p>Prof. Dr. Georg Marckmann, Medizinethiker, Universität Tübingen
Wie man Kranke auf ethisch korrekte Weise medizinisch mangelhaft behandelt.
An medizinischen Fakultäten wird heutzutage nicht nur danach geforscht, wie Krankheiten zu heilen sind, es wird auch darüber nachgedacht, wie man Patienten medizinische Maßnahmen fachgerecht vorenthält. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ins Leben gerufenen und finanzierten interdisziplinären Projekts „Allokation kostspieliger biomedizinischer Innovationen“ ist Professor Dr. Marckmann vom Tübinger Institut für Ethik und Geschichte der Medizin für den ethischen Aspekt im Rahmen der „Untersuchungen zur expliziten und impliziten Rationierung“ in der Medizin zuständig. Da hat er gut zu tun. „Rationierung“ bedeutet nämlich, dass nicht alle Patienten alle medizinisch sinnvollen Behandlungsmaßnahmen erhalten, weil das „kostspielig“ ist. Das widerspricht nicht nur dem allgemeinen Verständnis vom medizinischen Ethos, es widerspricht auch dem, was die Gesundheitspolitik vom deutschen Gesundheitswesen behauptet: Die zahlreichen Maßnahmen, die bisher aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen ausgegrenzt sind, gelten allesamt als welche, die nicht notwendig sind, weil sie dem Patienten im Vergleich zu billigeren Alternativen keinen „Zusatznutzen“ bieten. Ansonsten gilt, dass „nach wie vor allen Versicherten medizinisch notwendige Maßnahmen ohne Einschränkung zur Verfügung stehen müssen“.
IQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: Allgemeine Methoden zur Bewertungen von Verhältnissen zwischen Kosten und Nutzen, Version 1.0 vom 12.10.2009 www.iqwig.de
Dies passt allerdings nicht so ganz dazu, die Kosten für das medizinisch Notwendige zu „deckeln“, d. h., in ihrer Höhe festzuschreiben. Kein Wunder also, dass der Forschungsverbund aus Medizinethikern, Gesundheitsökonomen und Sozialrechtlern als erstes Ergebnis seiner Tätigkeit zutage fördert, dass angesichts des finanziellen Drucks, dem Ärzte durch Budgetierung und Fallpauschalen ausgesetzt sind, eine „Rationierung“ medizinisch nützlicher Maßnahmen längst stattfindet. „77 Prozent der befragten Ärzte sagten, dass sie manchen Patienten nützliche Leistungen aus Kostengründen vorenthalten“, berichtet Marckmann im Tübinger Schwäbischen Tagblatt und meldet ethische Bedenken an. Das Verwerfliche daran ist für ihn allerdings nicht, dass medizinisch sinnvolle Maßnahmen aus Kostengründen unterbleiben, sondern, dass das „implizit“ geschieht, d. h. von Fall zu Fall der subjektiven Entscheidung der behandelnden Ärzte überlassen bleibt. Das widerstrebt einem Ethiker, geht es seiner Disziplin doch darum, „richtiges“ Handeln damit zu begründen, dass es sich an allgemeinverbindliche Normen hält. Marckmann und Kollegen plädieren also dafür, den Anspruch, medizinisch Notwendiges nicht einzuschränken, fahren zu lassen und „explizit“ zu rationieren, soll heißen, verbindliche „Leitlinien“ für den Ausschluss von medizinisch zweckmäßiger Behandlung festzulegen. Das sei, so meinen die am Projekt ebenfalls mitwirkenden Juristen, nach derzeitiger Gesetzeslage zwar rechtlich noch bedenklich und erfordere möglicherweise gesetzgeberische Anpassungen, ethisch aber, so die beteiligten Medizinethiker unter Führung von Prof. Marckmann, ist alles wieder in Ordnung, wenn die medizinisch mangelhaften Behandlungen für alle gelten. Und so geht die Beweisführung:
„Es reicht nicht für alle(s)!“
