränität geht es Frankreich daher immer um die Position der Führungsmacht mit europäischer Richtlinienkompetenz in Zusammenwirken und Auseinandersetzung mit Berlin: Die steht für Frankreichs Führer nach Jahren der Krise und eindeutigen deutschen Positionsgewinnen auf dem Spiel. Und das ist es, was die aktuelle Verfassung des Landes für seine wahlkämpfenden Chefs zu einer Notlage macht, die drastische Korrekturen auf allen Ebenen, nicht zuletzt auf der europäischen, erfordert. Und die dem wahlberechtigten Volk entsprechend drastisch nahegebracht wird: mit einer Beschwörung nationaler Missstände und Misserfolge, die für die eine Seite die Einheit, für die andere die nationale Identität des Volkes in Frage stellen, für die eine Seite den sozialen Frieden gefährden, für die andere schon längst eine Art Kriegszustand herbeigeführt haben.
Auf dieses Fazit bezieht man sich in Merkels Deutschland mit Sorgen: mit dem Sorgestandpunkt der konkurrierenden Führungsmacht, die einerseits von ihrer Überlegenheit an Kapitalwachstum und politischer Durchsetzungskraft keinerlei Abstriche zulässt, andererseits der Notwendigkeit Rechnung tragen muss, sich die Kooperationsbereitschaft des zerrütteten großen Rivalen zu erhalten. Diesen Widerspruch will man vom französischen Wähler aufgelöst haben: durch die Ermächtigung einer ebenso verlässlichen, machtvoll durchgreifenden wie gut lenkbaren neuen Präsidentschaft. In der Hinsicht ist die erste Halbzeit der französischen Schicksalswahl schon mal befriedigend ausgefallen; die linientreue Öffentlichkeit verteilt gute bis sehr gute Haltungsnoten an die ‚junge‘ und, dies vor allem, europa-affine ‚Bewegung‘ des Hoffnungsträgers Macron und warnt sich selbst und den französischen Wähler vor leichtsinniger Siegessicherheit. Die Untersuchung der Frage, ob sich nicht am Ende auch eine Präsidentin Le Pen ‚der Realität‘, nämlich einer europäischen Welt unter deutschem Regime, anbequemen muss, bleibt fürs Erste aufgeschoben.
8. Der Kampf um ‚die Mitte‘ von rechts: Der AfD-Parteitag und de Maizières ‚Thesen zur deutschen Leitkultur‘
Die deutschen Populisten ringen derweil um die Aufstellung ihrer Partei für den hiesigen Wahlkampf. Einig ist die Anti-Establishment-Partei im festen Willen, an die Macht gewählt, also das Establishment von morgen zu werden, entzweit aber über den Weg dorthin. Frontfrau Petry will dafür den islamophoben Rechtsnationalismus ihrer Partei von abschreckender Nazi-Rhetorik säubern und um die rechtsradikalsten Flügelspitzen stutzen, um ihn in der bestehenden Parteienlandschaft zu etablieren – was in Deutschland eine für Biedermänner wählbare rechte Partei von unwählbarer rechtsextremer ‚Fundamentalopposition‘ unterscheidet, sind in der Hauptsache falsche Töne in der ‚Erinnerungskultur‘. Dagegen bestehen Gauland und Co darauf, dass das Establishment sich aus der nationalen Gemeinschaft ausgrenzt, solange es den Patrioten von AfD und Pegida Extremismus vorwirft. Dem soll auf keinen Fall Recht gegeben werden. Angesichts einer kaum nachlassenden Hass-Welle gegen ungebetene Ausländer im Land, eines Seehofer und einer Politik der demonstrativen Abschiebungen sogar nach Afghanistan ist er sich sicher, dass die ganze Republik so weit nach rechts rückt, dass er mit seiner AfD dann breit in ‚der Mitte‘ steht.
Dass die Führungsriege der Partei sich über den Weg an die Macht zerstreitet, findet die deutsche Öffentlichkeit rasend interessant. Berichtenswert an den Konflikten ist für sie weniger deren politischer Inhalt, vielmehr dass sie zutage treten und auf öffentlicher Bühne ausgetragen werden. Damit disqualifiziert sich die AfD in den Augen der Presse, der die Transparenz über alles geht, mal wieder für jedwede Wahrnehmung politischer Verantwortung; ihre Streitereien zeugen – wie bei ihrem Gegenpart am anderen Ende des Parteienspektrums – von der Unfähigkeit dieser Aspiranten auf die Macht, dem Wähler zu bieten, was er als selbstverantwortlicher, den lebhaften Meinungsstreit liebender Demokrat in erster Linie erwarten darf: eine geschlossene Führung, die Widerspruch und Widerstand erfolgreich wegräumt – die Grundbedingung dafür, dass man sich hinter ihr versammeln kann und will. Komplementär dazu fällt die Berichterstattung über den Einspruch aus, der von den Anti-AfD-Demonstranten auf die Straße getragen wird: Ihr leitender Gesichtspunkt ist die Frage, ob alles friedlich bleibt; ihr Maßstab ist die staatliche Ordnung, die unter dem erbitterten Machtkampf der Parteien darum, dass sie in die rechten Hände kommt, keinesfalls leiden darf.
Die Amtsinhaber von der Großen Koalition, die die Wählerschaft geschlossen als ihren Besitzstand reklamieren, sehen sich durch die Versuche der rechten ‚Rattenfänger‘, ihnen Anhänger abzujagen, zu einer Gegenoffensive genötigt. Innen- und Justizminister, zwei Anpacker im Amt, verweisen auf die Gesetzesverschärfungen, die sie noch vor Ablauf ihrer Koalition auf den Weg gebracht haben. Wenn z.B. künftig den Gefährdern, die bei uns nichts verloren haben, eine elektronische Fußfessel angelegt wird, dann mag das zwar als Waffe gegen entschlossene Terroristen ziemlich albern sein, taugt in seiner handfesten Symbolik aber bestens als handfestes Hass-Posting fürs heimische Publikum. Und während die Schulz-SPD sich bemüht, den Rechten das Recht auf die politische Ausnutzung sozialer Unzufriedenheit streitig zu machen und in ein Wahlkreuz für sich zu überführen, arbeiten die Christdemokraten daran, für Menschen mit sogenannten Überfremdungsängsten wieder die unbestrittene Adresse ihrer Sorgen zu werden.
Ein einschlägiges Lockangebot ist dem Innenminister mit seinen zehn Thesen zur deutschen Leitkultur eingefallen, das er mit freundlicher Unterstützung der Bildzeitung (BamS, 30.4.17) den Massen unterbreitet. Mit der vereinnahmenden Frage „Wer sind wir? Wer wollen wir sein?“ leitet er seinen Sittenkatalog des Deutschen ein, wie der Christdemokrat ihn sieht. Keineswegs – das betont der Verfasser – sollen seine „Thesen“ als zehn Gebote verstanden werden. Er will auch nicht dafür argumentieren. Er stellt nur seinen sachlichen Befund vor: So sind wir Deutschen einfach, und weil es so ist, ist es so auch schwer in Ordnung. Er beschwört die Kraft des Faktischen – wer etwas gegen diese Sitten hat, „stellt sich außerhalb eines großen Konsenses„.