Aufgrund des medizinischen Fortschritts können immer mehr Krankheiten behandelt werden, und u. a. deshalb leben immer mehr Leute immer länger. Wer das für eine Erfolgsmeldung hält, liegt daneben. Für die hiesige Gesundheitsversorgung, so führt Marckmann aus, handelt es sich dabei vielmehr um ein „Problem“. Zu dessen Bewältigung will er beitragen. Das Problem ist allerdings nicht medizinischer und zunächst auch nicht ethischer, sondern finanzieller Natur. In einer Gesellschaft, in der alles mit Geld bezahlt werden muss, weil an allem verdient werden soll, kosten auch medizinische Maßnahmen Geld. Für die Wenigen, die es genug davon haben, ist das kein Problem. Die vielen Normal- und Geringverdiener aber könnten sich eine sachgerechte medizinische Versorgung aus eigener Tasche spätestens dann nicht leisten, wenn sie sie in größerem Umfang brauchen, weil sie schwer oder chronisch krank oder alt geworden sind. Für sie gibt es deshalb hierzulande eine gesetzliche Krankenversicherung, in die sie alle einen Teil ihres Lohnes oder Gehalts einzahlen müssen und die von diesen Beiträgen die Behandlung Kranker bezahlt. Um die finanzielle Situation der Krankenkassen macht Marckmann sich Sorgen, wenn er sich um den Bestand der Gesundheitsversorgung sorgt. Bei den vielen alten Menschen ist das Verhältnis ihrer Einzahlung in die Krankenkasse zu den für sie zu tätigenden Ausgaben nämlich ganz schlecht – viel mehr raus als rein! Das „bedroht“ den Bestand des Gesundheitssystems, zu dessen finanzieller Rettung der Forschungsverbund angetreten ist Die zu bearbeitende Problematik formuliert Marckmann in biologisch verfremdeter Form:
„Vielleicht die größte Herausforderung für den längerfristigen Bestand des Gesundheitssystems ist der demographische Wandel. …
Bis zum Jahr 2050 wird sich dieses Verhältnis dramatisch verändern; die Anzahl der Rentner und Renterinnen steigt an, sodass auf hundert Menschen im erwerbsfähigen Alter 60 Personen kommen, die Rente beziehen, und knapp 30 Personen, die unter 20 sind. Das heißt, wir haben auf 100 Menschen, die erwerbstätig sind, 89 Menschen, die von ihnen versorgt werden. Das ist fast, als ob jeder Rentner seinen Erwerbstätigen hätte, der die Vorsorgeleistungen – Gesundheitsversorgung, Rente usw. – erwirtschaften muss. Sie können sich leicht vorstellen, dass das praktisch unmöglich ist.“
(Prof. Dr. Georg Marckmann im Studium generale: Nachhaltige Gesundheitsversorgung und demographischer Wandel, 01.12.2009)
Im Grunde, so wird vorstellig gemacht, kann das Gesundheitssystem die Versorgung aller nicht (mehr) leisten wegen eines falschen Mengenverhältnisses von Alt zu Jung: Jeder Junge muss einen Alten mitversorgen? Das geht doch nie und nimmer!
„Leicht vorstellen“ kann man sich das allerdings nur, wenn man sich gar nichts anderes vorstellen will als eine Ökonomie, in der einer, der (lohn)arbeitet, mit seinem Lohn für die notwendig eintretenden „Wechselfälle“ eines Arbeitnehmerlebens (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter) nicht vorsorgen kann, und in der dennoch nichts weiter als dieser Lohn die Mittel für die „Versorgungsleistungen“ dieser Gesellschaft zu erbringen hat. Dann allerdings fällt einem nicht auf bzw. ein, was bei der heutigen Arbeitsproduktivität die Arbeit von 100 Menschen an Gütern zustande bringt. Sonst könnte man sich nämlich ganz leicht vorstellen, dass die für 500 oder noch mehr Menschen die sachlichen Mittel für ein flottes Leben „erwirtschaften“ könnten und nicht nur für 89.
Einleuchten kann einem die Problematik eben nur, wenn man es für selbstverständlich hält, dass Arbeit gegen Lohn und nur dann stattfindet, wenn sie dem, der den Lohn zahlt, einen Zuwachs an Geldreichtum einbringt. Dieser „Sachzwang“ ist allerdings kein
demographischer. Die schönste Erwerbsfähigkeit hilft schließlich nichts, wenn die Gewinnkalkulation der arbeitgebenden Kapitaleigner negativ ausfällt. Dann sitzen die Menschen, egal welchen Alters, ohne Erwerb auf der Straße. Die Löhne und Gehälter derer, die erwerbstätig sind, sind in dieser Gewinnkalkulation Kosten, die den Gewinn schmälern und deshalb zu minimieren sind. Für die sog. Lohnnebenkosten, die in die Sozialkassen fließen, gilt selbstredend das Gleiche. Nun hat die Politik aber festgelegt, dass daraus und aus Abzügen vom Nettolohn ebenso wie von jeder noch so popeligen Rente die Krankenkassen zu finanzieren sind. Und sie hat ebenso festgelegt, dass diese Kassen für die Krankheitskosten aller Lohnabhängigen, egal, ob gerade erwerbstätig oder eben nicht mehr, und die ihrer Familien aufzukommen haben. Kein Wunder, dass sich da ein Missverhältnis einstellt zwischen den Einnahmen dieser Kassen und den Ausgaben, die sie zu tätigen haben.
Bemerkenswert ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Ethiker all das unter dem Titel „knappe Ressourcen“ zur Grundlage seiner Überlegungen macht. Wenn er von dem redet, was die Erwerbstätigen „erwirtschaften“, dann meint er ganz selbstverständlich nur das Einkommen der versicherungspflichtigen Erwerbstätigen, das tatsächlich immer „knapp“ ist. Der Reichtum, den sie produzieren, gehört ja denen, die sie gewinnbringend benutzen. Er ist deren Kapital, das weiter anzuwachsen hat, und steht deshalb für die Versorgung Alter und Kranker nicht zur Verfügung.
Dafür, dass das auch so sein und bleiben muss, gibt es, so wird Marckmann nicht müde zu betonen, „gute Gründe“, die, weil sie so „gut“ sind, ohne weitere Ausführung als unzweifelhaft gültig durchgewinkt werden können. Für ihn als Vorstand eines eigens für die ethische Verarbeitung derart heikler Fragen gegründeten Uni-Instituts ist der Umstand, dass mit den marktwirtschaftlich gegebenen Mitteln nicht alle Patienten geheilt werden können, eine fachliche Herausforderung. Als deren Ausgangspunkt hält er fest, „immer mehr Geld ins Gesundheitssystem zu stecken, sei keine akzeptable Lösung“. (27.05.2009 tagblatt.de). Was in einer Marktwirtschaft der Fall ist, setzt er als Sachzwang voraus: Geld ist zum Vermehren da. Geld, das für den Lebensunterhalts einschließlich der medizinischen Versorgung von Lohn- und Gehaltsempfängern aufgewendet wird, ist davon ein Abzug und deshalb knapp zu halten.
Nachdem so als unumstößlich vorausgesetzt wurde, dass Patienten aus „Kostengründen“ nicht auf die eigentlich erforderliche Art und Weise behandelt werden können, setzt die ethische Überlegung ein. Die Frage, der sich Marckmann widmet, lautet: Wie enthält man ihnen medizinisch Notwendiges „auf ethisch vertretbare Weise“ vor?
Den Nutzen berechnen
Ethisch nicht „vertretbar“ ist es in jedem Fall, den Ärzten einen beschränkten Kostenrahmen vorzugeben und sie dann mit der sich daraus ergebenden Rationierungsentscheidung „allein zu lassen“. Das, so Marckmann und Kollegen, überfordert sie nämlich, führt zu „Ungerechtigkeiten“ und ebenso zu Sparmaßnahmen, die sich „nicht nur am Patientenwohl orientieren“. (27.05.2009 tagblatt.de) V
erbindliche Vorgabenmüssen her, die alle Kranken gleichermaßen treffen und beim Vorenthalten nützlicher Leistungen ausschließlich ihren Nutzen im Auge haben.