Die Identität der Deutschen besteht nach seiner Auskunft grundlegend in der kapitalistischen und imperialistischen Räson ihrer Staatsgewalt: „Einige Dinge sind klar. Sie sind auch unstreitig. Wir achten die Grundrechte und das Grundgesetz.“ Der Deutsche hält es nicht nur für selbstverständlich, dass eine Staatsgewalt ihn per Gesetz darauf verpflichtet, sich in der Konkurrenz um Einkommen durchzuschlagen. Er stellt sich laut de Maizière diese Konkurrenz auch als eine Art sportliche Maxime vor, mit der die Deutschen ihr Leben meistern: „Wir fordern Leistung. Leistung und Qualität bringen Wohlstand. Der Leistungsgedanke hat unser Land stark gemacht.“ Eine Menge Leute, die für den Wohlstand nicht bloß in Gedanken so ertragreich eingesetzt, mitunter auch entlassen werden, hat das offenbar arm gemacht, so dass es im starken Land jede Menge ‚sozial Schwache‘ gibt, die von ihrer Leistungsbereitschaft nicht leben können und ständig Hilfe brauchen: „Wir leisten auch Hilfe, haben soziale Sicherungssysteme und bieten Menschen, die Hilfe brauchen, die Hilfe der Gesellschaft an.“ Und zwar so knapp bemessen, dass für religiöse Prediger des Zusammenhalts der gesellschaftlichen Gegensätze noch genug zu tun bleibt: „Mit ihrem unermüdlichen Einsatz für die Gesellschaft“ funktionieren die Kirchen und Religionsgemeinschaften dankenswerterweise als „Kitt für unsere Gesellschaft„. Religionen – auch der Islam – tragen also zur Stärke Deutschlands bei. Zur Leitkultur seiner Eingeborenen gehört aber ebenso sein Aufstieg in und mittels Europa und zu ihrem Wohlbefinden das mächtigste Kriegsbündnis der Weltgeschichte: „Deutsche Interessen sind oft am besten durch Europa zu vertreten und zu verwirklichen.“ „Die NATO schützt unsere Freiheit.“
Das alles ist – meint de Maizière – nicht bloß Staatsräson. Das ist nicht bloß eine politische Sachlage, zu der man sogar als Deutscher so oder anders, womöglich sogar kritisch stehen kann. ‚Leistungsgedanke‘, ‚Freiheit dank NATO‘ etc. sind des Deutschen geistige Heimat; nichts, was man beurteilt, sondern ein Standpunkt, von dem aus der Deutsche die Welt anschaut; so gewohnt, also selbstverständlich und unhinterfragbar wie eine in Fleisch und Blut übergegangene familiäre Lebensart. Deswegen geht de Maizières Liste der Bestandteile deutscher Identität naht- und bruchlos weiter mit „ungeschriebenen Regeln unseres Zusammenlebens“ im Alltag, so wie ein als Kind gut erzogener Innenminister sie sich wünscht:
„Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei
Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.“
„Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.“
Beides läuft bei de Maizière unter „Gesicht zeigen„: Ein Gesetz, das Demonstranten verbietet, sich der polizeilichen Erkennung zwecks Kriminalisierung zu entziehen, entspringt ebenso der urdeutschen Vorliebe für vorbehaltlose Offenheit wie der unverstellte Blick ins Auge des Gesprächspartners, die sich im übrigen vor allem mit einer fremden Sitte nicht verträgt: „Wir sind nicht Burka!“ Denn wer sich – resp. seine Gattin – so verhängt, der mag sich dabei denken, was er will; deutsch ist das jedenfalls nicht. Was saudische Prinzessinnen sicher nicht überrascht, aber vor allem den gewöhnlichen Deutschen daran erinnert, dass er nicht bloß eine unverwechselbare Identität hat, sondern dass Fremdes einfach nicht dazugehört. Wobei die Kurve vom Äußerlichsten – Händeschütteln, unverschleierte Frauengesichter … – wieder zurückführt ins Allergrundsätzlichste: zum „unbedingten Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln„. Des Deutschen Bibel resp. Koran ist das Grundgesetz; der Gott, der sich darin offenbart, ist die Nation, die es erlassen hat, oder sagen wir die Staatsgewalt, die es auch immer wieder einmal ändert; der unbedingte, also auch durch nichts in Frage zu stellende Glaube daran ist deutsche Norm und Normalität. Das gehört sich mal wieder gesagt. Und zwar von der richtigen Instanz, die sich qua Profession auskennt in deutscher Lebensart und deswegen auch weiß, dass und welche Sorte expliziter Zustimmung zu dieser Art dazugehört:
„Wir sind aufgeklärte Patrioten.“
Vorbei sind die Zeiten des Nationalsozialismus, der im Namen des Vaterlands die Welt überfallen, Juden ausgerottet und dadurch den lieben Patriotismus ganz unverdient in Verruf gebracht hat. Genauso verfehlt und anormal war der ständige Vorbehalt gegen das Bekenntnis zur Nation: „Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus. Mal wurde er zum Nationalismus, mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen.“ Das hat die Liebe zum Vaterland nun auch nicht verdient; aber auch das ist nun Gott sei Dank vorbei: Wir Deutsche mögen wieder „unsere Nationalfahne und unsere Nationalhymne„, „Bach und Goethe“ und die Musik. Und überhaupt geht es in Merkels Deutschland gar nicht eigentlich um Kapitalwachstum und Machtentfaltung, sondern ums Höhere:
„Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland.“
Das ist, wenn schon sonst nicht so recht, ganz eindeutig daran zu sehen, dass z.B. unsere Politiker und Prominenten ihre Prominenz und ihren Rechtsanspruch auf Beifall besonders gern „bei der Eröffnung eines großen Konzerthauses“ – „great„, um mit Mister Trump zu sprechen, muss es freilich schon sein! – zur Schau stellen. „Wir haben“ eben „unser eigenes Verständnis vom Stellenwert der Kultur in unserer Gesellschaft„; womit man hierzulande angeben kann, das ist schon ganz speziell. Andere Sitten sind deswegen nicht unbedingt verwerflich, „nicht besser oder schlechter“ als die unseren. Aber de Maizières guten Deutschen prägt die Parteilichkeit für seine Staatsmacht, die die Mitte Europas beherrscht – „Kein Land hat mehr Nachbarn als Deutschland.“ „Europa wird ohne ein starkes Deutschland nicht gedeihen.“ –, bis in seine lokalen Befangenheiten, seine nachbarschaftliche Borniertheit, ja bis in seine Sinnlichkeit hinein:
„Die heimatliche Verwurzelung, … die Verbundenheit mit
Orten, Gerüchen [steht so da in These 10!] und
Traditionen, … gehören zu uns und prägen unser Land.“
Mit seiner Schatztruhe deutscher Sitten und Gebräuche bestätigt de Maizière die Gewissheit der Fremdenhasser, die jeden Flüchtling riechen und Migranten überhaupt nicht riechen können, dass all diese Ausländer überhaupt nicht zu uns passen; das ist die eine entscheidende Botschaft, für die der Innenminister die halbe Bildzeitung mit seinem Leitkultur-Katalog vollgeschrieben hat. Dabei kommt es ihm genauso entscheidend auf den zweiten Teil an: Aus Sorge um die deutsche Lebensart eine Partei rechts von den C-Parteien zu wählen, die ‚Merkel weg‘ haben will, weil sie Ausländer reingelassen hat und nicht sofort alle mit allen Mitteln wieder rausschaffen lässt – das geht gar nicht! Denn abgesehen davon, dass sich die C-Parteien tatkräftig darum kümmern, alle nicht zu uns passenden Ausländer außer Landes zu befördern, passt das überhaupt nicht zu unserer Leitkultur. Ein wirklich guter Deutscher ist sich nämlich bewusst: „Aushalten müssen wir sicher einiges„, nämlich die vielen ungebetenen Ausländer im Land; aber die hält er auch locker aus, weil sein Glaube an sein von deutscher Kultur geprägtes Vaterland ihm die Kraft dazu gibt:
„Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark. Stärke und innere Sicherheit der eigenen Kultur führt zu Toleranz gegenüber anderen.“
Die Rechten rechts von den C-Parteien sind also bloß zu schwach oder zu kleinmütig, also letztlich zu wenig wahre Patrioten, um in gelassenem Vertrauen auf die Großartigkeit der deutschen Nation auch mal großzügig mit fremdvölkischen Sitten zu sein. Mit der Belehrung schafft es der Minister, das bei der rechten Konkurrenz verhasste Toleranzgebot ausgerechnet aus deren eigener Sorge um die nationale Identität herzuleiten. Er geht sogar noch weiter und verspricht, das Problem mit den lästigen Fremden ließe sich durch vorbildliches Deutschsein aus der Welt schaffen: „Wenn die Leitkultur uns im besten Sinn des Wortes leitet, dann wird sie ihre prägende Wirkung auf andere entfalten. Auch auf die, die zu uns kommen und bleiben dürfen.“ Wenn man als guter Deutscher nur ganz gelassen für die deutsche Fußballnationalmannschaft grölt, dann teilen am Ende auch zugereiste Billigstarbeiter und das jugendliche Subproletariat ‚mit Migrationshintergrund‘ unser „gemeinsames kollektives Gedächtnis für Orte und Erinnerungen„, etwa an den „9. November … oder auch den Gewinn der Weltmeisterschaften„. Die, die nicht bleiben dürfen, sind dann ohnehin längst weg.
So also gräbt die C-Partei der AfD das Wasser ab – mit der doppelten Botschaft: Islamis sind zum Kotzen, aber ein Guter hält’s aus und sorgt dafür, dass die sich anpassen, bis sie gar nicht mehr stören. Wer ist jetzt also der wahre ‚patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘?
Auf dieses Stück nationaldemokratischer Überzeugungsarbeit im deutschen Wahljahr fällt dem obersten Wahlkämpfer der AfD eine Replik ein, die dokumentiert, wie geläufig ihm die Standardargumente der demokratischen political correctness sind:
„So lobenswert die Forderungen nach einer deutschen Leitkultur auch sein mögen, umso schändlicher ist es, die deutsche Kultur für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen.“ (Alexander Gauland, AfD-Website)
Die saubere Trennung zwischen höchsten nationalen Glaubensgütern und den Niederungen des Wahlkampfs gehört seit jeher zum Repertoire demokratischer Wahlkämpfer.
9. Der 1. Mai: Kampftag der Arbeiter-Lobby und der rechten Freunde der nationalen Arbeit
Zwischen all den wichtigen demokratischen Events findet, wie immer am 1. Mai, der ‚Kampftag der Arbeiterklasse‘ statt, den Hitler als Feiertag des sozialen Nationalismus seinem Volk geschenkt hat. Der DGB, der die Tradition dieses kämpferischen Feiertags in der BRD wieder hat aufleben lassen und in Form von machtvollen Kundgebungen hütet, kämpft dieses Jahr – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – unter dem Motto: „Wir sind viele. Wir sind eins.“ Die Parole will von einem Gegensatz der lohnabhängigen Arbeitnehmer zu Wirtschaft und Staat nichts wissen, lässt nicht einmal die leiseste Unzufriedenheit oder Forderung verlauten. Stattdessen beschwört sie, was diesem Verein im neuen Jahrtausend nach dem gewerkschaftlichen Lebenszweck, für Lohninteressen zu kämpfen und dafür die Konkurrenzinteressen seiner lohnabhängigen Mitglieder zeitweise zu stornieren, auch noch abhanden kommt: eine bedeutsame Masse an Anhängern, von Betroffenen des kapitalistischen Wachstums und seiner Fortschritte, die sich zusammentun und gegen die ebenso unausbleiblichen wie für sie unbekömmlichen Wirkungen ihrer Lohnabhängigkeit kollektiv zur Wehr setzen. Tatsächlich würde die Organisation eines solchen Kollektivs eine gewisse Kritik an der eigenen Stellung im System der Lohnarbeit als Manövriermasse des Kapitals einschließen, eine Einsicht in die ärgerliche Notwendigkeit, zusätzlich zu den Mühseligkeiten des Jobs auch noch ein Opfer an Zeit und Geld für eine wirksame Gegenwehr auf sich zu nehmen, um vom Lohn leben zu können. Die deutsche Gewerkschaft jedoch will gar nicht mehr sein als eine Service-Agentur für Konkurrenzkämpfer, die sich in ihrem privat geführten Lebenskampf nicht auch noch am Arbeitsplatz übers Ohr hauen lassen wollen, eine Rechtsvertretung für Entgeltempfänger; und außerdem eine Lobby, die bei der politischen Standortverwaltung beharrlich für eine bessere hoheitliche Betreuung der Arbeitswelt mitsamt ihrem Arbeitslosen- und Alterselend wirbt. Das ist der proletarische Klassenstandpunkt, den der DGB den „vielen„, die sein Motto zitiert, als Vereinszweck anbietet.
In diesem Geist geraten Zweck und Form des gewerkschaftlichen ‚Kampftags‘ zur Versammlung möglichst vieler treuer Seelen, die mit ihrer schieren Anzahl so etwas wie eine Kampfkraft simulieren und die unübersehbare Bedeutsamkeit des Arbeiterstandes und seiner Interessenvertretung gegenüber der Politik demonstrieren sollen. In diesem Sinne lädt die Gewerkschaft die Politik zu einem feierlichen Tauschgeschäft ein: Die SPD-Ministerin Nahles, die dem DGB am 1. Mai ihre Aufwartung macht, verschafft der Gewerkschaft ein paar Extra-Minuten im öffentlichen Fernsehen, und die Gewerkschaft verschafft der Arbeitsministerin eine Extra-Plattform im Wahlkampf, auf der sie der deutschen Arbeitnehmerschaft kämpferisch versichern kann, nicht nur jetzt schon alles bestens zu ihrem Wohle geregelt zu haben, sondern auch in Zukunft im Namen der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ noch einiges am Leben mit und nach der Lohnarbeit verbessern zu wollen.
Zum Anwalt der überhaupt nicht verschwundenen Unzufriedenheit mit den schon gar nicht verschwundenen mageren Lebensverhältnissen einer erst recht nicht verschwindenden Masse von Lohnabhängigen in Merkels Land macht sich derweil, mit ihrer Radikalität allein auf weiter Flur, ausgerechnet die rechtsradikale ‚Alternative‘ – nicht zum System der Lohnarbeit, sondern „für Deutschland„. Die okkupiert – Adolf grüßt von ’33 rüber – den 1. Mai als Kampftag für den ebenso dummen wie schädlichen, weit über die AfD-Anhängerschaft hinaus verbreiteten Fehler, von jeder Sorte Elend, die im Land anzutreffen ist, auf Vernachlässigung des gesunden deutschen Volkskörpers durch eine pflichtvergessene Obrigkeit zu schließen. Sie fordert, mit lauter polemischen Grußadressen an die große Klasse der Schlechterverdienenden und ‚Ausgemusterten‘, mehr staatliche Gewalt, nämlich gegen fremdes Volk im Land, als einzig passendes Lebensmittel für das Volk, diese leibhaftige politische Abstraktion von allen gesellschaftlichen Klassen und ökonomischen Interessengegensätzen.