Um diese Quadratur des Kreises hat sich der Forschungsverbund „Allokation“ wissenschaftlich verdient gemacht. Er hat nämlich das „Modell“ der „kostensensiblen Leitlinien“ (KSLL) entwickelt.
„‚Der Charme dieses Modells ist, dass man dort spart, wo es den Patienten am wenigsten schadet‘, beschreibt er (Marckmann) die Absicht der kostensensiblen Leitlinien. Voraussetzung sei, dass sie nach streng wissenschaftlichen Kriterien erarbeitet werden.“ (30.11.2009 tagblatt.de)
Kriterien der medizinischen Wissenschaft sind da nicht gemeint. Denn dass die jeweils vorzuenthaltende Leistung medizinisch „nützlich“ ist – „Eine Leistung ist dann nützlich, wenn sie
das Leben des Patienten verlängern oder seine Lebensqualität verbessern kann“ (Marckmann, Stuttgarter Zeitung 27. Januar 2010) – ist ja Ausgangspunkt der Überlegung.
Beispiel: „Kostensensible Leitlinie zum Einsatz von Medikamente freisetzenden Koronarstents“
Koronarstents sind Drahtgitterröhrchen, mit denen verengte Blutgefäße des Herzens offen gehalten werden. „Nun hat man Medikamente freisetzende Stents entwickelt, welche die Wahrscheinlichkeit verringern, dass sich die Gefäße langfristig wieder verschließen.“ (Marckmann, StZ 27. Januar 2010).
Der medizinische Nutzen dieser Entwicklung bzw. umgekehrt der medizinische Schaden, der durch sie vermieden werden kann, ist also inhaltlich bekannt. Dass aufgrund dieser Wirksamkeit weniger Patienten einen Rückfall erleiden, steht fest Die Forschungsgruppe ist damit aber nicht fertig, sie fängt jetzt erst an. Nutzen oder vermiedener Schaden sollen quantitativ bestimmt werden. Gefragt wird also nicht, worin der Nutzen für den Kranken besteht, sondern, wie groß er ist. Sachlich ist das Unsinn, weil Gesundheit bzw. Krankheit biologisch-medizinische Zustände sind und keine Mengen. Es gibt deshalb logischerweise dafür auch keine Maßeinheit. Wenn man medizinische Maßnahmen aber gegen die dafür aufzuwendenden Kosten aufrechnen will, muss man ihren Effekt kardinal „messen“. Man braucht deshalb eine Maßeinheit für Gesundheit.
Was es nicht gibt, muss man sich ausdenken. Der Forschungsverbund „Allokation“ kann da dankenswerterweise auf Vorleistungen der Medizinökonomie zurückgreifen. Um gesundheitsbezogene Ergebnisse medizinischer Maßnahmen messen zu können, hat sie das „qualitätsadjustierte Lebensjahr“ (englisch: quality adjusted life year oder QALY) erschaffen. Das soll unterschiedliche medizinische Maßnahmen vergleichbar machen, indem ihr Effekt auf die Lebenszeit, gemessen in Jahren, mit einem Faktor für gesundheitsbezogene Lebensqualität multipliziert wird. Nun kann man zwar Jahre zählen, auch wenn das bei künftigen so eine Sache ist, durch Gesundheit entstehende Lebensqualität aber kann man nicht messen und daher auch nicht skalieren. Deshalb wird der ihr zugeschriebene numerische Betrag statistisch „ermittelt“. Menschengruppen werden entweder gefragt, ob sie lieber länger krank oder früher tot wären und wenn ja, wie viel, oder sie sollen entscheiden, bei welcher Wahrscheinlichkeit des sofortigen Ablebens oder völliger Heilung sie der jeweiligen Behandlung zustimmen würden. Dass beide Verfahren zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und sich die jeweiligen Protagonisten trefflich darüber streiten, welche „Messmethode“ der Lebensqualität eher entspricht, ist kein Wunder, sondern liegt in der Natur der Sache. Aber egal wie, wo ein Wille ist, ist auch ein Resultat. Beide Methoden gelangen zu Zahlen zwischen 0 und 1, die nun die „Nutzwert-Faktoren“ für die Resultate medizinischer Therapien darstellen. Die werden mit der ebenfalls statistisch ermittelten Lebenszeit, die im durch die Therapie erreichten Gesundheitszustand verbracht wird, „verrechnet“, dem Ganzen die Maßbezeichnung QALY verpasst und schon kennt man den Nutzwert eines Behandlungsverfahrens. Der ist nun „wissenschaftlich“ erarbeitet und gilt „objektiv“ und deshalb verbindlich für alle Patienten, die dieser Behandlung unterzogen werden. Der Einzelne braucht also gar nicht mehr befragt zu werden, wie er das mit der Lebensqualität und der möglichen Lebensdauer sieht; was ihm die Behandlung nützt, steht in einer Tabelle und damit fest.