Dass die radikale Rechte mit der Vereinnahmung sozialer Unzufriedenheit für ihr ‚Deutsche Zuerst!‘-Programm Anklang findet, ist schon blöd genug. Noch blöder allerdings, dass es ihr mittlerweile ganz gut gelungen ist, auch die umgekehrte Lesart ihrer Gleichung zwischen sozialer Unzufriedenheit und patriotischer Ausländerfeindlichkeit in Deutschlands demokratischen Diskurs einzuführen: Mittlerweile steht jede Opposition gegen die landeseigene Armut, die eine Tendenz zur Absage an den herrschenden politischen Konsens und die allgemeine moralische Bürgerpflicht zur Zufriedenheit in Merkels Land erkennen lässt, sofort unter dem Verdacht, rechtsradikalen Umtrieben Vorschub zu leisten oder überhaupt auf dem Mist der Islamophobie und des Ausländerhasses gewachsen zu sein. Und zusätzlich peinlich, dass Deutschlands Gewerkschaften so viel damit zu tun haben, sich von den empörten Nationalisten abzugrenzen und ihre Verantwortung für die Demokratie zu beschwören, dass sie sich vom Standpunkt sozialer Unzufriedenheit, geschweige denn einer Absage ans regierende marktwirtschaftliche Establishment, gleich mit abgrenzen – zu dem gehören sie nicht bloß dazu, sondern wollen auch nichts anderes sein.
10. Die französischen Wähler machen es richtig – der Gewählte auch
Eine Woche später, zurück in Frankreich, ist auch die zweite Halbzeit des ‚Halbfinales‘ im europäischen Superwahljahr – aus deutscher Sicht, also überhaupt – gut ausgegangen. Der bekennende Europa-Freund Macron hat die anti-europäische, also ewiggestrige Nationalistin Le Pen besiegt. Und schon wieder werden unmittelbar danach Bedenken laut, ob der Sieg des Guten damit wirklich gesichert ist. Zwar haben die Franzosen dem richtigen Auftragnehmer in das höchste Staatsamt verholfen, doch die Eroberung der Macht im Staate für die gute Sache ist damit noch lange nicht fertig. Und es bleibt noch völlig offen, ob und inwieweit dieser Europa-Freund seine Macht wirklich im Sinne des Auftrags einsetzen will, den Europa ihm von Berlin aus erteilt hat.
Die erste Bewährungsprobe des frisch gewählten Präsidenten besteht darin, seine „En Marche!„-Bewegung auf einen erfolgreichen Marsch durch die Institutionen zu schicken, und zwar zunächst und vor allem auf den ins Parlament. Bei der einschlägigen Wahl der Nationalversammlung im Juni ist in Deutschland eindeutig Mitfiebern mit Macron angesagt. Schließlich hat der junge parteilose Politiker in nur knapp zwei Monaten das hinzuorganisieren, wofür eine moderne demokratische Partei nach dem kompetenten Urteil der deutschen Öffentlichkeit überhaupt da ist: eine Wahlkampfmaschinerie, ein schlagkräftiges Instrument des Machterwerbs, und zwar nicht, um etwas so Überholtes wie ein bestimmtes ‚Partikularinteresse‘ oder eine bestimmte ‚Weltanschauung‘ im Staat zu vertreten, sondern um einem charismatischen Volksführer zum ungestörten Durchregieren zu verhelfen. Macrons bunte, zur ‚Graswurzelinitiative‘ stilisierte Bewegung aller guten Franzosen von unten und über alle Parteigrenzen hinweg mag demokratisch erfrischend gewesen sein; doch die Eroberung des Parlaments und die Konsolidierung der Macht, die sie in die Hände ihres Führers gelegt haben, gebieten, dass diese Bewegung jetzt entschieden von oben nach unten zu wachsen und vor allem dort feste Wurzeln zu schlagen hat, wo es auf sie wirklich ankommt: im Staatsapparat, als landesweit etablierte, mit Macht ausgestattete Gefolgschaft pur, ohne weitere Gesichtspunkte und jenseits aller überlieferten rechten oder linken Standpunkte, für den Mann mit einem Programm, das vor allem „Macron!“ heißt. Damit sein hoffnungsvoller Aufbruch nicht schon im Ansatz zur kontraproduktiven Notwendigkeit gerät, ‚faule Kompromisse‘ mit einem widerspenstigen Unterhaus zu schließen, wünscht Kanzlerin Merkel höchstselbst und im Namen der gesamten Bundesregierung und aller deutschen Bürger Macron „eine glückliche Hand“ bei seiner Mission, möglichst viele EM- oder EM-freundliche Abgeordnete in die Nationalversammlung zu bringen, die ihm mit ihrer freien Gewissensentscheidung den Weg zum Durchregieren frei machen und frei halten.
Von dieser Machtfülle verspricht sich auch Deutschland einen Nutzen, wenn sie tatsächlich zur Mehrung der Größe und Stärke der Nation verwendet wird – so ist das in der harmonischen europäischen Familie:
„Deutschland wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es Europa gut geht. Und Europa wird es nur gut gehen, wenn es ein starkes Frankreich gibt.“ (Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron, 15.5.17)
Mit dieser schlichten, mit brüderlichem Gestus vorgetragenen Kettengleichung bringt die Kanzlerin vor allem zum Ausdruck, wie wenig Frankreich allein darüber zu entscheiden hat, was Stärke im Falle Frankreichs bedeutet und wofür sie gut zu sein hat. Die Macht zum Durchregieren, die die Bundesregierung Herrn Macron so nachdrücklich wünscht, reicht nämlich exakt bis zu dem Punkt, an dem die deutsch-französische Freundschaft beginnt; ab da hat diese Macht einen Beitrag zu der Europäischen Union zu liefern, mit der Deutschland sein Wohl so grundsätzlich verknüpft, dass es daraus für sich das Recht ableitet, grundsätzlich und federführend zu definieren, worin ihr Wohl und das ihrer vielen Mitglieder besteht.
Was das Programm bzw. die „Vision“ des neuen französischen Amtskollegen für Europa anbelangt, ist in Deutschland nicht gleich Mitfiebern, sondern eine weitaus differenziertere Beurteilung und Wachsamkeit angesagt. Positiv schlägt zu Buche, dass Macron sein Kabinett mit – zumindest aus Sicht der deutschen Öffentlichkeit – mehreren Deutsch- und Deutschlandverstehern bestückt, was schon mal einen soliden Anhaltspunkt für ihre Amtstauglichkeit und ihre europapolitische Kompetenz liefert. Zu begrüßen ist auch sein Aufruf zu einer neuen deutsch-französischen Führungsinitiative in Europa, was davon zeugt, dass dieser Mann weiß, wo Europas Herz schlägt; in dem Sinne schätzt man auch die Dankbarkeit, die Macron Deutschland und seinen in Mali kämpfenden und ausbildenden deutschen Soldaten für ihren überaus wertvollen Beitrag zur dortigen französisch geführten Terrorbekämpfung und Friedenssicherung zollt – laut Macron ein schönes Modell für eine französisch-deutsche Zukunft. Doch das ist auch schon ein bisschen zu viel des Guten, denn was Deutschland von der neuen französischen Regierung wirklich erwartet, ist eben nicht eine gewisse sprachlich, biographisch und weltanschaulich begründete Affinität zu den Deutschen, und schon gar nicht Lob für deutsche Beiträge zu einem französisch geführten Projekt. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Wie stellt sich Frankreich zur deutschen Führungsmacht über Europa, also auch über ein Frankreich, das die deutsche Regierung als ihren Mit-‚Motor‘ in Europa schätzt? In den Augen der Bundesregierung sind jedenfalls Bedenken angebracht, ob Macrons Vision wirklich zum deutschen Europa-Programm passt, welches eben keine deutsche Vision, sondern die alternativlose europäische Realität darstellt. Nicht vergessen sind Macrons Klagen im Endspurt des Wahlkampfs über den notorischen deutschen Exportüberschuss: Als Propaganda zur wahlkampfmäßigen Betörung einer europakritischen und deutschfeindlichen französischen Bevölkerung konnte man ihm das eine Weile durchgehen lassen, aber nach der Wahl, wenn Regierungsverantwortung angesagt ist, ist eine Reihe von Klarstellungen fällig.