Für die angestrebte Kosten-Nutzwert-Analyse braucht man jetzt bloß noch die Anzahl der Patienten, bei denen ein medizinisches Therapieverfahren angewandt wird, mit den diesem Verfahren zugeteilten QALYs zu multiplizieren, und schon hat man mit dem „social health gain“ eine Zahl, die sich mit den der „Gesellschaft“ = den Krankenkassen und dem Staat dafür entstehenden Kosten vergleichen lässt. Der erste Schritt zur kostensensiblen Leitlinie, – „Patienten-Subgruppen zu identifizieren, die einen unterschiedlich großen Nutzen von den jeweiligen medizinischen Maßnahmen haben“(KSLL: Zur Einführung, Homepage Institut für Ethik und Geschichte der Medizin) – ist fertig.
Zurück zu den Koronarstents: Wenn die Medikamente abgeben, sind sie wirksamer. Kosten-Nutzen-Analytiker wollen aber wissen, wie sehr, und finden auf bewährt statistischem Weg Folgendes heraus. Bei Patienten mit ausgeprägter Gefäßverengung ist der Unterschied im Behandlungserfolg von Stents, die Medikamente abgeben, im Vergleich zu den normalen „größer“. Mit „größer“ meinen sie, dass sich beim Einsatz der normalen Stents bei 24 von 100 Patienten das Gefäß wieder schließt, während dies beim Einsatz medikamentierter Stents nur bei 8 von 100 Patienten der Fall ist: Differenz 16. Bei Patienten mit weniger ausgeprägten Engstellen ist diese Differenz geringer. Das heißt aber nicht, dass es für diese Patienten keinen Qualitätsunterschied gibt, es sind nur weniger Patienten davon betroffen: Wiederverschluss ohne Medikamente bei 15 Patienten, mit Medikamenten bei 6: Differenz 9. Also, so der brillante Schluss, sind die besseren Stents für diese Patienten „weniger nützlich“. An den einzelnen Patienten ist da nie und nimmer gedacht, schließlich erleiden 9 von den Patienten mit weniger ausgeprägter Gefäßengstelle einen Rückfall, den sie bei anderer Behandlung vermutlich nicht erlitten hätten. Über diese Patienten zu sagen, dass sie einen geringeren Schaden hätten als die Rückfallpatienten der anderen Gruppe, ist sachlich barer Unsinn. Auf den Schaden der Einzelnen kommt es aber auch gar nicht an, sonst käme ja keine KSLL raus. Für die braucht man den „Gesamtnutzen“ einer Behandlungsform. Den erhält man mühelos, indem man die Anzahl der von ihr profitierenden Patienten mit den der Tabelle zu entnehmenden QALYs für diese Behandlung multipliziert: Er besteht nämlich per definitionem in der Anzahl der zusätzlichen QALYs, die diese Behandlung produziert.