Dazu gehört an erster Stelle die Erinnerung an gewisse unumstößliche Wahrheiten über das Phänomen des ‚Ungleichgewichts‘ im Außenhandel, speziell zwischen ‚Wettbewerbern‘ auf einem gemeinsamen Binnenmarkt. So etwas ist das naturnotwendige Resultat eines von der gewichtigeren Seite überlegen geführten Konkurrenzkampfes – was sich unter Freunden auch gut unter Weglassung der Worte ‚Konkurrenz‘ und ‚Kampf‘ ausdrücken lässt. Ein ‚Ungleichgewicht‘ lässt sich also, wenn überhaupt, nur dadurch korrigieren, dass der Unterlegene dem Stärkeren alles nachmacht – wohin auch immer der und sein proletarisches Fußvolk damit geraten. Deswegen kann die Bundeskanzlerin partout nicht erkennen, „dass Deutschland dafür als Erstes seine Politik ändern müsse„. Eine Revision der deutschen Wirtschaftspolitik durch mehr Investitionen und mehr Importe aus Frankreich kommt jedenfalls nicht in Frage; für die Gesundung unseres „Freundes und Verbündeten“ wäre damit nach guter kapitalistischer Dogmatik ohnehin nichts gewonnen. Deutschland könnte auch Macrons Vorstoß zum Ausbau diverser Euro-Institutionen oder zur Ernennung eines Finanzministers der Euro-Zone mit eigenem Budget durchaus etwas abgewinnen – sofern der dem Ziel dienen würde, das Deutschland bei seinen eigenen Aufrufen zu ‚mehr Europa‘ immer im Auge gehabt hat, nämlich der zuverlässigen Verpflichtung aller Partnerländer auf die Haushaltsdisziplin und die Wettbewerbsfähigkeit, die Deutschland vorlebt und vorgibt und die der Stärke des Euro, also dem deutschen Interesse an ihm dienen. Bevor Macron überhaupt die Chance bekommt, Eurobonds – also einen gemeinsamen Auftritt der europäischen Staaten auf den Finanzmärkten und eine gemeinsame Haftung für die Schulden, die sie da machen – überhaupt explizit ins Spiel zu bringen, schließt Schäuble sie schon mal präventiv aus. Alle Vorschläge zur Stärkung der EU sind zwar im Prinzip denkbar, aber manche Visionen – so der deutsche Vertreter nicht etwa eines deutschen Interesses, sondern ‚der Realität‘ – gehen einfach nicht, disqualifizieren sich als „augenblicklich unrealistische Änderung der EU-Verträge“ gewissermaßen von selbst. In diesen und anderen Fragen läuft die Reaktion der Bundesregierung stets auf das gleiche Prinzip hinaus: Jeder angemeldete Bedarf des französischen Wunderkinds nach Änderung und Erneuerung wird mit Wohlwollen und Daumendrücken behandelt, sofern er als französische Selbstkritik gemeint ist und nur das anmeldet, was Frankreich an sich und den anderen europäischen Defizitsündern zu ändern hätte.
Dass die Bundesregierung dem neuen Präsidenten viel Wohlwollen, aber kein Entgegenkommen zeigt; dass ihre angebotene Unterstützung nur dem Ziel dient und nur so weit reicht, wie Frankreich sich als nützlich für ein deutsches Europa-Programm erweist, an dem die Kanzlerin und ihr Schäuble nichts zu ändern gedenken – das veranlasst die regierungsinterne sozialdemokratische Opposition zu einer Kritik, die das deutsche Interesse an der Funktionalisierung Frankreichs für das deutsche Europaprojekt dreimal dick unterstreicht:
„Macron darf nicht scheitern, sonst wird Marine Le Pen in fünf Jahren Präsidentin sein und das europäische Projekt wird vor die Hunde gehen.“ (Sigmar Gabriel)
Und das verlangt, dass die deutsche Regierung dem Mann auch hilft, indem sie „den Mut“ aufbringt, „über eigene Positionen in der Währungsunion nachzudenken„. Die Chefin und ihre finanzpolitische rechte Hand sollten sich also wenigstens die Heldentat zutrauen, eine Revision – welche, ist fürs Erste nicht entscheidend – ihrer eigenen europapolitischen Ansprüche wenigstens als eine noch nicht komplett abgelehnte Sache zu behandeln. Und in der Zwischenzeit sollten sie dem neuen Partner in Paris wenigstens den Eindruck gönnen, beim Ausland Eindruck gemacht zu haben, zumal beim großen Bruder: als Wahlkampfgeschenk und -waffe im Sinne des deutschen Interesses an einem französischen Auftragnehmer. Denn der wird gebraucht; gebraucht wird sogar etwas, was nach Erfolg seiner Politik aussieht, damit die Deutschen mit ihrem Bemühen weiterkommen, an dem immer offenkundiger der Erfolg ihrer EU-Politik hängt: die deutsche Richtlinienkompetenz im Club als gemeinsam gefundene Linie, als freiwilligen Konsens der Partner zu organisieren.
Dass der darin virulente Widerspruch, die Union der europäischen Souveräne für Deutschland zu funktionalisieren, ohne Deutschland für die Interessen der Partner funktionalisieren zu lassen, nicht aufzulösen ist, gehört nicht zum Erkenntnisstand der deutschen Europa-Imperialisten. Wie dieser Widerspruch sich mit einem ebenso machtvoll durchgreifenden wie pflegeleichten Macron in Paris eine weitere Runde lang haltbar machen lässt, ob mehr mit irgendwie honorierter Hilfe oder mehr auf Kosten Frankreichs – die ‚Richtungsentscheidung‘ bietet schönen Stoff für den innerdeutschen Wahlkampf zwischen der Europa-Kanzlerin samt ihrem Schatzkanzler als bad cop und dem europhilen Gespann Gabriel/Schulz. An dessen Ende im Herbst wird dann womöglich gar nicht bloß über diese Alternative, sondern darüber entschieden, ob Deutschland sich seinen widersprüchlich gestrickten Europa-Imperialismus weiterhin alternativlos leisten will. Das wäre das glanzvolle Finale des Superwahljahrs 2017.
11. Eine rechte Terrorzelle in der Bundeswehr, ein kurzer Schreck, eine lange beleidigte Armee und eine Reanimation des ‚Bürgers in Uniform‘
Deutschland ist mehr als eine Zivilgesellschaft mit erfolgreichen Kapitalisten und preiswerten Lohnarbeitern, hartleibigen Europa-Politikern und freiwilligen Flüchtlingshelfern. Deutschland besteht auch aus einem militärischen Gewaltapparat. Und der bringt sich ausgerechnet im Superwahljahr 2017 auf höchst unpassende Weise in Erinnerung. Staatssicherheitskollegen aus Österreich veranlassen die Aufdeckung einer rechten Terrorzelle um einen Leutnant Franco A., die schon Waffen und Munition aus Bundeswehrbeständen abgezweigt, eine Liste von Todeskandidaten – darunter immerhin Gauck und Maas – zusammengestellt und dem A. eine falsche Identität als syrischer Flüchtling hingebastelt hatte, um die geplanten Morde an ausländerfreundlichen Volksverrätern den Flüchtlingen in die Schuhe zu schieben, an die jene ihr deutsches Volk verraten hätten. Im anstehenden Bürgerkrieg um die Identität der Deutschen und gegen ihre Umvolkung durch die Regierung, so Franco A., wollte sein Haufen auf der richtigen Seite kämpfen.
ie zuständige Ministerin ist offenbar erschrocken; über den Fall als solchen und darüber, dass er so lange unentdeckt geblieben ist. In einem hellsichtigen Moment drängt sich ihr ein fataler Zusammenhang auf zwischen der Moral der Truppe, dem ritualisierten Mobbing gegen ‚Außenseiter‘ und brutalen ‚Initiationsriten‘ für Neulinge, einer verbreiteten rechtsradikalen Gesinnungsgenossenschaft, einem gewissen Eigenleben des großen Vereins und nunmehr also einer radikalen Gegnerschaft gegen die aktuelle offizielle Flüchtlingspolitik und dem Tatendrang von befugten Waffenträgern. Sie bucht die Sache nicht als völlig untypischen Einzelfall ab, sondern wirft ihren Mannen, ganz untypisch für einen IBuK, ein „Haltungsproblem“ und „Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen“ vor.