Jetzt gelingt mit Hilfe eines schlichten Taschenrechners schnell und einfach der zweite Schritt zur kostensensiblen Leitlinie: Die Kosten, die zu „begrenzen“ ja der Ausgangspunkt der ganzen Rechnerei war, können ins Spiel gebracht werden. Die größere Wirksamkeit der medikamentierten Stents ist nämlich mit einem unmedizinischen, aber im hiesigen Gesundheitssystem dennoch entscheidenden Haken verknüpft: Sie sind „deutlich teurer“ (Marckmann, StZ 27. Januar 2010) als die blanken Drahtgitter. Sind sie das wert? Die Antwort: „Selbstverständlich, schließlich gibt es mit ihnen weniger Rückfälle“, gilt nicht. Es muss erneut gerechnet werden. Die Division der Gesamtkosten, die durch das Einsetzen dieser Stents entstehen, durch den „Gesundheitsgewinn“, der dank der bisher geleisteten „Berechnungen“ mit den „zusätzlichen QALYs“ in Zahlenform vorliegt, ergibt das angestrebte Resultat: die „Kosteneffektivität“ mit der Maßeinheit €/QALY.
Im dritten Schritt muss nun der Staat ran. Die Gesundheitspolitik kann und soll, kostensensibel wie sie ist, „Leitlinien“ festlegen, die anhand der „nach streng wissenschaftlichen Kriterien erarbeiteten“ Kosteneffektivität verbindlich vorschreiben, welche Behandlung für welche Indikationsgruppen von der gesetzlichen Krankenversicherung zu bezahlen sind und – sehr viel wichtiger – welche nicht.
Ein letztes Mal Koronarstents: Im britischen Gesundheitssystem, so Marckmann im Studium generale und der Forschungsverbund in seiner Präsentation aktueller Ergebnisse, gibt es schon, was hier noch zu etablieren ist: Anhand von ₤/QALY wurde da bestimmt, dass die teureren Stents nur eingesetzt werden bei starker Gefäßverengung (Millimeterangaben liegen vor, man arbeitet schließlich transparent und wissenschaftlich) und auch dann nur, wenn die Preisdifferenz zu den schlechteren einen bestimmten Grenzwert nicht überschreitet. Ansonsten kriegen die Herzkranken das schlichte Modell oder zahlen die Preisdifferenz eben selber.
Sofern sie das Geld haben oder irgendwie auftreiben können, tun sie das in aller Regel auch, weil sie keine erneute Stenose mit nachfolgender Herzoperation wollen. „Wenn dieser Stent so viel kostet, dann lass ich mich lieber noch mal operieren“, sagt von denen kaum einer. Wer aber kein Geld hat, wird wohlweislich nicht gefragt. Wie viel Schaden ihm zuzumuten ist, entscheidet die Instanz, die die ganze Berechnung nur anstellen lässt, um finanziellen Schaden von sich abzuwenden.
„Schaden, wo es am wenigsten weh tut“ – fragt sich bloß: Wem?
Ist das denn nun ethisch vertretbar? Die Medizinethik in Gestalt von Prof. Marckmann kann das nun nur noch bejahen. Sofern auf Basis einer Kosteneffizienzberechnung entschieden wird, ist jeder Ausschluss grundsätzlich „vertretbar“, weil ihm dann die „folgende ethische Überlegung zugrunde“ liegt:
„Wenn Leistungsbegrenzungen unausweichlich sind – und davon müssen wir zumindest im Bereich der GKV ausgehen –, sollten diese so durchgeführt werden, dass den Patienten ein möglichst geringer (Zusatz‑)Nutzen vorenthalten wird. Man sollte folglich auf diejenigen Maßnahmen verzichten, die dem Patienten bei relativ hohen Kosten einen nur geringen Zusatznutzen bieten.“(KSLL: Zur Einführung, Homepage Institut für Ethik und Geschichte der Medizin)
Der Übergang von den Patienten zu dem Patienten ist keine Ungenauigkeit, sondern der Trick, mit dem der Medizinethiker Leistungseinschränkungen mit ethischen Weihen versieht. Getan wird so, als würde jedem einzelnen Patienten nur etwas vorenthalten, was ihm medizinisch sowieso kaum etwas bringt. De facto wird aber für und über ihn entschieden. Welche „Qualität“ sein Leben mit seiner gesundheitlichen Einschränkung hat und welche Lebenserwartung man ihm zuspricht, wird abgelesen aus Tabellen, in denen beides ganz unabhängig von seinem Willen miteinander verrechnet und für ihn als Nutzen definiert ist. Und mehr noch: Beim Vergleich dieser Nutzenwerte spielt es gar keine Rolle, ob eine Maßnahme vielen Patienten einen kleinen „Zusatznutzen“ verschafft oder nur wenigen einen ganz großen. Der social health gain ist der gleiche, auch wenn der Schaden für die wenigen, denen eine Maßnahme wegen „geringen Zusatznutzens“ vorenthalten wird, ganz erheblich ist.
Über den Geldwert dieses „Gesundheitsgewinns“ soll nun die Politik entscheiden, und sie kann, ethisch betrachtet, dabei gar nichts falsch machen. Ob ihr ein „qualitätsadjustiertes Lebensjahr“ nun 33.000 € oder 227.000 € wert ist, (Zahlen entnommen der Tabelle „Kosteneffektivitätsverhältnisse in zusätzlichen Euro pro gewonnenem qualitätsadjustiertem Lebensjahr (QALY)“ in: Kostensensible Leitlinie zum Einsatz von Medikamente freisetzenden Koronarstents.) und wie viele Patienten deshalb „medizinisch nützliche Leistungen“ nicht bezahlt kriegen, kann sie ganz nach ihren politischen Gutdünken festlegen. Vom ethischen Standpunkt, so Marckmann, ist das völlig unerheblich. Da zählt nur, dass sie ihre Kostensensibilität in der vom Forschungsverbund vorgeschlagenen Weise in „Leitlinien“ umsetzt und damit persönliche Willkür beim Vorenthalten medizinischer Leistungen durch allgemein verbindliche Normen ersetzt. Wenn sie das tut, dann mag man es vielleicht bedauerlich finden, dass den Kranken so viel Nützliches vorenthalten wird, ethisch betrachtet liegt da aber nur ein Fall von notwendiger Unterordnung des Eigennutzes unter allgemeines Wohl vor. Dafür bedarf es zwar des Fehlers, ökonomisch produzierte Schranken als unveränderliche Handlungsrahmen vorauszusetzen, dann aber geht die Sache ethisch in Ordnung.
Als Beleg dafür, dass man den Leuten gar nicht so viel Schaden zufügt, wenn man ihnen medizinisch nützliche Leistungen nicht zukommen lässt, dass man damit sogar ihrem Interesse entspricht, präsentiert Marckmann ein Beispiel, das ganz ohne QALY-Rechnerei auskommt: den „prämortalen Kostenpeak“. Kurz vor ihrem Tod werden viele Krankenhauspatienten eine Weile künstlich ernährt, beatmet oder sonst wie intensivmedizinisch behandelt. Das kostet einen Haufen Geld und entspricht oft gar nicht dem, was Patienten oder ihre Angehörigen wünschen. Würde man unmittelbar vor Lebensende den Patientenwillen berücksichtigen, würde so manche intensivmedizinische Behandlung entfallen können und der Kostenpeak reduziert.
So ähnlich soll man sich das Resultat einer kostensensiblen Leitlinie auch vorstellen. Das ist aber überhaupt nicht dasselbe. Den Sterbenden, die unter den Techniken lebensverlängernder Maßnahmen leiden und sich einen schnellen Tod wünschen, wird tatsächlich gar kein Nutzen vorenthalten, wenn man diese Maßnahmen reduziert. Um das zu ermitteln, brauchte man sie bloß zu fragen. Die „wissenschaftliche“ Ermittlung des „Nutzens“ eines Dahinvegetierens als Anhängsel der „Gerätemedizin“ könnte man sich da glatt sparen.
Da, wo eine KSLL-Kommission Nutzenberechnungen anstellt, geht es aber darum, tatsächlich nützliche Behandlungsverfahren, deren Durchführung sich der Patient durchaus wünschen würde, würde man ihn denn informieren und befragen, aus Kostengründen zu unterlassen. Das zu rechtfertigen, ist die Aufgabe, deren sich die Medizinethik derzeit annimmt.