Doch ab da trennen sich die festgestellte Affäre und ihre öffentliche politische Würdigung gründlich.
Die Sache: eine terroristische, zudem auf Volksverhetzung zielende Initiative mitten in der Bundeswehr, geht über den allemal unvermeidlichen cultural gap zwischen ziviler Konkurrenzgesellschaft und der Welt des militärischen Drills, der Abrichtung zum Töten und Das-Leben-Riskieren auf Befehl, deutlich hinaus. Die Anerkennung des geldmaterialistischen Eigennutzes als Motor im marktwirtschaftlichen Konkurrenzgemetzel auf der einen Seite, das schlecht befriedigte Anerkennungsbedürfnis von Uniformträgern, die ihren Konkurrenzgeist in der Vorbereitung auf buchstäbliche Gemetzel ausleben müssen, auf der anderen Seite, das sind zwei Paar Stiefel; die passen auch unter dem Idealbild vom Demokraten in Uniform, vom studierten Sicherheitstechniker nicht wirklich nahtlos zusammen – auch nicht unter einer weiblichen Führung, die ihre Befehlsempfänger gerne als begeisterte Arbeitnehmer anspricht und am liebsten in Ausbildungseinsätze schickt. Doch das ist etwas anderes als die Mini-Verschwörung des Leutnants Franco A. und seiner Kameraden. Was die sich vorgenommen haben, fällt nicht mehr unter die gewöhnliche sittliche Entfremdung zwischen patriotischen Waffenträgern mit berufseigenem Geltungsdrang und der zivilen Welt des bürgerlich-proletarischen Konkurrenzkampfes. All das zusammengenommen, was der Ministerin in ihrer ersten Reaktion gleich eingefallen ist: das rechtsradikale Komplott, ein zwischen Indolenz und Sympathie angesiedelter Korpsgeist auch von Vorgesetzten mit den Initiatoren solcher Umtriebe, der längst bekannte, bisweilen schon als versuchte Unterwanderung etikettierte Drang militanter Rechtsradikaler zum ‚Bund‘, ein MAD, der in den paar Fällen von weitergemeldeter rechtsextremer Gesinnung, die er überhaupt notiert, kein Problem sieht: das zusammengenommen wirft glatt die Frage auf nach der Zuverlässigkeit des militärischen Gewaltapparats, nach seiner fraglosen Unterordnung unter die Direktiven der politischen Führung. Davon zeugt die Schrecksekunde der Ministerin. Offenbar gehört auch das zu Merkels Land.
Mit dem Erschrecken ist es allerdings schnell vorbei. Die öffentliche Einordnung geht los; und die geht gleich in die entgegengesetzte Richtung. Das beginnt schon damit, dass die Bundeswehr – mehr oder weniger stillschweigend insgesamt, explizit und laut in Gestalt ihrer zivilen Freunde und emeritierten Repräsentanten – tief beleidigt ist; nicht etwa beschämt durch die Affäre und den ‚Geist der Truppe‘, der den ‚Fall‘ gar nicht zur Affäre hat werden lassen, sondern in ihrer Ehre – und was hat ein Soldat denn sonst! – angegriffen durch die Misstrauenserklärung der Frau von der Leyen. Die reagiert sofort, überholt mit ihrer zweiten Reaktion nach Kräften ihre erste, spricht der Armee als ganzer ihr uneingeschränktes Lob für engagierte treue Dienste aus, entschuldigt sich für unbedachte und keinesfalls so gemeinte Verallgemeinerungen – und lenkt so den ganzen Skandal zurück in das ‚Spannungsfeld‘ zwischen der Zivilgesellschaft mit ihren pluralistischen Sitten und dem Militär mit seiner Sondermoral; ein Verhältnis, das doch insgesamt total entspannt ist und nur ausnahmsweise durch falsche Traditionspflege, sexuelle Übergriffe und übertriebene Macho-Manieren getrübt wird. Die Kritik, die sie erntet, drückt dasselbe aus: Der Bundeswehr tue sie Unrecht; die funktioniert doch bestens, fällt kaum auf; und soweit sie unangenehm auffällt, liegt die Schuld auch wieder bei der zuständigen Ministerin, weil die es seit Jahren versäumt, Missstände etwa bei der Wehrmachtsnostalgischen Benennung von Kasernen auszuräumen.
So landet das Komplott des Franco A. bei der Bundesanwaltschaft, immerhin unter dem Aktenzeichen ‚Schwere staatsgefährdende Gewalttat‘. Seine Bereitschaft zu Attentaten kommt zusammen mit seiner einstigen Magisterarbeit und neben ein paar Wehrmachtsutensilien, mit denen manche moderne Landser sich die Stube schmücken und die auf Befehl einstweilen weggeräumt gehören, in den Topf ‚Mängel der Inneren Führung‘. Und mit der mehrfach abgelieferten und trotzdem noch viel häufiger verlangten Ehrenerklärung der Ministerin für ihre Truppe restaurieren Politik und Öffentlichkeit das wahre Opfer der ganzen Aufregung: die Legende vom durch und durch zivilen Charakter des bundesdeutschen Militärs, die hierzulande den allemal vorhandenen Gegensatz zwischen der zivilen Leitkultur der lebenslänglichen Konkurrenz ums lebensnotwendige Geld und dem Ethos des allein der Nation verpflichteten Gewaltapparats dadurch bewältigt, dass sie ihn entschieden dementiert.
Freilich verraten nicht nur der löchrige Charakter dieses Dementis, sondern vor allem die Notwendigkeit, es dauernd zu bekräftigen, sowie die Aufrüstung des MAD mit klarem Überwachungsauftrag, das Innenleben der Armee betreffend, ein starkes Bedürfnis der zivilen Herrschaft, die durchgängige Botmäßigkeit der großen Organisation sicherzustellen, die ja nicht einfach der bewaffnete Arm des Parlaments, sondern schon auch irgendwie das kollektive Subjekt des Gewaltarsenals der Staatsmacht ist und gar nicht rätselhafterweise zu einer gewissen Verselbständigung neigt. Doch im Großen und Ganzen ist und bleibt die Legende der Bundeswehr intakt: Integration in den durch und durch zivilen Kapitalstandort Deutschland voll gelungen, die Konkurrenzgesellschaft deutscher Nation ihrerseits voll versöhnt mit ihrer eigenen verselbständigten Gewaltfähigkeit und -bereitschaft nach außen und im Notstandsfall auch nach innen. Kein Terrorismusalarm also wegen ein paar auffällig gewordenen rechten ‚Schläfern‘ und ‚Gefährdern‘ in der Bundeswehr. Und zur Prävention setzt es eine Extraportion Leitkultur für Merkels Soldaten.
12. Wahl in NRW & Metamorphose der ÖVP – der demokratische Trend geht zum Führer
An ein und demselben Sonntag im Mai fällt in Nordrhein-Westfalen eine weitere Wahlentscheidung, während in Österreich die kleinere Regierungspartei beschließt, die Koalition aufzukündigen, sich ganz neu aufzustellen und Neuwahlen im Herbst herbeizuführen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun – außer in der einen Hinsicht: Die beiden Events setzen zeitlose Wahrheiten über die demokratische Wahl, den Ur-Akt politischer Freiheit im bürgerlichen Staat, so ausdrücklich in aktuelle Praxis um, dass ein Gemeinschaftsbeitrag zur Verfestigung eines bemerkenswerten Trends in der politischen Kultur Europas daraus wird.
Die Wahl in NRW beantwortet die Frage nach der wirklichen Bedeutung und dem Nutzen eines demokratischen Wahlgangs nicht bloß banal mit Prozentsätzen der Stimmanteile der verschiedenen Parteien, sondern – wieder einmal – so grundsätzlich, wie sie leider nie gestellt wird. Vorher wie am Ergebnis interessiert tatsächlich nichts anderes als Bedeutung und Nutzen für die konkurrierenden Parteien; dabei, der beschränkten Kompetenz von Landesregierungen gemäß, vor allem in Hinblick auf ihre Konkurrenz um die eigentliche Macht über Deutschland, deren Entscheidung im Herbst ansteht; und das ist doch eine sehr klare Auskunft über den Beruf des aktiv wahlberechtigten Bürgers und über die Ironie der Stellenbeschreibung, die den Wahlkämpfern den Status der passiven Wahlberechtigung zuspricht. Demokratische Wahlen entscheiden wirklich nichts anderes als die Konkurrenz um die Macht, ausgetragen zwischen Figuren samt Parteiapparaten, die sich zur Herrschaft über Land und Leute berufen fühlen. Von Bedeutung sind sie für die paar Leute, die über ihre Mitbürger und über deren Lebensbedingungen das Sagen haben wollen; für den großen Rest eben insofern, als der auf alle Fälle, bei welchem Wahlausgang auch immer, regiert wird und sich mit seiner Loyalität, als Wähler noch zusätzlich mit seinem Votum, also mit seinem expliziten Einverständnis, von fremden Entscheidungen über die Ausgestaltung der herrschenden Verhältnisse abhängig gemacht hat. Das wird diesem Rest am Wahlabend auch ungeschminkt als die tatsächliche Leistung seines – im Fall NRW mit erfreulicher Teilnehmerquote abgelieferten – Wahlakts mitgeteilt: Bewirkt wurde ein Sieg für die eine Seite, der rein als solcher – als Tatsache eines Erfolgs – gute Aussichten für weitere Erfolge der regierenden Kanzlerinnen-Partei im Herbst begründet; stattgefunden hat ein ‚Tiefschlag‘ für die bislang in Düsseldorf amtierende Koalition, den vor allem Merkels Gegenkandidat als ‚Leberhaken‘ auf sich bezieht, weil die Niederlage als solche in der Demokratie als gewichtiger Einwand gegen den Verlierer zählt; nichts wurde über Macht und Herrschaft entschieden, als wer sie demnächst – vermutlich weiterhin – ausübt. In dem Zusammenhang für besonders interessant befunden und, mit Meinungsumfragen unterfüttert, lebhaft diskutiert wird zudem die Frage, mit welchen Themen die eine Seite sich erfolgreich als die passende Herrschaft in Szene gesetzt, die andere sich ins Abseits manövriert hat; und das bestätigt die Rollenverteilung zwischen Wählern und Gewählten gleich mehrfach. Die zur Sprache gebrachten Themen – ‚Sicherheit‘, ‚Bildung‘, ‚Migration‘, ‚Gerechtigkeit‘ – benennen Tätigkeitsbereiche der Herrschaft, und das so hochgradig abstrakt, dass gleich klar ist: Den Regierenden bleibt alle Freiheit zu definieren, was unter dem jeweiligen Sachtitel zu geschehen hat; das zur Wahl gebetene Volk kommt darin vor als Objekt hoheitlicher Betreuung, Kontrolle und Zurechtweisung inklusive – wird also, um im Hinblick auf den unverwüstlichen Idealismus der Demokratie das Wenigste zu sagen, als bestimmendes Subjekt seiner Lebensverhältnisse überhaupt nicht in Betracht gezogen. Richtig bemerkenswert ist an den Themen aber vor allem eben ihre Auswahl, und zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion für die Selbstdarstellung von Parteien und Kandidaten als optimale Machthaber, also als Sache der Ermessensentscheidungen der Konkurrenten, wie sie ihre Kompetenz zur Machtausübung am besten präsentieren. Genau unter dem Gesichtspunkt findet der freie Wählerwille Beachtung: als Bezugspunkt für das Bemühen, mehr Aufmerksamkeit als die Mitbewerber auf sich zu ziehen – also als Erfüllungsgehilfe des Machthungers der ‚passiv wahlberechtigten‘ Rivalen.
In Österreich unterzieht sich am gleichen Tag die Schwesterpartei der in NRW siegreichen CDU, die ÖVP, einer Blitz-Metamorphose vom politischen Zusammenschluss aller unter christlich-konservativen Vorzeichen organisierten ehrbaren Stände des Landes zum Wahlverein ‚Liste Sebastian Kurz – die Neue Volkspartei‘. Ihre ‚Landesfürsten‘ und anderen Honoratioren beugen sich der für sie bitteren Erkenntnis, dass ihre traditionelle Art, die Klassengesellschaft als übersichtlich gegliederte Volksgemeinschaft zu repräsentieren, mit ihrer Identität von Standesdünkel und Parteiloyalität am längst modernisierten Kapitalstandort Groß-Ö mit seiner nationalistisch aufgehetzten Bevölkerung keine brauchbare Anhängermasse mehr findet; sie geben ihrem aufstrebenden intriganten Nachwuchs Raum, dessen Hauptfigur, jüngster Außenminister der EU und Befürworter eines Kampfes gegen Fluchtursachen per Unterbindung jeder Seenotrettung im Mittelmeer zwecks Abschreckung von Flüchtlingen, für die nächste Klarstellung in Sachen demokratische Wahlen steht. Was den jungen Herrn Kurz zum demokratischen Hoffnungsträger macht, ist nämlich nur einerseits der politische Inhalt, den man von ihm kennt, seine Ausländerfeindschaft mit jugendlicher Ausstrahlung. Er repräsentiert vor allem die demokratiemethodische Wahrheit: Die Ermächtigung, die das Herrschaftspersonal sich per Wahl bei den Regierten abholt, hat nicht nur keinen anderen Inhalt, sondern soll, ja darf sogar, um auf Wähler Eindruck zu machen, mit keinen anderen Inhalten verknüpft werden außer eben damit, was die demokratische Wahl leistet – Ermächtigung zur Herrschaft. Und das schließt ein, darauf besteht der neue Sebastian gegen seine Altpartei, dass kein vorgegebenes Regierungsprogramm, kein Kompromiss rivalisierender ‚Kräfte‘, überhaupt keine Vorfestlegung über die Agenda der Herrschaft entscheidet, sondern der gewählte Führer. Der empfiehlt sich dem Volk als dessen personifizierter Wille und folglich vor allem dadurch, dass er souverän über allen etablierten politischen Kräfteverhältnissen und allen organisierten Partikularinteressen steht: Als nur auf sich selbst festgelegte höchste Instanz repräsentiert er nicht nur, sondern verkörpert er die souveräne Entscheidungsfreiheit des Volkes – wenn es ihn wählt, was es eben deswegen gefälligst tun soll. Wahre Führerschaft besteht darin, in völliger Unabhängigkeit festzulegen, worin die Größe der regierten Nation bestehen und sich verwirklichen soll, worum es folglich deren Insassen politisch zu gehen hat: Diese brutale Wahrheit, die die Demokratie nicht bloß mit anderen Herrschaftsformen teilt, sondern vom Volk in Wahlen als dessen Wunsch und Wille bestätigt haben will, wird in der ‚Liste Sebastian …‘ zum Organisationsprinzip der neuen Kraft, die sich auf die alte ÖVP als ihr hässliches Verpuppungsstadium bezieht.
So findet Österreich auf seine Art Anschluss an den Trend, den Emanuel Macron soeben mit seiner auf den tieferen Sinn seiner Initialen getauften Bewegung ‚En Marche‘ in Europa vorangebracht und – vorbehaltlich der noch ausstehenden Bestätigung bei den Parlamentswahlen – in Frankreich so wunderbar erfolgreich durchgesetzt hat. Dessen ‚weder rechts noch links‘ samt Absage des Elite-Mannes an die etablierte Elite steht ebenso wie die Parteireform des Möchtegern-Kollegen Kurz für den Standpunkt, eine wahrhaft zustimmungswürdige demokratische Herrschaft bräuchte ganz ausdrücklich und programmatisch genau das, was die Demokratie ihrem Begriff nach sowieso leistet: die förmliche Freisetzung der Machthaber von den politisierten Interessenslagen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, denen sachgerecht zu dienen und aus denen nationale Größe zu verfertigen ihr ganzer Beruf ist. Das Programm gibt sich gerne umstürzlerisch und ist alles andere, nämlich das wie eine politische Erlösungsformel vorgetragene Versprechen, alle Aufgaben, die ein moderner Kapitalstandort in der imperialistischen Welt von heute an seine politische Obrigkeit stellt, vom Standpunkt eines nahtlosen Kurzschlusses zwischen Führung und Volk und mit der Prätention wohltuender Rücksichtslosigkeit gegen den bislang geltenden Kanon herrschaftlicher Gepflogenheiten abzuarbeiten. Das ist – seit Trump … – ein Trend, auch in Europa und anderswo; den setzt der Nachwuchsmann des alten ÖVP-Establishments im Mai des europäischen Superwahljahrs fort.
Und der geht auch an Deutschlands volkreichstem Bundesland nicht spurlos vorbei. Der Wahlverlierer – nicht die im Handumdrehen völlig uninteressant gewordene Frau Kraft, sondern der nach wie vor ambitionierte Kanzlerkandidat Schulz – ist mit seiner Niederlage – nicht gegen den Provinz-Sieger in NRW, sondern im Fernduell gegen die ungerührt amtierende Kanzlerin – die negative Probe aufs Exempel. Nachgesagt wird ihm das Versäumnis, zu seiner Parole ‚Gerechtigkeit, soziale‘ keine ‚Inhalte geliefert‘ zu haben. Dieses Attest ist in der Hauptsache das durchs Ergebnis belehrte bessere Wissen im Nachhinein, dass der SPD nicht der für ihren Kandidaten passende Themen-Mix gelungen ist. Es ist aber auch gar kein Geheimnis, welchen ‚Inhalt‘ der Kandidat eigentlich schuldig geblieben ist: Von seiner anfänglich so begeistert aufgenommenen Entschlossenheit, „Kanzler der Bundesrepublik Deutschland“ zu werden, hat man zu lange „nichts gehört“ – während die wirkliche Kanzlerin an diversen wichtigen Schauplätzen des Weltgeschehens ihr Volk hat wissen lassen, dass sie an diversen wichtigen Schauplätzen des Weltgeschehens präsent und außerdem sehr wichtig ist. Da hätte sie schon sehr eindeutig eine sehr schlechte Figur machen müssen, um das schlagende Argument für die Fortsetzung ihrer Kanzlerschaft zu entkräften, das nach aller demokratischen Logik in der schieren Tatsache ihrer Führerschaft enthalten ist; so dass der SPD-Mann seinen Inhalt, nämlich sich als die souveränere Figur mit einer höheren als der wirklich exekutierten Führungskompetenz, hätte in Szene setzen können.
An dem Thema, das zusammen mit Schulz in NRW exemplarisch verloren hat, wird sogar noch ein bisschen mehr deutlich. ‚Soziale Gerechtigkeit‘, soweit erkennbar als Fürsorgepflicht des Staates für seine lohnabhängig ‚hart arbeitende‘ Erwerbsbevölkerung gemeint – und nicht als rechtsradikales Aufreger-Thema zur Hetze gegen die Aufnahme und Alimentation von Flüchtlingen –, ist in der BRD von heute, in Merkels ureigenem Land, ein Verliererthema; nicht in dem Sinn, dass die Verlierer der gnadenlosen kapitalistischen Konkurrenz made in Germany zu einem heißen Thema werden, sondern so: Eine aufs Regieren erpichte Partei stellt ihre Herrschaftskompetenz damit nicht unter Beweis. Insoweit passt der unaufhaltsame Bedeutungsverlust der deutschen Sozialdemokratie ganz gut zu dem europäischen Trend einer demokratischen Führerkultur, die von ‚rechts‘ und ‚links‘ nichts mehr wissen will. Ein Abschied von dem staatsbürgerlichen Haupt- und Generalbedürfnis nach einer starken, souveränen, die Einheit des Volkes repräsentierenden Führung samt -spersönlichkeit, das bei den als ‚rechts‘ etikettierten Parteien schon immer am besten aufgehoben war, ist das nämlich nicht. Was sich aus dem demokratischen Gegeneinander politischer Positionen immer weiter herauskürzt – oder schon längst herausgekürzt hat –, ist die Notwendigkeit, einer kritischen Masse von Lohnabhängigen, die sich auch als solche begreifen und irgendwie klassenspezifische Ansprüche stellen, eine Politisierung ihrer Interessen zu verpassen, die für ihre Integration ins kapitalistische Gemeinwesen sorgt – die Sozialdemokratie jedenfalls hält diese Aufgabe für erledigt und hat ihre Klientel nur allzu erfolgreich daran gewöhnt, sich nicht für eine Klasse, sondern für einen Haufen freischaffender Konkurrenzsubjekte mit keinem anderen als einem schwarz-rot-goldenen Zusammenhang untereinander zu halten. Was dann am Ende bleibt, ist – nicht nur – in NRW zu besichtigen: ein Haufen Verelendung; Konkurrenzgeist in der ohnmächtigen Sorge um einen Arbeitsplatz, an dem man mit billigen Diensten irgendeinen Lebensunterhalt hinkriegt; viel Unzufriedenheit, die immer weniger für ihre sozialdemokratischen Betreuer als Stimmenreservoir funktioniert, dafür mit dem ebenso dummen wie gemeinen ‚Schluss‘ auf zugewandertes Elend als Elendsursache betört wird; eine als alternativlose Führungsfigur bestätigte Kanzlerin. Und zu allem Überfluss eine wiedererweckte FDP, die auch den Rechten ein paar flüchtlingsfeindliche Parolen klaut, die sich aber vor allem im Sinne des EU-demokratischen Trends über ihren Vorsitzenden definiert, der sich die Definition einer politischen Linie als Mittel seiner Regierungsbeteiligung und zugleich als Ausweis seiner Souveränität, also seiner Führungskompetenz vorbehält.
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So kann’s weitergehen mit dem europäischen Superwahljahr – zur Zufriedenheit aller konkurrierenden Nationalisten, die im Reich der Freiheit – wieder – an die Macht wollen.
Siehe auch „Merkels Land“ Teil I. bis V.